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Nächstenliebe

(erstellt: Februar 2017)

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1. Empirische Befunde

„Ich fand den Religionsunterricht in der Grundschule noch witzig. Altes Testament, Gott lässt mal wieder den Rauch rein, Schlachten und Geschichten, das war interessant. Dann kam Jesus, und plötzlich war alles wie im Blumen-Sonne-Lutscherland. Keine Gewalt, Nächstenliebe, wenn dir einer die Jacke klaut, gib ihm die Hose auch noch. – Ja, ja, ganz klasse“ (Sven, 17 Jahre).

„Er kann uns heute sagen, dass man, obwohl es wahrscheinlich um einiges schwieriger ist als damals, nicht nach Konsum streben soll, und dass wir lieber anderen helfen sollen. Wobei das aus meiner Sicht wirklich niemand tut! Jesus kommt ehrlich gesagt nur noch in den alten Kindergeschichten vor“ (Anita, 16 Jahre) (Zitiert nach Ziegler, 2001, 124).

Diese Jugendlichen stufen das Gebot der Nächstenliebe als realitätsfern ein. „Jesu Ethik der Gewaltlosigkeit scheint – stilisiert zu einem Allheilmittel gegen Aggression – in der Tat nur in einer heilen Märchenwelt denkbar“ (Ziegler, 2001, 124). Der Rückblick von Sven auf seinen Religionsunterricht in Grundschule und Gymnasium spiegelt darüber hinaus auf eigentümliche Weise die Kontrastierung von alt- und neutestamentlichem Gottesbild, wie sie Michael Fricke bei seiner Befragung von Grundschullehrkräften mehrfach begegnet ist. So benennt eine Lehrkraft das Gottesbild als eine der Schwierigkeiten, die sich für sie bei der Behandlung der Noah-Erzählung in der Grundschule ergibt: „Gott als unbarmherziger Rachegott ist ein Gottesbild, das ich mit meinem NT-Gottesbild nicht vereinbaren kann“ (Grundschullehrkraft, zitiert nach Fricke, 2005, 418). Sven nimmt eine entgegengesetzte Wertung vor: Als (nach den alttestamentlichen Erzählungen) Jesus – und mit ihm die Nächstenliebe – (in den Religionsunterricht) kamen, wurde es langweilig und realitätsfern.

Nächstenliebe ist also in der Perspektive vieler Kinder und Jugendlicher etwas, das sich mit Jesus verbindet. Dass Jesus von Schülerinnen und Schülern ganz unterschiedlicher Altersstufen als einer wahrgenommen wird, der „hilft“, hat Gerhard Büttner empirisch nachweisen können (2002). Nach dieser Studie ändert sich dabei weniger an der Grundüberzeugung, dass Jesus hilft, als vielmehr die Vorstellung darüber, wie er hilft. Zu diesem „helfenden“ Jesus passt das Gebot der Nächstenliebe. Allerdings entzündet sich an genau diesem Punkt auch ein Krisenherd im christologischen Denken: Jugendliche fokussieren im Blick auf Jesus die Ethik. „Dass Jesus Gott, seinen Vater, den Menschen durch die Praxis der Menschenliebe glaubwürdig machen wollte, das ist wohl der weitreichendste gemeinsame Grundriss einer Christologie Jugendlicher“ (Schuster, 2001, 183). Die Krise entzündet sich nun daran, dass Jesus von einer ganzen Reihe Jugendlicher eher als idealisierter, weltfremder Moralprediger gesehen wird denn als Vertreter einer befreienden Ethik (Spaeth, 2012, 157; Ziegler, 2001, 111-126).

Entwicklungspsychologisch ist das Gebot der Nächstenliebe eng an die Fähigkeit gekoppelt, sich in eine andere Person hineinzuversetzen, um so antizipieren zu können, wie sie reagieren könnte. Nach Robert L. Selman entwickelt sich im Grundschulkind allmählich die Fähigkeit, „im Geiste aus sich heraus zu treten und eine Zweite-Person-Perspektive auf die eigenen Handlungen und Gedanken sowie auf die eigene Erkenntnis, dass auch andere über dieselbe Fähigkeit verfügen, einzunehmen“ (1984, 51f.). Eine wechselseitige Perspektivübernahme, bei der wir nicht nur die Perspektive des oder der anderen zu rekonstruieren suchen, sondern bei der wir uns versuchsweise auch eine Vorstellung davon machen, wie der oder die andere unsere eigene Perspektive rekonstruiert, wird erst im Jugendalter zunehmend möglich.

Betrachten wir das Gebot der Nächstenliebe durch die Brille der Stufen des moralischen Urteils nach Lawrence Kohlberg, so ergibt sich etwa Folgendes: Gilt das Gebot als Weg, um (göttlicher) Strafe zu entgehen, entspräche dies der Stufe 1. Wird es im Sinne einer do ut des („Ich gebe, damit du gibst.“) Struktur verstanden („Ich liebe, damit du mich liebst.“), entspräche dies der Stufe 2. Nächstenliebe als Mittel zur Gewinnung von Anerkennung (durch wesentliche Andere) entspräche der Stufe 3. Auf den höheren Stufen gälte das Gebot der Nächstenliebe als ein selbst-akzeptiertes moralisches Prinzip. Wichtig ist: Das Gebot der Nächstenliebe entspricht nicht per se einer bestimmten Stufe des moralischen Urteils, sondern es lässt sich auf den unterschiedlichen Stufen je unterschiedlich rezipieren.

2. Fachwissenschaftliche Orientierungen

2.1. Das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18)

Das Gebot in Lev 19,18 wird auf zwei unterschiedliche Arten aus dem Hebräischen übersetzt:

1. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Diese Übersetzung ist die uns geläufige. Sie entspricht der griechischen Fassung von Lev 19,18 in der Septuaginta und in den neutestamentlichen Zitaten des Nächstenliebegebotes in Mt 22,39; Lk 10,27; Röm 13,9; Gal 5,14 und Jak 2,8. Der Vergleich „wie“ bezieht sich (adverbial) auf das Lieben. Die genauere Verhältnisbestimmung kann dabei unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie wir die elliptische Formulierung ergänzen (Schüle, 2001, 519):

1.1.: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie du dich (auch) selbst lieben sollst.“

In diesem Fall haben wir es mit zwei Aufforderungen zu tun: Einer Aufforderung zur Nächstenliebe und einer Aufforderung zur Selbstliebe. Psychologisch gewendet hieße das:

„Nächstenliebe setzt voraus, dass sie von Individuen ausgeht, deren Selbstverhältnisse mit genügend Sicherheit, Vertrauen und im Blick auf die eigenen Unzulänglichkeiten mit ausreichender Geduld und Nachsicht ausgestattet sind. Erst dann ist Nächstenliebe möglich, die nicht mit Selbstverlust oder verzehrender Selbstaufopferung zusammenfällt, die also eine genuine und authentische Form der Zuwendung zum Nächsten erlaubt“ (Schüle, 2001, 519).

1.2.: „Du sollst deinen Nächsten lieben, (so) wie du dich selbst liebst.“

Bei dieser Übersetzung gilt die Selbstliebe als anthropologische Konstante, aus der die Aufforderung zur Nächstenliebe abgeleitet wird.

Beide Übersetzungen sehen in der (geforderten oder gegebenen) Selbstliebe des Menschen die Bedingung, unter Umständen auch das Maß der Nächstenliebe (Härle, 2011, 185).

Der hebräische Text in Lev 19,18 wird aber auch noch anders übersetzt:

2. „Liebe deinen Nächsten, [denn] er ist wie du“ (Schüle, 2001, 531; Buber/Rosenzweig, 1954, 326; Buber, 1955, 69).

Der Vergleich bezieht sich hier (attributiv) auf den Nächsten und auf das „Du“. Beide sind gleich. Inwiefern? Das Gebot der Nächstenliebe steht im Kontext anderer Gebote, die Rücksicht gegenüber den Schwachen der (israelitischen) Gesellschaft fordern (z.B. Lev 19,13f.). Das heißt für Lev 19,18:

„Der Nächste, der mir gleich ist, ist ein Mensch, der wie ich auf den Schutz lebensfreundlicher Rechts- und Sozialformen angewiesen ist, der wie ich der Nähe und der intimen Wärme vertrauter Menschen bedarf, weil er ohne dies alles nicht leben und weil er dies alles nicht aus sich selbst heraussetzen kann. Es geht demnach um eine sozialanthropologische Einsicht grundlegender Art“ (Schüle, 2001, 529).

Wer ist nach Lev 19,18 der „Nächste“? Der „Nächste“ meint hier zunächst den Mit-Israeliten. Das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) gilt aber auch dem Fremden (Lev 19,34). Der Grund ist ein theologischer:

„So ist das Gebot der Fremdenliebe und des Schutzes des Fremden zu erklären mit der Besonderheit des im Alten Testament, insbesondere in der Tora vorherrschenden Gottesbildes im Verhältnis zu den Gottesbildern der Umwelt Israels: JHWH als Gott eines Volkes von versklavten Fremden, die er in die Freiheit führte; darum liebt er nicht nur sein Volk, sondern auch diejenigen, die als Fremde in seinem Volk leben, und gebietet, sie zu lieben und zu schützen“ (Moenikes, 2012, Abschnitt 2.2.3.).

Eine erhebliche Ausweitung ergibt sich, wenn man schöpfungstheologisch argumentiert. Im Anschluss an das Gebot der Nächstenliebe heißt es in unmittelbarer Gottesrede: „Ich bin der Herr“ (Lev 19,18).

„Das führt, meiner Einschätzung nach, zu einer engen Verbindung von Liebes- und Schöpfungsverständnis, insofern auch die alttestamentlichen Schöpfungsaussagen wesentlich auf der Semantik von ‚Bedürftigkeit‘ und ‚Umgebung‘ aufbauen“ (Schüle, 2001, 533).

Umstritten ist, ob Lev 19,18 auch das Gebot der Feindesliebe einschließt (Moenikes, 2012) oder nicht (Gaß, 2011, 203-204).

Der zu liebende Nächste ist einer, den der Adressat des Nächstenliebegebots nicht hassen, sondern den er zurechtweisen (Lev 19,17), an dem er sich nicht rächen und dem er nicht nachtragen soll (Lev 19,18a), was impliziert, dass dieser dem Angesprochenen Leid zugefügt hat. Der zu liebende Nächste ist damit der (nahestehende [israelitische], nicht nationale!) Feind, das Nächstenliebegebot ein implizites Feindesliebegebot“ (Moenikes, 2012, Abschnitt 2.2.1.).

Aber: Ist der Feind mir „gleich“ (siehe die 2. Übersetzung von Lev 19,18)? Sofern ich die Gleichheit so verstehe, dass nur ein „Volksgenosse der gleichen Kultgemeinschaft“ gemeint ist (Hofius, 1991, 106), wäre diese Frage zu verneinen. Aus dem generellen „[denn] er ist wie du“ würde ein einschränkendes „wenn er ist wie du“. Die frühjüdische Tradition kennt jedenfalls auch die Aufforderung, „alle Söhne des Lichts zu lieben, […] aber alle Söhne der Finsternis zu hassen“ (1QS 1,9f.). Dahinter steht die Überzeugung, dass Gott für das Gute und gegen das Böse eintritt (Söding, 1995, 618).

Lev 19,18 wirft eine weitere Frage auf: Kann man Liebe gebieten, verordnen? Sofern wir unter Liebe eine intime, gefühlsintensive Beziehung zwischen zwei Menschen verstehen, müssen wir diese Frage verneinen (Mühling, 2012, 125-130). Das Gebot der Nächstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26). Liebe hat hier eine stärker formalisierte Struktur. Es geht darum, ein (soziales) Umfeld zu schaffen, das der umfassenden (nicht nur emotionalen) Bedürftigkeit der Menschen gerecht wird. Insofern kann das Alte Testament „Sozialgesetzgebung“ und „Liebe“ zusammen denken.

2.2. Das Doppelgebot der Liebe (Lk 10,27) und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-37)

In einem Streitgespräch zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten über die Frage, wie das ewige Leben zu erlangen sei, zitiert der Schriftgelehrte das Doppelgebot der Liebe (Lk 10,27), zusammengesetzt aus Dtn 6,5 und Lev 19,18. Der Gottesbezug ist – wie gesehen – bereits in Lev 19,18 gegeben. In Lk 10,27 wird die Verbindung von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe programmatisch. Allerdings gilt schon für das Frühjudentum: „Die Kombination der beiden Liebesgebote zum so genannten ‚Doppelgebot der Liebe‘ ist im Judentum nicht unbekannt (vgl. TestIss 5,2; TestBen 3,1-3 u.ö.), also kein ‚neues Gebot‘ Jesu (so Joh 13,34)“ (Zimmermann, 2007, 542). Das Doppelgebot ist dann auch zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten unumstritten (Theißen, 2003, 58). Anlass zum Gleichnis gibt die weiterführende Frage: „Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk 10,29). Hält man sich die innerjüdische Diskussion um diese Frage vor Augen (nur der Mit-Israelit? auch der Fremde? jede/r? auch der Feind? Siehe oben), ist diese Frage durchaus berechtigt (Söding, 2015, 133). Als Antwort erzählt Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Es gilt als neutestamentliches „Urbild“ des Nächstenliebegebotes. Nächstenliebe äußert sich hier als Nothilfe, als Hilfe für einen Verletzten. Und: Gerade der (ungeliebte) Fremde (Samariter; Joh 4,9) erweist sich als mein Nächster. Wir haben gesehen, dass das Gebot der Nächstenliebe im alttestamentlich-frühjüdischen Kontext auch dem Fremden und vielleicht sogar dem Feind gelten konnte (s.o.). Diesen Aspekt pointiert das Gleichnis, indem es einen – bei den galiläischen Juden unbeliebten – Samariter als positives Vorbild, als Nächsten, auftreten lässt. Der Priester und der Levit hingegen bilden die Negativfolie. Sie gehen vorüber.

2.3. Das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,43f.)

In der fünften der sogenannten Antithesen heißt es: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‘ Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,43f.).

Wie verhält sich hier die (alttestamentlich-jüdische) These zur (neutestamentlichen) Antithese? Die Aufforderung, die Feinde zu hassen, geht über Lev 19,18 hinaus. Sucht man nach inhaltlichen Parallelen im Alten Testament, könnte man Belege aus dem Alten Testament heranziehen, „die zur Ausrottung der Feinde Israels aufrufen (Dtn 7,1f.; 20,17; Ps 137,7-9) oder vom Hass der Frommen auf die Bösen und Gottlosen sprechen (Ps 26,5; 101,3; 139,19-22)“ (Klaiber, 2015, 114). Vielleicht liegt Mt 5,43 eine frühjüdische Tradition zu Grunde, die Lev 19,18 im Sinne des einschränkenden „wenn er ist wie du“ (s.o.) verstand (so Hofius, 1991). Jedenfalls referiert die These eine sehr restriktive Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe. Die Antithese setzt eine extrem weite Auslegung dagegen, wie sie ebenfalls bereits in Lev 19,18 angelegt ist. Die fünfte Antithese kontrastiert also bereits bestehende alttestamentlich-frühjüdische Traditionen (Wengst, 2015). Die Betonung der Feindesliebe sticht in Mt 5,44 allerdings hervor. Ihre theologische Begründung liegt nicht in der Exodustradition, sondern in der Schöpfungstheologie: Gott lässt die Sonne aufgehen über Böse und Gute (Mt 5,45). Das heißt:

„Die Feindesliebe ist im alttestamentlich-jüdischen Zusammenhang kein Fremdkörper, sondern eine Konsequenz der Ethik. Gleichwohl ist die Charakteristik des Neuen Testaments unübersehbar. Die Programmatik der Feindesliebe ist ein Proprium urchristlicher Ethik“ (Söding, 2015, 347; Hervorhebung H.R.).

Wie steht es um die Erfüllbarkeit des Gebotes der Feindesliebe? Kirche und Wissenschaft arbeiten sich seit vielen Jahren an dieser Frage ab. Drei Auslegungslinien lassen sich unterscheiden (Roose, 2009, 98-100): Eine erste Linie, die in der Tradition Luthers steht, deutet das Gebot „kontrafaktisch-epistemisch“ (Mühling, 2012, 124): Es fordert, den Nächsten (und damit auch den Feind) „mit der Stärke und umfassenden Qualität desjenigen Bemühens zu lieben, mit dem man sich als sündiger Mensch fälschlich [!] um sich selbst kümmert“ (a.a.O.). Diese Interpretation bewertet die Selbstliebe negativ. Sie ist Ausdruck der Sündhaftigkeit des Menschen. Eine zweite Auslegungslinie begrenzt das Gebot auf einen bestimmten Personenkreis (Mönche) oder eine bestimmte, kurze Zeitspanne (Interimsethik). Eine dritte Auslegungslinie verweist auf den „Immanuel“ (Mt 1,23), der uns in unserem Bemühen unterstützend begleitet (Luz, 1993).

2.4. Das Gebot der Geschwisterliebe (Joh 13,34f.)

Eine Einschränkung erfährt das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe schon innerhalb des Neuen Testaments, und zwar in der johanneischen Literatur:

„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,34f.).

Das Liebesgebot ist auf die Gemeindemitglieder beschränkt (Konventikelethik), aus Fremden- oder Feindesliebe ist Bruderliebe bzw. Geschwisterliebe geworden. Die Funktion dieser Beschränkung lässt sich soziologisch beschreiben: Sie diene der Abschottung der johanneischen Gemeinschaft nach außen und der Stärkung der Bindung zwischen den Gemeindemitgliedern (Becker, 1995). Die Beschränkung lässt sich aber auch theologisch begründen:

Die Nächstenliebe „muss sich dort bewähren, wo Gott Verbindungen geschaffen hat. […] Die primäre Bezugsgröße der Nächstenliebe ist nicht mehr das Gottesvolk Israel, sondern die Gemeinschaft der Jünger Jesu […] Das Liebesgebot spiegelt und vertieft die Nähe, die durch den Glauben an Jesus entsteht und ausstrahlt (Joh 13,35)“ (Söding, 2015, 194).

Die johanneische Ethik lässt sich in systematisch-theologischer Perspektive allerdings auch als Steigerung verstehen:

„Das johanneische Geschwisterliebegebot meint keine Konventikelethik, nach der nur die Freunde im Unterschied zu den anderen Menschen zu lieben seien, sondern es beschreibt den […] Zustand, in dem sich alle Menschen als in filialer Liebesbeziehung zu Gott – d.h. als Kinder Gottes – verstehen und darum untereinander als Geschwister ansehen“ (Mühling, 2012, 136).

2.5. Caritas und Diakonie als kirchliche Umsetzung des Gebots der Nächstenliebe

Caritas und Diakonie als „tätige Nächstenliebe“ verstehen sich als die kirchliche Umsetzung des biblischen Gebots der Nächstenliebe (Diakonie Deutschland). Beide sehen sich unter anderem in der Tradition des Samariters aus Lk 10. In dieser Tradition verweist Wolfang Huber auf die Notwendigkeit professioneller und finanzieller Ressourcen im Rahmen kirchlich organisierter Nächstenliebe:

„Wir haben es uns angewöhnt, auf die Figuren des Leviten und des Priesters im Gleichnis herabzublicken. Aber – das möchte ich hier besonders betonen – der Samariter ist der einzige, der darauf vorbereitet ist, professionell zu helfen. Er hat das dafür Notwendige: Öl und Wein, um die Wunde zu versorgen, ein Tier, um den Verletzten zu transportieren, Geld, um die weitere Fürsorge für ihn zu bezahlen. Professionalität und Nächstenliebe sind keine Alternative! Sondern genau ihre Kombination macht die besondere Prägung, das ‚Alleinstellungsmerkmal‘ der Diakonie aus. [...]

In den diakonischen Gremien jedenfalls, in denen ich mitarbeiten darf, fällt in letzter Zeit mindestens so häufig das Wort ‚Finanzdruck‘ wie das Wort ‚Nächstenliebe‘. Dem muss man sich, so glaube ich, stellen: nicht in dem Sinn, dass die Nächstenliebe dem Finanzdruck geopfert wird – aber doch so, dass wir uns redlich Rechenschaft darüber ablegen, was es bedeutet, unter enger werdenden finanziellen Bedingungen für die Verpflichtung auf die Nächstenliebe einzustehen“ (Huber, 2005, ohne Seite).

2.6. Die Gesetzgebung zu unterlassener Hilfeleistung als strafrechtliche Umsetzung des Gebots der Nächstenliebe

Im Strafgesetzbuch heißt es:

§ 323c Unterlassene Hilfeleistung

„Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“

Diese Gesetzgebung steht in der Tradition des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Interessant ist, wie die Pflicht zur Hilfeleistung begrenzt wird: Sie muss zumutbar sein und darf den Helfenden nicht in erhebliche eigene Gefahr bringen. Von hier aus könnte man Rückfragen an den biblischen Text stellen: Hätten Priester und Levit sich beim Helfen in erhebliche eigene Gefahr gebracht, z.B. diejenige, möglicherweise selbst überfallen zu werden?

3. Didaktische Perspektiven für Schule und Kirche

3.1. Das Gebot der Nächstenliebe zwischen Moralerziehung und ethischer Bildung

Das Gebot der Nächstenliebe ist biblisch verankert. Didaktisch ist bei seiner unterrichtlichen Behandlung zunächst grundsätzlich zu fragen: Welche Funktion können ethisch geprägte, biblische Texte im Zusammenhang von (schulischem und kirchlichem) Religionsunterricht haben? Dienen sie – zumal in der Grundschule – (allein) der Moralerziehung? Geht es also darum, dass die Kinder und Jugendlichen idealerweise die biblischen Gebote – hier dann also dasjenige der Nächstenliebe bzw. der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe – in ihrem Leben befolgen? Oder geht es (auch) darum, dass sie die Praxisregeln kritisch reflektieren und sich damit ethisch bilden? H. Mendl plädiert für einen engen Zusammenhang von Moralerziehung und ethischer Bildung (Mendl/Reis, 2013, 13). Ethische Bildung setzt dabei „eine gewisse Distanz zu den in Frage stehenden Normen voraus, um eine selbstbestimmte Reflexion zu ermöglichen“ (Roose, 2013b, 50). Im Sinne ethischer Bildung ist also bei der unterrichtlichen Behandlung der Nächstenliebe zu fragen: Was lässt sich begründet gegen das Gebot der Nächstenliebe ins Feld führen, so dass eine kritische Distanz aufgebaut werden kann? Söding referiert einen psychologischen, einen politischen und einen theologischen Vorbehalt (2015, 20-27).

Der psychologische Vorbehalt sieht im Gebot der Nächsten- und insbesondere der Feindesliebe eine Überforderung, aber auch Konfliktscheue (Friedrich Nietzsche). Unterdrückte Aggressionen brächen irgendwann umso unkontrollierter hervor (Sigmund Freud). Der politische Vorbehalt stellt das Gebot der Nächstenliebe unter den Verdacht der Vertröstung auf das (vermeintliche) Eschaton (Karl Marx) und des weltfremden Idealismus (Max Weber). Diese Skepsis klingt auch in den eingangs zitierten Schülerinnen- und Schüleräußerungen an. Dahinter steht unter anderem die Frage, ob es sich bei dem Gebot der Nächstenliebe um eine reine Gesinnungsethik handelt, der eine Verantwortungsethik zumindest an die Seite zu stellen wäre, um Realitätsnähe herzustellen. Der theologische Vorbehalt sieht seinerseits einen Konflikt zwischen Nächstenliebe und Gerechtigkeit (Fjodor Dostojewski). Er sieht auch die Pflicht, dem Bösen zu widerstehen (Jacob Neusner):

„Es ist eine religiöse Pflicht, dem Bösen Widerstand zu leisten, für das Gute zu streiten, Gott zu lieben und die zu bekämpfen, die sich zu Feinden Gottes machen“ (Neusner, 2008, 43).

Wie kann christliche Theologie diesen Vorbehalten begegnen? Didaktisch ist zunächst wichtig: Sie liefert nicht eine Antwort, sondern mehrere, die sich zum Teil widersprechen. Christliche Theologie nimmt den psychologischen Vorbehalt dort auf, wo sie die Selbstliebe thematisiert. Sie tut dies einerseits positiv (Selbstliebe als Bedingung für Nächstenliebe), andererseits negativ (Selbstliebe als Merkmal des Sünder-Seins). Christliche Theologie nimmt den politischen Vorbehalt dort auf, wo sie die Funktion des Gebots der Nächstenliebe thematisiert: Durchbricht das Gebot der Feindesliebe die Gewaltspirale (und ist insofern realistisch) oder will es dem Menschen gerade dadurch, dass es in der Wirklichkeit nicht umsetzbar ist, seine Erlösungsbedürftigkeit vor Augen führen? Den theologischen Vorbehalt thematisiert christliche Theologie unter den Aspekten des Gerichts einerseits sowie der Gnade und Rechtfertigung andererseits. Hinter der – auch neutestamentlich verbreiteten – Vorstellung eines Gerichts mit doppeltem Ausgang (Mt 25 u.ö.) verbirgt sich die Auffassung, dass Gott dem Bösen widersteht, indem er es ins Verderben stürzt und vernichtet. Dem steht die Vorstellung gegenüber, dass Gott das Böse verwandelt und durch das Gute besiegt (Röm 12,21).

Gerade diese Vielfalt ermöglicht ethische Bildung im Sinn kritischer Reflexion.

3.2. Begrenzungen

Eine theologisch und didaktisch gebotene Begrenzung erfährt diese Vielfalt in antijudaistisch geprägten Deutungen:

„Weder ist das Judentum die Religion, die nur den Nächsten, nicht aber den Feind zu lieben lehrt, noch ist das Christentum die Religion des Egoismus, die den Nächsten nur nach Maßgabe des eigenen Selbst wahrzunehmen erlaubt“ (Schüle, 2001, 534).

Dieses Zitat ist ein Reflex auf jüdisch-christliche Auseinandersetzungen, die von gegenseitigen Vorwürfen geprägt waren. Aufgrund historischer und didaktischer Gründe denke ich, dass sich der Vorwurf an das Christentum, eine „Religion des Egoismus“ zu sein, im christlichen (!) Religionsunterricht offen diskutieren lässt. Lehrkräfte sollten jedoch für antijudaistische Tendenzen sensibilisiert sein.

Dazu gehört zum einen der Vorwurf eines Partikularismus. Eine holzschnittartige Gegenüberstellung von Judentum als einer Religion, die nur Juden liebe und alle anderen hasse, und Christentum als einer Religion, die alle – einschließlich der Feinde – liebe, ist exegetisch nicht korrekt und didaktisch hochproblematisch. Sowohl das Alte Testament (Lev 19,18 u.ö.) als auch das Neue Testament (Joh 13,34-35) kennen eine Fokussierung auf die „eigenen Leute“. Vielleicht ist diese Fokussierung sachlogisch sogar zwangsläufig:

„Die Agape [Liebe] richtet sich nicht auf Sachen, sondern auf Menschen. Sie kann nicht allen Menschen zugleich gelten (das kann nur die Liebe Gottes), sondern muss sich auf diejenigen richten, die einem nahestehen oder nahegehen sollen, auch wenn sie einem zu nahe treten“ (Söding, 2015, 343f.).

Antijudaistische Tendenzen zeigen sich auch dort, wo das Vorübergehen von Priester und Levit in Lk 10 mit jüdischen Reinheitsgeboten (die Kontakt mit Toten verbieten) begründet wird. Denn so wird das Gebot der Nächstenliebe als rein christliches reklamiert, dem die jüdischen Reinheitsvorschriften geradezu widersprechen würden (Roose, 2013a, 72). Demgegenüber ist festzuhalten, dass das Gebot der Nächstenliebe alttestamentlich fest verwurzelt ist.

3.3. Impulse für die Praxis

Das Gebot der Nächstenliebe wird überwiegend in drei Themen- und Praxisfeldern behandelt:

  1. 1.In der Grundschule anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter.
  2. 2.In den Klassen 7/8 im Zusammenhang mit dem Thema von Caritas bzw. Diakonie.
  3. 3.In den Klassen 9/10 anhand der Bergpredigt, insbesondere mit Blick auf das Gebot der Feindesliebe.

3.3.1. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in der Grundschule

In der Grundschule wird das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oftmals überwiegend im Sinne einer Moralerziehung thematisiert. Es geht dann darum, dass wir einander helfen sollen – wie es vielleicht auch in den Klassenregeln festgehalten wird (Roose, 2013b, 350f.). Der Samariter wird zum – unhinterfragten – Vorbild „guten“ Handelns. Aber:

„Die in der Religionspädagogik oftmals mitlaufende Annahme, dass Kinder ethisch lernen, indem Lehrkräfte ihnen im Religionsunterricht gezielt (biblische) Vorbilder präsentieren, ist zumindest ergänzungsbedürftig“ (Roose, 2013a, 65).

Anders verfährt Hans-Jürgen Herrmann in seinem Artikel „Nächstenliebe“ im Handbuch „Theologisieren mit Kindern“. Er analysiert eine Unterrichtssequenz zum verlorenen Schaf in einer 4. Klasse und betont vor allem die Elemente emotionalen Lernens: „Hier wird zunächst deutlich, wie biblische Geschichten das Herz von Kindern erreichen, ja erfüllen können, ihnen sogar wie bei Lucie und Marc ein Identifikationsangebot vermitteln, etwa ein anderes Elternbild, ein anderes Beziehungsmodell, das einer angstfreien Liebe“ (2014, 377). Hier ist Nächstenliebe primär über das emotionale Gefühl der Liebe thematisiert. Theologisch entsteht dadurch die Frage, inwiefern eine solche Liebe Gegenstand eines Gebotes sein kann (siehe oben).

Zum Gegenstand ethischer Bildung wird das Gleichnis dort, wo es – offen – reflektiert wird (Roose, 2013a, 63-65). In den Lehrermaterialien zu „Spuren lesen. Religionsbuch für das 1./2. Schuljahr“ wird vorgeschlagen, mit den Kindern ein Gespräch zu der Frage zu führen, „warum er [der Priester] nicht hilft“ (Freudenberger-Lötz, 2010, 54). Die Frage eröffnet den Kindern insofern echte Denkspielräume, als bei ihnen mit antijudaistischen Ressentiments kaum zu rechnen ist. Solche Räume könnten auch über kleine Veränderungen in der Erzählung eröffnet werden: Was hätte der Samariter tun sollen, wenn er kein Geld oder kein Lasttier gehabt hätte? Was hätte er tun sollen, wenn 50 Verletzte am Straßenrand gelegen hätten? Aus der (eindeutigen) Beispielerzählung wird so mehr und mehr eine (offene) Dilemmageschichte.

In den höheren Grundschulklassen kann außerdem die Frage der Gottesliebe thematisiert werden. Das Gleichnis steht ja im Kontext des Doppelgebots der Liebe. Was könnte es heißen, Gott zu lieben? Müssen auch Menschen, die nicht an Gott glauben, helfen? Warum?

3.3.2. Caritas und Diakonie in den Klassenstufen 7/8

Mit den kirchlichen Organisationen von Caritas und Diakonie ist die ekklesiologische und damit zugleich die gesellschaftliche Dimension der Nächstenliebe angesprochen. Das Thema wird in der Regel in den Klassenstufen 7/8 verhandelt. Im katholischen Religionsbuch „Mitten unter euch“ steht das Thema unter der Überschrift „Wenn Kirche teilt“. Ein Arbeitsauftrag lautet:

„Schneidet das Caritaskreuz so groß aus, dass es eine Wand in eurem Klassenzimmer füllt! Tragt dann die Einrichtungen ein, die ihr in eurer Gemeinde vorfindet! Ihr könnt auch Punkte auf das Caritaszeichen kleben, die deutlich machen, worin euer persönlicher Beitrag zur Caritas besteht (keine Geldspenden!)“ (Baur/Fischer/Wegmann, 2005, 121).

Die Schülerinnen und Schüler werden als Mitglieder der katholischen Kirche angesprochen. Dass sie einen persönlichen Beitrag zur Caritas leisten (wollen), wird vorausgesetzt. Die Bemerkung in Klammern macht deutlich, dass die Grenzziehung zwischen dem, was Schule (pädagogisch) fordern darf und dem, was sie nicht fordern darf, gerade bei dem Thema Caritas/Diakonie nicht immer leicht zu ziehen ist. Je stärker subjektive und objektive Religion auseinanderdriften, desto sensibler wird diese Frage. Hans Mendl thematisiert sie grundsätzlich unter der Perspektive eines performativen Religionsunterrichts:

„Eine heikle Frage ist, wie mit Schülerinnen und Schülern zu verfahren ist, die sich weigern, am (Compassion-)Projekt teilzunehmen, vielleicht sogar mit Unterstützung ihrer Eltern. Kann man Menschen gegen ihren Willen zum sozialen Handeln zwingen? Das berührt noch einmal die grundsätzliche Frage, wieweit man zum performativen Handeln genötigt werden kann“ (Mendl, 2008, 301).

Mendls Antwort geht in die Richtung, dass dort, wo sich Schülerinnen und Schüler der Moralerziehung verweigern, die Chance zur ethischen Bildung entsteht:

„Unter diskursethischen Gesichtspunkten stellen Schülerinnen und Schüler, die sich einem solchen Projekt querstellen, sogar eine Chance dar, weil sie – eventuell auch in der Schülergruppe – zur begründeten Auseinandersetzung über Notwendigkeit, Gewinn und die Bewertung von Widerständen beim sozialen Handeln anregen“ (Mendl, 2008, 302).

3.3.3. Das Gebot der Feindesliebe in den Klassenstufen 9/10

In der Regel ist in den Klassenstufen 9/10 die Bergpredigt als Thema vorgesehen. Die Antithesen sind dabei auch unterrichtlich ein fester Bestandteil. Das Gebot der Feindesliebe wird zum Prüfstein für die Realitätsnähe oder – ferne der ganzen Rede (siehe oben).

Im katholischen Schulbuch „Religion vernetzt“ (Klasse 10) steht die Bergpredigt unter der Überschrift: „Jesus fordert heraus“ (Mendl/Schiefer Ferrari, 2012, 66). Dort heißt es:

„Die Radikalität seiner Forderungen macht eine Beurteilung allerdings schwierig. Sind sie nur eine Art ‚Eliteethik‘ für einen kleinen Kreis von Jüngern, einen ‚harten Kern‘ sozusagen? Wollte Jesus nur eine utopisch-illusorische Idealethik vorstellen? Oder handelt es sich doch vielmehr um eine produktive Vision, die den Christen in der Nachfolge Jesu über sich hinausführen will, indem sie zu einem ganz entschiedenen Christsein auffordert und verdeutlicht, dass Gott den Menschen bis in sein Innerstes hinein beansprucht?“ (ebd.).

Die exegetische Diskussion um die Erfüllbarkeit der Bergpredigt ist hier didaktisch produktiv aufgenommen – allerdings legt die Art der Formulierung die Vermutung nahe, dass die Verfasser für die zuletzt genannte Deutung votieren. Die Doppelseite zur Bergpredigt ist Teil eines Kapitels zu Jesus Christus, das mit unterschiedlichen Jesusbildern einsetzt und dann die Auferstehung – als „Osterbrille“ (ebd., 62f.) – thematisiert. Damit kommt die jesuanische Ethik – entgegen der intuitiven Auffassung vieler Jugendlicher (siehe oben) – nicht als die Ethik eines vorbildlichen Menschen, sondern als des auferstandenen Christus zur Sprache. Theologisch gesprochen wird die Ethik damit zu einer Weisung, die von der Soteriologie her kommt: Jesus fordert uns als unser Retter ethisch heraus, der Anspruch ruht auf einem Zuspruch und einer eschatologischen Verheißung. Die Frage der Erfüllbarkeit und der Realitätsnähe wird damit christologisch und soteriologisch eingebettet.

Ein anderer Weg besteht darin, die Frage der Realitätsnähe lebensweltlich zu thematisieren. Ein „Paradebeispiel“ ist in diesem Zusammenhang sicher die Person Mahatma Gandhis. Didaktisch besteht bei diesem Ansatz die Gefahr darin, den Schülerinnen und Schülern die Erfüllbarkeit der Bergpredigt über große Vorbilder „andemonstrieren“ zu wollen, ohne genügend Raum für kritische Auseinandersetzung bereit zu stellen. Ethische Bildung wird bei diesem Ansatz z.B. dort möglich, wo Grenzen und Brüche aufscheinen. So stellt das evangelische Religionsbuch „Spuren lesen 9/10“ Dietrich Bonhoeffers Haltung angesichts zunehmender Verbrechen des NS-Regimes vor:

„Immer wieder taucht die Frage auf, ob das Sich-Heraushalten aus politischen Konflikten nicht eine größere Schuld sei als das Sicheinlassen auf politisches Handeln, das im Konfliktfall nicht frei von Schuld sein kann. Nachfolge Jesu, so stellt er [Bonhoeffer] fest, kann auch heißen: aus Nächstenliebe schuldig werden“ (R. Wind, zitiert nach Büttner u.a., 2010, 67).

Die Handlungsoptionen sind damit nicht mehr eindeutig als „richtig“ und „falsch“, als „gut“ oder „böse“ konnotiert, sondern in eine Dilemmasituation eingespannt, die ethische Reflexion ermöglicht.

4. Forschungsdesiderate und offene Fragen

Nächstenliebe hat angesichts der Flüchtlingsfrage an Aktualität gewonnen – sowohl im politischen als auch im privaten Bereich. Die Frage nach legitimen Grenzen der Nächstenliebe angesichts begrenzter finanzieller (und sozialer?) Ressourcen wird hoch kontrovers diskutiert. Dabei ist schon umstritten, wie die vorhandenen Ressourcen einzuschätzen sind und wo demnach die Grenzen der Belastbarkeit überhaupt liegen. Christliche Nächstenliebe muss sich in einem Spannungsfeld bewähren, das keine einfachen Antworten zulässt.

Angesichts eines zunehmenden muslimischen Bevölkerungsanteils in Deutschland stellt sich außerdem die Frage, welchen Stellenwert Nächstenliebe im Islam hat und wie sie sich zum jüdisch-christlichen Konzept verhält. Die beiden Zitate zeigen exemplarisch, dass man hier einerseits von der Gemeinsamkeit, andererseits von der Differenz her denken kann:

„Im Islam gibt es für die Nächstenliebe zwar keinen eigenen Begriff, aber sie existiert trotzdem. ‚Jener Mensch ist gerecht, der für die anderen Menschen so viel Liebe aufbringt, wie viel er sich ihrer für sich selbst ersehnt.‘ Das hat Mohammed gesagt. Es ist eine Aufforderung zur Liebe am Nächsten. Aber wie genau sieht diese Liebe im Islam aus? Wer sind die anderen Menschen? In der konservativen Theologie des Islam gilt nicht jedem Menschen die gleiche Liebe und Solidarität. Es kommt darauf an, ob er Muslim, Christ, Jude oder ungläubig ist. Doch generell gilt im Islam: Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes und gehören damit zusammen“ (Blanken, 2010, o.S.).

„Dem Islam ist der Begriff der Nächstenliebe in seiner christlichen Deutung fremd. In ihm stehen Recht und Gerechtigkeit vor Mildtätigkeit und erwiesener Liebesbezeugung“ (Ficicchia, o.J., o.S.).

Schule und Religionsunterricht müssen unter anderem angesichts zunehmender Zahlen von (muslimischen) Flüchtlingskindern in Schulklassen entscheiden,

  • inwiefern Nächstenliebe Teil der Schulkultur sein soll und insofern zum Bestandteil einer konfessionsübergreifenden Moralerziehung gemacht wird,
  • inwiefern Nächstenliebe in ihrer jüdisch-christlichen (und muslimischen?) Prägung zum Gegenstand ethischer Bildung im Religionsunterricht werden kann.

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