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Neu / Neuschöpfung (AT)

(erstellt: Juni 2007)

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1. Antikes Geschichts- und Lebensverständnis

Erst in der Neuzeit haben sich abendländische Kulturen anscheinend auch im Alltagsleben voll der Zukunft zugewandt. Vorher lebten die Menschen eher rückwärts gewandt, die verlässliche Tradition fest im Blick, die Zukunft dagegen im Rücken. Jedenfalls deuten manche biblischen Redewendungen ein solches in unseren Augen „verkehrtes“ Verhältnis zur Vergangenheit an. Die hebräischen und akkadischen Ausdrücke für „hinterher, am Ende“ bezeichnen nicht nur eine räumliche Lage, sondern auch das zeitlich „Zukünftige“. Auch die Ausdrücke für das, was „vor Augen, vorne“ liegt, können das „Vergangene“ meinen. „Modernes“ Denken setzt demgegenüber geradezu eine Kehrtwendung und damit eine grundlegende Neuorientierung voraus. Im Übrigen ist das Neue im Naturkreislauf immer bewusst gewesen (Neumond, frisches Grün, neue Ernte, erneuertes Leben). Außerdem erkannten schon die biblischen Zeugen das hermeneutische Problem der Veränderung (Neuwerdung), man vergleiche nur die einschneidende Rede vom „neuen Bund“, „neuem Herzen“ und „neuem Geist“ (Jer 31,31-34; Ez 36,23-31).

1.1. Altes und Neues

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Möglichkeiten des Neuen recht ambivalent. Neues muss sich vom Alten abheben, aber das Alte ist das Vertraute, Gebotene, und das Neue kann furchtbar bedrohlich sein (vgl. Ex 1,8; Ri 9,7-21; 2Kön 11,1-3; Neh 13,15-27; Jer 35; Ps 119,33f.106; Spr 6,20-23; Spr 19,16; Spr 28,4). Ist aber die vorhandene Situation für Israel andauernd unerträglich bedrückend gewesen, wirkt der Bruch mit dem Alten wie ein Befreiungsschlag: Man zieht aus der Sklaverei in die Freiheit (Ex 3-15) oder öffnet sich für den „neuen“ Bund (Jer 31,31). So kann am Ende der alttestamentlichen Zeit die Verheißung der Gottesherrschaft (vgl. Jes 9,5f.) und des neuen Jerusalem (Jes 62) die endzeitliche, kosmische Erneuerung vorbereiten (Jes 65,17: „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“)

1.2. Schichten und Situationen

Die alttestamentlichen Befunde sind immer sehr komplex, weil sie unterschiedliche geschichtliche, soziale und religiöse Situationen spiegeln, die noch dazu in einem langen Überlieferungsprozess mehr oder weniger kontinuierlich auf- und zusammengearbeitet worden sind. Wir haben also ständig nach den konkreten Haftpunkten biblischer Aussagen über Alt und Neu zu fragen. Jeder Text hat dabei an seinem Ort eine geschichtliche Tiefendimension. Es legt sich nahe, Hauptstränge der Überlieferung nach ihrer gesellschaftlichen Konstellation und gattungsmäßigen Ausprägung getrennt voneinander zu untersuchen. Die Familien- und Sippentradition, besonders in ihrer bäuerlich-sesshaften Verankerung, ist grundlegend. Städtisch-staatliche Horizonte, vor allem am Anfang und Ende der Königszeit als gravierender Umbruch empfunden (vgl. Ri 9; 1Sam 8), haben tiefe Spuren hinterlassen. Letztlich prägend für das ganze Alte Testament war die judäische, zum Teil von Babylonien bis Ägypten zerstreute Konfessionsgemeinschaft, die JHWH als ihren Gott bekannte und seine Tora zur Lebensgrundlage hatte. Sie bestimmt Literatur, Wertvorstellungen und Glauben, welche auch Christen und Muslime übernommen haben.

2. Sterben und wieder leben

Menschliche Existenz geschieht (bis heute) überwiegend im kleinen Kreis von Familie, Nachbarschaft, Arbeitsverrichtung, lokalen Festen, im persönlichen Zusammenleben, wo man sich namentlich kennt. Alttestamentliche Quellen für diesen intimen Lebensbereich sind Familienerzählungen (z.B. im Buche Genesis), individuelle Klage- und Danklieder des Psalters, mannigfaches Spruchgut und zivilrechtliche Bestimmungen.

2.1. Erneuerung in Lebenskrisen

Lebensbedrohungen (schwere Erkrankungen, Dämonen, soziale Ächtung usw.) waren ausweglos, wenn nicht mit Hilfe der Gottheit ein Ausbruch aus der tödlichen Falle gelang. Die guten Kräfte: Segen, Wohlwollen Gottes, Glück (besser: Heil = שׁלום šālôm), waren abhanden gekommen. Nur ihre Erneuerung konnte das Geschick des oder der Betroffenen noch einmal wenden. Darum finden sich in den Notgebeten die intensiven Bitten um JHWHs Nähe, Beistand und die Vernichtung der vielgestaltigen Feinde. Und in Erhörungsgewissheit und Dank beschreiben die Psalmen, was der persönliche Gott JHWH (bzw. ’älohîm „Gott“, ‘æljôn „der Höchste“ usw.) für die Not leidende Person, die jeweils eingebettet ist in ihren Familienverband, getan hat oder tut. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9b); „er riss mich heraus“ (d.h. aus der Unterwelt: Ps 18,20; vgl. Ps 69,15f.; Ps 71,20; Ps 91,15); „du hast mir meine Klage verwandelt in Reigen, du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und mich mit Freude gegürtet“ (Ps 30,12). Kurz, Gott gewährt neue Lebenschancen, wiederbelebt den praktisch bereits Verstorbenen. Diese Erfahrung trägt den einzelnen, seine Lebensgemeinschaft, und sie strahlt in die weiteren gesellschaftlichen Bereiche aus.

2.2. Jahreszeitliche Erneuerung

Goettin Abb 07

Natürlich sind Menschen eingebunden in den Kreislauf der Jahreszeiten; das war den antiken Vorfahren stärker bewusst als uns Heutigen. Die Vegetation erneuert sich im Vorderen Orient jährlich nach sengenden Sommerperioden. Grün ist die Farbe des Lebens. Alte Mythen erzählen eindrücklich vom Tod des Vegetationsgottes als Ursache für das Pflanzensterben (vgl. den ugaritischen Baal-Zyklus KTU 1.1-16; TUAT III, 1091-1198; Text Ugarit Baal-Zyklus). In den Bauerngemeinden Israels war man ganz auf die saisonalen Perioden eingestellt, der älteste Kalender, gefunden in → Geser, benennt Saat- und Erntezeiten (10. Jh. v. Chr.; Renz / Röllig, 1995, 30-37; Übersetzung in Art. → Fest). Die Festkalender des Alten Testaments (Ex 23,14-17; Ex 34,18-26; Dtn 16,1-17; Lev 23,4-44) spiegeln die starke Bindung an die Jahreszeiten, die in der Regel an lokalen Heiligtümern begangen wurden.

Innerhalb des von der Sonne gesteuerten jährlichen Zyklus hält der Mond (nach Gen 1,16 die andere „Himmelsleuchte“) seinen eigenen, bedeutsamen Rhythmus ein. Alle 28 Tage nimmt er zu und ab, und jeder „Neumond“ חדשׁ chodæš, auch im Hebräischen etymologisch mit dem Adjektiv „neu“ חדשׁ chādāš verbunden, war ein markantes Ereignis, vor allem im kultischen Bereich. Im Rahmen der Naturkreisläufe hatten sich die Menschen auf das wiederkehrende „Neue“ einzustellen. Sie warteten sehnlichst auf den Winterregen (religiös oft als göttliche Befruchtung der Erde verstanden; Ps 65,10-14), der den Ackerboden für die Aussaat bereit machte. In Dürrezeiten drohte der Hungertod (vgl. 1Kön 17f.). Ebenso sehr erhoffte man sich gute Ernten, die Menschen mussten also auch „nach vorn“ schauen. Dank und Jubel der mit reichen Erträgen Beschenkten entluden sich in den Festen. „Du tränkst [das Land] und feuchtest seine Schollen; mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächs. Du krönst das Jahr mit deinem Gut, und deine Fußtapfen triefen von Segen.“ (Ps 65,11f.; vgl. die Ernteidylle Rut 3). Der jährlich erneuerte Segen ermöglicht das Weiterleben.

3. Staat und Dynastie

In der Großgesellschaft nimmt die Begrifflichkeit von „neu“, „erneuern“, „neu schaffen“ andere Dimensionen an. Recht und Ordnung sind im nationalen und eventuell gar kosmischen Maßstab zu bewahren, gegebenenfalls zu regenerieren.

3.1. Politisch-rechtliche Reformen

Aufrichtung und Durchsetzung von Recht und Gesetz in großen Bevölkerungen städtischer oder staatlicher Provenienz gehört seit Anfang der vorderorientalischen Geschichte im 3. Jt. v. Chr. zu den Standardaufgaben der regierenden Häupter. Sie berufen sich auf göttliche Beauftragung, so wie fast 1000 Jahre später → Hammurabi (vgl. Abb. 1). Die großen Götter setzten im Zweistromland jährlich die „Schicksale“ eines Landes neu fest. Israelitische Monarchen stehen in dieser selben kulturellen Überlieferung. Wir sehen sie in den biblischen Quellen (vor allem: Samuel- und Königsbücher, Chronikbücher, Königspsalmen) zwar nur durch die Brille der späteren Überlieferer, doch stehen sie zweifellos in der Tradition des Vorderen Orients und Ägyptens. Ihnen ist die göttliche Ordnung anvertraut, sie haben sie im Volk durchzusetzen. An den König gerichtet, heißt es in Ps 45,7f: „Gott, dein Thron bleibt immer und ewig; das Zepter deines Reiches ist ein gerechtes Zepter. Du liebst Gerechtigkeit und hassest gottloses Treiben.“ Dem König obliegt die Wiederherstellung des Rechts (vgl. 2Sam 8,15; 2Sam 15,2-4; 2Sam 23,2-6; Ps 72,1-17; 1Kön 3,16-28; Jer 22). Das spätere, deuteronomistische Modell (→ Deuteronomismus) der Rechts-, Staats- und Religionsreform (vgl. 2Kön 18,1-7; 2Kön 23,2-3) stützt sich auf diese göttlich sanktionierte Kompetenz zur Wiederaufrichtung gestörter Ordnung. Das Neue ist die In-Kraft-Setzung des Alten.

3.2. Dynastisch-religiöse Erneuerungen

Im Alten Orient und weit darüber hinaus wird die Herrschaft der Regierenden selbstverständlich auf göttliche Legitimation gegründet. Das ist im Alten Testament nicht anders. Die Beauftragung zur Vizeregentschaft für den Staats- oder Volksgott wird in eine Bestandsgarantie für die eigene Herrschaft umgemünzt (2Sam 7,4-17; Ps 89,2-38). Die göttliche Zusage garantiert immer neue Nachkommen zur Absicherung der Familienherrschaft. Vermutlich haben die Davididen in Jerusalem wie auch die Könige Nord-Israels in → Samaria ein Dynastie erhaltendes Hof- und Tempelzeremoniell entfaltet. Der salomonische Tempel war eine staatstragende, dem König unterstellte Institution. Dennoch bezeugt das Alte Testament erstaunlicherweise vielschichtig starke Oppositionsbewegungen gegen die sakrosankte Monarchie (vgl. Crüsemann, 1978). Propheten prangern Missverhalten an und fordern Rückkehr zu vor-monarchischen Ordnungen bzw. einen echten Neuanfang (cf. Am 3,9-11; Am 4,1-3; Am 5-6; Hos 3,4; Hos 5,1-7; Hos 8,4.10). Oder sie unterstützen Usurpatoren (vgl. 2Kön 9f), die gegen traditionelle Strukturen zu den älteren Idealen zurückkehren wollen.

3.3. Veränderung der Gottesvorstellung

Im Zuge von großgesellschaftlichen Entwicklungen hat sich in Israel der Gottesglaube stark verändert. Zwar blieb der Glaube der Kleingruppen (Haus- und Lokalkulte) bis zum Ende der Monarchie im Wesentlichen erhalten. Aber Staatstheologen entwickelten aus stammesgeschichtlichen Konzepten die Vorstellung von dem Israel beschützenden Reichsgott (Gerstenberger, 2001). Er kämpft gegen alle Feinde und garantiert Landbesitz und Erhalt der Dynastie. Sein Titel ist – nach altorientalischem Vorbild – „König“ (מלך mælækh), bzw. „König der Könige“. Dass hier eine radikale theologische Neuerung vorliegt, haben bereits manche alttestamentlichen Zeitzeugen empfunden (vgl. Ri 9,8-15). Nach dem Zusammenbruch der Monarchie ist die Diskussion um das Königtum dann in vollem Umfang entbrannt. Besonders aus einer deuteronomistischen (auch manche Prophetenbücher durchdringenden) Sicht war das Königtum in Israel eine folgenschwere Fehlentwicklung, welche den Glauben an JHWH grundlegend verfälschte (vgl. 1Sam 8,10-18; Hos 8,4; Am 6,1-6; → Deuteronomismus). Scharfe Ankläger verlangen die Einführung der Gottesherrschaft (vgl. Ez 34). Der König wird in Dtn 17,14-20 zu einem Schriftgelehrten minimiert, in 1Kön 8 zu einem Gemeindeleiter und in 1Chr 15-18 zum Organisator des israelitischen Kultus umfunktioniert. Folglich setzt auch eine radikale theologische Neubesinnung ein. JHWH wird vom Reichsgott zum Gott der Toragemeinde. In Psalmen wie Ps 2 und Ps 110 bleiben vorexilische Vorstellungen vom Königtum JHWHs und seinem irdischen Regenten erhalten, werden aber nun „messianisch“ verstanden, d.h. auf eine herrscherliche Idealgestalt bezogen, die erst für die ferne Zukunft erwartet wird.

4. Konfessionsgemeinschaft

Nach der babylonischen Eroberung und während der Perserherrschaft vollzieht sich eine entscheidend neue Entwicklung: Das davidische Staatswesen verwandelt sich sozusagen in eine Konfessionsgemeinschaft (vgl. Gerstenberger, 2005). Dieser Wandel wurde am deutlichsten von → Deuterojesaja als etwas wirklich Neues empfunden und auch so bezeichnet: „ich verkündige Neues“ (Jes 42,9; Jes 48,6); „so spricht JHWH, der dich, Jakob, geschaffen hat“ (Jes 43,1; dabei ist „Jakob“ als kollektive Anrede an die Konfessionsgemeinschaft zu verstehen; sie ist so neu, dass sie als Produkt eines Schöpfungsaktes dargestellt wird).

4.1. Herzenstora und Geschwisterethos

Die „Auffindung“, historisch zutreffender: schriftliche Ausbildung, der Tora gegen Ende der Königszeit (vgl. 2Kön 22,3ff) leitet nach biblischem Zeugnis eine neue Epoche ein. Esra begründet den Tora-Gottesdienst als neues geistliches Zentrum Israels (vgl. Neh 8,1ff; parallel dazu geht die Tempelrestauration, Esra 3-6). Und weil auch sehr bald die Gefahren einer sich verkrustenden Schriftgläubigkeit erkannt werden, gehen einige Stimmen noch weiter. Sie verlangen von der sich neu, ohne König, konstituierenden JHWH-Gemeinde eine völlige Abkehr von institutionellen Stützen und eine totale innere Hingabe an den Gott Israels (vgl. Jer 31,31-34), eine Geistbegabung der ganzen Gemeinde (Ez 36,24-30; Joel 3,1f). Eine neuartige Gemeinschaft von gleichgerichteten Glaubenden soll entstehen, das wahre Volk JHWHs. Abweichler und manchmal auch Fremde werden ausgeschieden (vgl. Ps 119; Esr 10; Dtn 23,2-9; es gibt aber auch die Gegenbewegung, z.B. in Jes 56,1-8, Rut, Jona usw.). Die Gemeinde der „Gerechten“, „Auserwählten“ oder „Heiligen“ bildet sich, in der geschwisterliche Gleichheit herrscht. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, JHWH, euer Gott“ (Lev 19,2). Die Predigt dieser unerhörten Gottesgemeinschaft mit ihrer Entscheidungsforderung findet ihr Echo im ganzen Alten Testament: Dtn 29-31; Jos 23f; 1Kön 8,1ff; Jer 10,1ff; Spr 8; Spr 12; Ps 81,1ff; Ps 95,1ff.

4.2. Prophetie als Toraverkündigung

Israels wechselhafte Geschichte der prophetischen Verkündigung spiegelt sich in manchen Texten (vgl. 1Sam 9,9). Gegen Ende der alttestamentlichen Zeit war die „klassische“ Prophetie anscheinend in Misskredit geraten (vgl. Sach 13,2-6) und durch das Konzept einer Kette von Tora-Predigern, die sich direkt von Mose herleitete, ersetzt worden (vgl. Sach 7,7-12; Dtn 18,15; Dtn 34,10-12; Jer 10; Jer 15,1; Blenkinsopp, 1998). Die neue, auf die Tora bezogene und ihr offenbar gleichgestellte (kultisch legitimierte?) Gottesrede war manchen Überlieferern so wichtig, dass sie ihnen als das lebendige Wort schlechthin galt (vgl. Jer 26), das schriftlich verfasst, gemeindlich gebraucht, von jedermann verehrt sein wollte (vgl. 2Kön 22 mit Jer 36). Auch Hulda wirkt als von JHWH bestätigte Prophetin und hat als solche über die Authentizität der Tora zu entscheiden (2Kön 22,14-20), ein unerhörtes Novum in der Religionsgeschichte Israels.

4.3. Welt- und Menschenschöpfung

Erst im Kontext der babylonischen und persischen Imperien bildeten sich wohl auch in Israel ein universales Weltbewusstsein und ein gewisser „Monotheismus“ heraus (unser Begriff ist stark von der griechischen Philosophie geprägt und darum auf das Alte Testament nicht anwendbar). Wiederum ist Deuterojesaja ein früher, starker Zeuge: „Meine Hand hat die Erde gegründet, und meine Rechte hat den Himmel ausgespannt. Ich rufe, und alles steht da.“ (Jes 48,13). „Siehe, die Völker sind geachtet wie ein Tropfen am Eimer und wie ein Sandkorn auf der Waage.“ (Jes 40,15). Israel ist für das universale Welttheater geschaffen und erwählt. Die Urschöpfung (Gen 1) ist der Neubeginn schlechthin, weil ihre Ordnung das Chaos verdrängt und gestaltet. Die Erschaffung alles Lebens, darunter auch des menschlichen, und die Krönung der Ordnung durch den Sabbat (Gen 2,1-3) stellt ein gültiges Muster dar, das auch JHWHs Handeln am Ende der Zeiten prägen wird (vgl. Gunkel, 1895). Der Mensch schlechthin, nicht der Israelit, auch nicht der Abrahamsnachkomme und ebensowenig der JHWH-Gläubige wird von Gott am Anfang geschaffen, darin sind sich die vielfältigen biblischen Schöpfungstraditionen einig (vgl. Gen 1,26-31; Gen 2,5-7.18-25; Ps 8,1ff; Ps 139,13-16). Dieser Mensch bringt eine neue Qualität in die Welt hinein, welche zugleich Ordnung wahrt und zerstört (Gen 3,1ff; Gen 4,1-16; Gen 6,5ff; Gen 11,1-9). Auch hier wieder: Ambivalenz! Darum entwickelt sich durch lange Leiderfahrungen und Krisen hindurch allmählich der Glaube, dieses Weltgebäude sei im Kern verdorben und müsse durch ein neues ersetzt werden.

4.4. Eschatologie und Apokalyptik

Nach allem, was wir erkennen können, ist die Hoffnung auf die grundsätzliche Erneuerung der Schöpfung in Israel und seiner Umwelt gleichzeitig gewachsen. Schon im spätbabylonischen Zeitalter machten sich pessimistische Strömungen bemerkbar (vgl. die skeptische Weisheit: Lambert, 1960; das Erra-Epos: Müller, TUAT 3, 781-801). Einen entscheidenden Schub brachte die Zarathustra-Religion im persischen Großreich. Ihre Vision des sich verschlechternden Weltzustandes, der nur mit einer endzeitlichen Entscheidungsschlacht des Guten gegen das Böse aufgehoben werden kann, hatte tiefe Wirkung auf biblische Theologen und ist noch heute beängstigend virulent in westlichen Denksystemen. Alttestamentliche Vorläufer sind globale Vernichtungsszenarien wechselnder Färbung, die alle den Gedanken durchspielen: Das Alte ist böse und muss ausgerottet werden (vgl. Jes 24-27; Ez 38-39; Sach 1-6; Dan 2; Dan 7 etc.).

5. Nachhaltige Neuschöpfung

Was wird nach der Aufhebung der bösen Welt sein? Nur zaghaft denken die alttestamentlichen Zeugen in die unerfahrbare Zukunft hinein. Vorstellungen von Auferstehung der Toten (vgl. Ez 37,1ff; Dan 12,1ff) und immerwährenden Engelchören sind ihnen relativ fremd. Stattdessen schwebt ihnen ein sattes, erfülltes Leben vor: Nach der Ansage eines „neuen Himmels und einer neuen Erde“ kommt die Verheißung für Jerusalem, in dem Freude herrscht und Trauer verbannt ist. Die Menschen sollen ihre volle Lebensspanne ausschöpfen dürfen: „Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur ein paar Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.“ (Jes 65,17-20; vgl. Sach 8,4: Alte Leute beschaulich auf einer Bank vor spielenden Kindern).

Eine andere Überlieferung überzeichnet, vielleicht mit einem Schuss Selbstironie, die Zukunftsspekulation ins Unwirkliche: „Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis JHWHs sein, wie Wasser das Meer bedeckt.“ (Jes 11,6-9).

Wieder andere Träume gehen in den Bereich der Völkerverständigung und des dauerhaften Friedens, der Vorrangstellung Jerusalems und der Unterordnung der Feindvölker (vgl. Jes 4,2-6; Jes 19,23-25; Jes 49,7; Jes 51,17-23; Jes 62,1-12; Sach 9,1ff; Sach 14,1ff etc.). Kurz: Das ersehnte neue Reich, in dem Gerechtigkeit, Freude und alle erdenkliche Lebensqualität zu Hause sind, ist gemalt in Farben und Formen recht irdischer Art. Wesentlich ist die Abwesenheit von Leid und Mühe, Hass und Missgunst. JHWHs Herrschaft, manchmal in Kraft gesetzt durch einen Messias (vgl. Jes 9,1-5; Jes 11,1-5; Jer 23,5f; Ez 34,1ff; Ps 2,1ff; Ps 45,1ff; Ps 72,1ff; Ps 110,1ff), ist im Höchstfall ein irdisches Paradies, keine jenseitige Wirklichkeit. Aber in diesen handfesten Vorstellungen von erfülltem Leben, sowohl auf der individuellen wie der gesellschaftlichen Ebene, erweist sich eine liebenswert menschliche, bescheidene Theologie, die die Zukunft im Grunde Gott überlässt.

6. Neues im Alten, Neues gegen Altes

Eine absolute Neuheit von Ereignissen oder Dingen gibt es im Alten Testament und im Alten Orient so gut wie nicht. Auch Unerhörtes, Einmaliges, Unvorstellbares hat immer noch eine Verbindung zur (damaligen!) Wirklichkeit, d.h. es ist nicht antagonistisch der Realität entgegengesetzt. Josua gelingt es, mit seiner beschwörenden Bitte die Sonne in ihrem Lauf anzuhalten: „Es war kein Tag diesem gleich, weder vorher noch danach, dass JHWH so auf die Stimme eines Menschen hörte ..“ (Jos 10,14). Ein meditatives Gebet stellt die Allgegenwart JHWHs fest, seine Unentrinnbarkeit: „Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar, ich kann sie nicht begreifen.“ (Ps 139,6). Die Kundschafter, die aus dem Land Kanaan zurückkommen, berichten: „Wir sahen dort auch Riesen, Enaks Söhne aus dem Geschlecht der Riesen, und wir waren in unseren Augen wie Heuschrecken und waren es auch in ihren Augen.“ (Num 13,33). „Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir’s, wenn du so klug bist!“ (Hiob 37,4). Die Wirklichkeit Gottes übersteigt menschliche Erkenntnis, das ist wohl wahr (vgl. Ex 3,14; Ex 33,18-23; 1Kön 19,11-13; Ez 1,26-28). Wo immer sie sich bemerkbar macht, ist Neues, die Erfahrung Übersteigendes im Spiel. Aber die menschliche Verarbeitung der übermächtigen Erscheinung JHWHs, einschließlich seiner „Theophanien“ (Jeremias, 2005), hält sich in der Beschreibung des göttlichen Wesens zurück, konstatiert statt dessen lieber die umwälzenden, erneuernden Effekte göttlichen Auftretens. Steigerungsformen von „außerordentlich“ bis „nicht-zu-begreifen“ sind, wie die obigen Beispiele zeigen, häufig und sie intendieren sicherlich, die Empfindung des „Neuen“ auszusagen (vgl. die Formel: „So etwas hat man noch nie gehört!“ Dtn 4,32; Jes 66,8; Jer 18,13). Nur darf man nicht den modernen Gedanken einer schroffen Antithese eintragen. Das Neue ist für antikes Denken sowenig „absolut neu“ wie das Göttliche als das „völlig Andere“ oder das „dem Menschen absolut Entgegengesetzte“ gilt.

Eine eindeutige Privilegierung des Neuen gibt es im Alten Testament nicht. Oft ist das Neue eben auch das bewährte, originale, von Gott sanktionierte Alte. Eher heißt es geradewegs: „Fragt nach den Wegen der Vorzeit“ (Jer 6,16). Und das Neue Lied, das gelegentlich angestimmt werden soll (vgl. Ps 33,3; Ps 96,1; Ps 98,1; Ps 144,9; Ps 149,1, Jes 42,10), hat seinen Sitz im Leben offensichtlich in kultischen Zeremonien, welche in regelmäßigen Intervallen Großtaten Jahwes für sein Volk feierten.

Die alttestamentlichen Aussagen über das Neue – sofern es denn das Alte überwinden muss – pendeln (wenn wir von dem skeptischen „es gibt nichts Neues unter der Sonne“, Pred 1,9 absehen) zwischen zwei Grundpositionen: Zum einen setzt das Alte das Neue aus sich heraus oder gibt doch Basis und Material für das Neue ab. Zum anderen gibt es aber auch die Vorstellung, dass sich das Alte dem Neuen widersetzt und das Neue über das Alte (legitim oder illegitim) triumphieren muss.

Der evolutive, wenngleich kämpferisch erzwungene Übergang vom → Chaos zur geordneten Schöpfung ist ein Paradigma für die erste Position. Ps 104 schildert anschaulich, wie der Schöpfergott die Chaoswasser bedroht, und sie sich dann gezähmt in nützliche Bahnen begeben (Ps 104,6-11) und dadurch das Leben ermöglichen. Im babylonischen enuma-eliš-Epos ist die Schöpfung eine blutige Tat Marduks, aber auch dort dienen die Ur-Ungeheuer dem Leben der Neuen Ordnung. Die Verheißung vom neuen Bund (Jer 31,31-34) führt ebenfalls das Alte weiter, insofern die bisherigen Bundespartner und der Inhalt der Tora gleich bleiben. Das Neue besteht nur darin, dass die Tora dem Herzen eingeschrieben wird.

Die zweite Grundposition kommt in den Blick, wenn Ezechiel von JHWH erlassene Gesetze als „nicht gut“ einschätzt (Ez 20,25). Vergleichbar ist eventuell auch die Kultkritik in Ps 50,8-15 und Ps 51,18: Den bewährten Opfervollzügen wird situationsbedingt die Legitimation entzogen. Schließlich kann man die Auseinandersetzungen um die Einführung des Königtums betrachten. Ohne Zweifel wird dieses Ereignis wie oben gesagt als fundamentale Neuerung dargestellt (vgl. Ri 19,1; 1Sam 8-15; 1Sam 16 - 2Sam 5). In den älteren Überlieferungen ist aber, zumindest unterschwellig, die Tendenz spürbar, auch diese, wie jede andere legitime Neuerung, mit der alten, guten Überlieferung, bzw. mit dem vorzeiten geäußerten Willen Gottes in Übereinstimmung zu bringen. Dagegen bildet sich in der späten theologischen Reflexion, wohl unter persischem Einfluss, die Erwartung einer grundlegenden Umgestaltung der ungerechten Verhältnisse heraus, die auch die materiellen Grundlagen allen Seins umfassen, also eine regelrechte Neuschöpfung darstellen (vgl. Jes 65,17 „neuer Himmel und neue Erde“).

Das neue Gottesreich der Apokalyptik ist der geschichtlichen Herrschaft von Menschen so diametral entgegengesetzt, dass es seine befreiende und beglückende Kraft nur durchsetzen kann, indem es Bestehendes definitiv beendet (vgl. aber die Wiederbelebung toter Skelette in Ez 37!). So wird Daniel in einem Traum (Dan 7) die Einsicht zuteil, dass die unterdrückerische Herrschaft der großen Tiere, insbesondere des vierten, das das letzte Weltreich symbolisiert, durch ein direktes Eingreifen vom Himmel aus beendet wird: Das vierte Tier wird nicht nur getötet, sondern auch noch verbrannt (Dan 7,11). Während die Tiere nacheinander dem großen Meer entsteigen, kommt der Regent Gottes in Menschengestalt „mit den Wolken des Himmels“ (Dan 7,13). Dann so heißt es weiter, werden „die Heiligen des Höchsten das Reich empfangen und werden’s immer und ewig besitzen“.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Encyclopedia of Religion, New York 1987
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001

2. Weitere Literatur

  • Barth, Ch., 1997, Die Errettung vom Tode (1947), neu hg. von B. Janowski, Stuttgart
  • Barr, J., 1966, Old and New in Interpretation. A Study of the Two Testaments, London (deutsch: Alt und neu in der biblischen Überlieferung, München 1967)
  • Blenkinsopp, J., 1983, 2. Aufl. 1996, A History of Prophecy in Israel (deutsch: Geschichte der Prophetie in Israel, Stuttgart 1998)
  • Cagni, L., 1977, The Poem of Erra (Sources from the Anicent Near East 1/3), Malibu
  • Crüsemann, F., 1978, Der Widerstand gegen das Königtum (WMANT 49), Neukirchen-Vluyn
  • Dietrich, M. / Loretz, O., 1997, Der Baal-Zyklus KTU 1.1-1.6, in: TUAT 3,6, Gütersloh, 1091-1198
  • Gerstenberger, E.S., 1993, Das dritte Buch Mose. Leviticus (ATD 6), Göttingen
  • Gerstenberger, E.S., 2001, Theologien im Alten Testament, Stuttgart
  • Gerstenberger, E.S., 2005, Israel in der Perserzeit (BEnz 8), Stuttgart
  • Gunkel, H., 1895, 2. Aufl. 1921, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, Göttingen
  • Lambert, W.G., 1960, Babylonian Wisdom Literature, Oxford
  • Jeremias, J., 2005, Art. Theophanie II. Altes Testament, in: RGG 4. Aufl., Tübingen, 8, 336-338
  • Müller, G.G.W., 1994, Ischum und Erra, in: TUAT 3,4, Gütersloh, 781-801
  • Renz, J. / Röllig, W., 1995, Handbuch der althebräischen Epigraphik, Bd. I-III, Darmstadt

Abbildungsverzeichnis

  • Göttin mit Zweigen als Symbol vegetativer Erneuerung (Skarabäus aus Geser; Mittlere Bronzezeit IIB). Aus: S. Schroer, Die Zweiggöttin in Palästina / Israel. Von der Mittelbronze II B-Zeit bis zu Jesus Sirach, in: M. Küchler / C. Uehlinger (Hgg.), Jerusalem. Texte – Bilder – Steine (FS H. Keel-Leu / O. Keel, NTOA 6), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 1987, 201-225, Abb. 1; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Der Gott Schamasch übergibt König Hammurabi (1729-1686 v. Chr.) Rechtsentscheide. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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