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Andere Schreibweise: Niddah

(erstellt: Januar 2009)

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Nidda (נִדָּה niddāh) bezeichnet die menstruierende bzw. gebärende Frau (→ Menstruation; → Geburt; → Frau) sowie einen → Mischna-, → Tosefta- und → Talmudtraktat. Nach biblischen und rabbinischen Verständnis befindet sich eine menstruierende (Lev 9,19-24; Lev 15,19-33) oder gebärende Frau (Lev 12,1-8) im Zustand ritueller Unreinheit (→ Reinheit / Unreinheit / Reinigung). Der Status der Nidda ist in der jüdischen Orthodoxie auch heute von Belang.

1. Begriff

Nidda wird von hebräisch נדד ndd oder נדה ndh abgeleitet, wobei beiden Wurzeln die Grundbedeutung „vertreiben“ oder „zurückweisen“ vereint. Im Kontext der menstruierenden Frau ist die Grundbedeutung dagegen „Absonderung / Ausscheidung“ (Greenberg).

2. Nidda in der Hebräischen Bibel

„Nidda“ hat in der hebräischen Bibel mehrere Bedeutungen: 1) Unreinheit aufgrund von Menstruation und im Wochenbett, 2) Unreinheit im Allgemeinen (vgl. 2Chr 29,5; Lev 20,21) und 3) im Kontext der Reinigung Reinigungswasser (מֵי נִדָּה mê niddāh; Num 19,9-21; Num 31,23; vgl. → Para aduma). Meist wird auf die erste Bedeutungsebene rekurriert: Das → Blut der Menstruation verunreinigt nach dem ersten Auftreten die Frau sieben Tage, wobei diese Bettlager und Sitzfläche verunreinigt (Lev 15,19ff.). Sexualität ist in dieser Zeit nicht erlaubt, eine Berührung führt zum Zustand der Unreinheit bis zum Abend. Blutungen, welche außerhalb der Menstruationszeit oder länger als sieben Tage andauern, verunreinigen in gleicher Weise. Nach Beendigung der Blutung ist eine Dauer von sieben Tagen zu überbrücken, bevor die Frau wieder den Zustand der Reinheit erreicht. Am achten Tag ist ein Vogelopfer darzubringen (Lev 15,29).

Nach der Geburt eines Jungen ist die Frau nach einer Epoche von sieben Tagen weitere 33 Tage unrein, nach der Geburt eines Mädchens sogar 66 Tage. Eine Begründung wird dafür nicht gegeben. Diese Periode wird durch ein einjähriges Schaf als Aufstiegsopfer und eine Taube oder Turteltaube als Sündopfer (Reinigungsopfer) für den Priester beschlossen (alternativ für das Schaf auch zwei Turteltauben bzw. andere Tauben, Lev 12,6-8).

Die hier beschriebene Unreinheit hat mit den Vorstellungen von körperlicher (Un-)Reinlichkeit oder Hygiene nichts zu tun. Mit dem Gebot, nicht Heiliges zu berühren, wird deutlich auf den kultischen Kontext der Nidda-Beschränkungen und damit auf die eingeschränkte Fähigkeit zur Teilnahme am Kult abgehoben, d.h. auf die Möglichkeit, das Heiligtum (den Umhof) zu betreten oder von den Opfern zu genießen. Dies ist bereits daran zu erkennen, dass der Text den Zustand der sieben- bzw. vierzehntägigen Unreinheit nicht automatisch durch den Blutfluss (Wochenfluss nach Entbindung) ausgelöst sein lässt (schon → Raschi zu Lev 12,2 verweist darauf, dass das Eintreten in den Zustand ihrer Unreinheit durch den Geburtsvorgang initiiert wird, selbst, wenn dieser ohne Blut[-verlust] vonstatten gegangen wäre).

Dass es nicht einfach das Blut ist, das unrein werden lässt, zeigt sich aber vor allem daran, dass nachfolgend ein 33- bzw. 66-tägiger Zeitraum als Zeitraum des „Blutes der Reinheit“ bezeichnet wird. Dieser Sachverhalt ist nicht ganz einfach zu verstehen, denn ungeachtet des in dieser Zeit möglicherweise sichtbaren Blutes gilt die Frau in dieser Zeit als rituell rein (Raschi, zur Stelle; R. Avraham Ibn Ezra unterscheidet hier zwischen „reinem“ Blut und Menstruationsblut). Die Wiederaufnahme der Geschlechtsbeziehungen während dieser Zeit ist also ebenso erlaubt (vgl. auch Babylonischer Talmud, Traktat Chullin 31a) wie der reguläre Umgang mit der familiären oder weiteren sozialen Gruppe. Die 7+33- bzw. 14+66-tägige Absonderung der Frau gehört damit ausschließlich in den kultischen Kontext.

3. Nidda in der rabbinischen Literatur

Die Fragen der Reinheit der menstruierenden Frau waren auch nach der Zerstörung des zweiten Tempels 70 n. Chr. im Gegensatz zu vielen anderen Opfer- und Reinheitsbestimmungen relevant. Dies schlägt sich in der rabbinischen Literatur nieder: Der Mischnatraktat Nidda (10 Kapitel; → Mischna) wurde als einziger Traktat der Ordnung Toharot („Reinheitsbestimmungen“) in den Talmudim (Sg. → Talmud) kommentiert. Im Traktat Nidda stehen Reinheitsanordnungen und sexuelle Bestimmungen im Vordergrund – deshalb die Zuordnung in die Ordnung Toharot und nicht – wie zu erwarten – in die Ordnung Naschim („Frauen“). Der Traktat umfasst darüber hinaus Bestimmungen über den Samenfluss und verwandte Themen. Sein thematischer Aufbau gliedert sich wie folgt: Menstruation (Mischna, Traktat Nidda Kap. 1, 2, zum Teil Kap. 6, 7 und 10), Geburt oder Fehlgeburt (Mischna, Traktat Nidda Kap. 3, 4 zum Teil 5 und 10) und Bestimmungen zum Sexualverkehr (Mischna, Traktat Nidda 2,1-4, 10,8). Des Weiteren werden der Zeitpunkt der Menstruation (Mischna, Traktat Nidda 5,3) und verschiedene Gründe der Verunreinigung thematisiert.

Obwohl der Toseftatraktat Nidda nur neun Kapitel umfasst (→ Tosefta), ist er umfangreicher als die Mischna und überliefert v.a. aggadisches, d.h. nicht religionsgesetzliches Material (→ Aggada). Der halachische (religionsgesetzliche) → Midrasch zu Leviticus, Sifra, kommentiert die biblischen Referenzen aus Lev 15 Vers für Vers.

Die rabbinische Tradition diskutiert das Thema Nidda vor allem vor dem Hintergrund der in Lev 18 beschriebenen verbotenen Geschlechtsbeziehungen. Dabei werden die biblischen Bestimmungen der Berechung der Periode der Unreinheit erschwert: Die Zeit der Menstruation beträgt nach rabbinischer Vorstellung mindestens fünf Tage, an die sich die siebentägige Epoche anschließt, in der kein Blut erscheinen darf (Lev 15,25 differenziert zwischen dem Blut der Menstruation und dem Blut der mit sieben Tagen angesetzten Menstruationszeit). Ein Blutfluss innerhalb von elf Tagen nach zwölf Tagen der gesamten Menstruationsperiode (fünf Tage Menstruationszeit und sieben Tage Reinheit) gilt als außergewöhnliche Blutung, eine Blutung ab dem 12. Tag wieder als Menstruationsblutung. Eine genaue Berechnung dieser Perioden (gewöhnliche Blutung, außergewöhnliche Blutung und die Zeit des Menstruationsblutes) ist im rabbinischen Diskurs umstritten.

4. Nidda in der nachrabbinischen Literatur

Die Überlieferungen zur (individuellen) Reinheit, genauer die Bestimmungen zum sexuellen Verkehr und den Blutungen der Frau, gewinnen im 11.-14. Jh. bei den mittelalterlichen Bibelauslegern und Talmudkommentatoren wie → Raschi und den Tosafot (wörtl. „Ergänzungen“, Zusätze v.a. zum Kommentar von Raschi) an Bedeutung. Vor allem in Deutschland (Aschkenas) kommt es im 12. und 13. Jh. zu einer restriktiveren Auffassung der Reinheitshalacha. Texte wie die Baraitha de-Masechet Nidda, eine wahrscheinlich aus gaonäischer Zeit (Babylonien, 7.-11. Jh. n. Chr.) stammende Sammlung mit erschwerenden Reinheitsverboten zur Menstruation, nehmen in dieser Zeit einen großen Stellenwert ein. Hier lesen wir, dass der von einer menstruierenden Frau aufgewirbelte Straßenstaub entgegenkommende Personen verunreinigt, ihr Atem, ihre Spucke, ja sogar ihr Blick kann anderen schaden. Weiterhin verbietet die Baraitha der Menstruierenden, die Synagoge zu betreten, heilige Bücher zu berühren oder zu beten. Obwohl beispielsweise schon Raschi diese Einstellung gegenüber menstruierenden Frauen scharf kritisiert hatte, hat sie doch mit Sicherheit zu einer erweiterten Stigmatisierung der Frauen in Kult und Gesellschaft seit dem hohen Mittelalter geführt. Auch Stellenwert und Größe der → Mikwen vieler Gemeinden im Rheinland aus dieser Epoche sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff

2. Weitere Literatur

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  • Biale, R., 1984, Women and Jewish Law. An Exploration of Women’s Issues in Halakhic Sources, New York
  • Destro, A., 1996, The witness of times: an anthropological reading of „Niddah, in: F.A. Sawyer (Hg.), Reading Leviticus (JSOT.S 227), Sheffield, 124-138
  • Fishbane, S., 2007, Deviancy in Early Rabbinic Literature (The Brill reference library of Judaism Bd. 7), Leiden
  • Fonrobert, C.E., 2000, Menstrual Purity. Rabbinic and Christian Reconstructions of Biblical Gender (Contraversions: jews and other differences), Stanford
  • Greenberg, M., 1995, The etymology of „niddah“ ’(menstrual) impurity’, in: Z. Zevit / S. Gitin / M. Sokoloff (Hgg.), Solving Riddles and Untying Knots (FS C. Greenfield), 69-77
  • Kraemer, D.C., 1986, A developmental perspective on the laws of niddah, Conservative Judaism 38/3, 26-33
  • Marienberg, E., 2005, Lorsque la femme d’Eléazar de Worms croise un âne: la „Baraïta de Niddah“ et son influence sur les coutumes des juives ashkénazes, de l’époque médiévale à nos jours, REJ 164/1-2, 235-247
  • Milgrom, J., 1991, Leviticus 1-16. A new Translation with Introduction and Commentary (AncB 3), New York
  • Meacham, T.Z., 1993-1994, „A one day old infant may be rendered impure as a menstruant“ [Mishnah Niddah 5:3], Koroth 10, 74-82
  • Meacham, T.Z., 1998-1999, Hidden difficulties in the Sages’ terminology for women’s bodies, Korot 13, 55-76
  • Morgenstern, M., 2006, Niddah. Die Mensturierende (Übersetzung des Talmud Yerushalmi), Tübingen
  • Neusner, J., 1978, From Scripture to Mishnah: the origins of tractate Niddah, JJS 29/2, 135-148
  • Neusner, J., 1999, The religious meaning of bodily excretions in rabbinic Judaism: the Halakhah on Leviticus chapter fifteen - Zabim and Niddah, in: ders. (Hg.), Approaches to Ancient Judaism, New Series 15, 177-240 (auch in: Annual of Rabbinic Judaism 3, 2000)
  • Wasserfall, R.R., 1999, Women and Water – Menstruation in Jewish life and law (Brandeis series on Jewish women), Hanover / N.H.

Abbildungsverzeichnis

  • Mittelalterliche Mikwe, Speyer. © public domain

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