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Nacht (AT)

(erstellt: November 2008)

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Nachtwache; → Tag

1. Sprachlicher Befund

1) Belege. lajil / lajlāh „Nacht“ ist insgesamt 225-mal (davon 215-mal im Sing.) durch die hebräische Langform lajlāh und 7-mal durch die Kurzform lajil bzw. lêl belegt, v.a. in Erzähltexten, Psalmen, Hiob sowie Jesaja und Jeremia. Aramäisch lêlê findet sich 5-mal im Danielbuch.

2) Semantik. In Entsprechung zum Lichttag (→ Tag) bezeichnet hebräisch lajil / lajlāh bzw. aram. lêlê die Zeitspanne zwischen der Abenddämmerung und dem Morgengrauen. „Finsternis“ ist das semantische Merkmal der Nacht (Stiglmair, 553). Darauf beruht der metaphorische Gebrauch als Unglück, Unheil und Unwissenheit (Hi 17,12). Eine Nacht ohne visionäre Schau ist „Nacht“ im metaphorischen Sinn (Mi 3,6; Stiglmair, 553). Der Wechsel von Licht und Dunkelheit bewirkt die Dauer der Zeit. In diesem Sinn tritt die Nacht neben dem Tag personifiziert – jedoch nicht als Gottheit – auf und „sagt“ das Lob des Schöpfers ihrer „Gefährtin“, der nächsten Nacht „weiter“ (Ps 19,3; Stiglmair, ebenda). lajlāh ist 52-mal integratives Element im Merismus jôm wālajlāh „Tag und Nacht“.

Eine Zeitspanne wird durch Hinzufügung von Zahlen (z.B. „3 Tage und 3 Nächte“ 1Sam 30,12; Jon 2,1 oder „7 Tage und 7 Nächte“ Hi 2,13 und am häufigsten „40 Tage und 40 Nächte“ Gen 7,4; Gen 7,12; Ex 24,18; Ex 34,28; Dtn 9,9; Dtn 9,11; Dtn 9,18; Dtn 9,25; Dtn 10,10; 1Kön 19,8) oder durch die Verbindung mit kol „alle“ (Ex 10,13; Num 11,32; 1Sam 19,24; 1Sam 28,20; Jes 62,6) ausgedrückt (Stiglmair, 555). Der Aspekt der Dauer kommt auch in parallelen Aussagen zum Ausdruck wie z.B. 2Sam 21,10; Ps 88,2.

Im aramäischen Staatsvertrag von → Sfire (8. Jh. v. Chr.) tauchen jwm „Tag“ und ljlh „Nacht“ als Paar in der Liste göttlicher Schwurzeugen auf (KAI 222 A 12).

Zur Wortfamilie gehört auch das Substantiv lîlît. Zur rabbinischen Überlieferung einer Personifikation der Nacht → Lilit.

In der → Qumranliteratur finden sich keine neuen Verwendungsaspekte gegenüber der Hebräischen Bibel. Der Merismus jôm wālajlāh „Tag und Nacht“ ist mehrfach belegt (1QS 6,6; 1QH 8,29; 10,15; TR 57,10).

2. Die Ambivalenz der Nacht

2.1. Gefahren und Chancen der Nacht

Ruhe und Unruhe. Die Nacht ist die Zeit der Ruhe von der Arbeit (Rut 3,13). Arbeitet jemand dennoch nachts, ist dies Zeichen besonderen Fleißes (Spr 31,15; Spr 31,18); kommt jemand aber vor Sorge um seinen Besitz nicht zur Ruhe, ist dies alarmierend (Pred 2,23). Wenn jemand nicht schlafen kann, ist die Nacht eine Zeit der Qual, z.B. angesichts von Krankheit (Hi 30,17) oder Fremdherrschaft (Jes 21,11f).

Praktische Gefahren und Chancen. Nachts lauern größere Gefahren als bei Tage, weil die sinnliche Wahrnehmung des Sehens herabgesetzt ist. So wird all das nachts getan, was nicht bemerkt werden darf. Aber genau dies kann man sich auch zunutze machen. Nachts erfolgt z.B. der Angriff auf → Asarhaddons Belagerungswall (Borger, Asarhaddon 104 ii 1ff; Hunger 2001, 45). Umgekehrt sind Wachen notwendig (Neh 4,16; Jdt 7,5). Für die eigenen militärischen Aktionen wie den Angriff, den Hinterhalt, das heimliche Umstellen einer Stadt, aber auch die Flucht, bietet die Nachtzeit die beste Chance (Gen 14,15; 2Sam 17,1; 2Kön 8,21). Die Nacht ist die Zeit allgemein verurteilter, böser Taten wie Mord (Ri 20,5 u.ö.), Diebstahl (Jer 49,9 u.ö.), Schändung (Ri 19,25) und Betrug (1Kön 3,20). Die Nacht ist die Zeit der Sexualität und der Liebe (vgl. Gen 19,33-35; Hi 3,3; Hi 3,6f; Rut 1,12; Hhld 3,1; Hhld 5,2; Tob 6,16 [nicht in Lutherbibel]), aber auch der Verführung naiver junger Männer durch die „fremde Frau“ (Spr 7,6-23). Die Nacht ist die Zeit der Handlungen, die man selbst am Tage nicht zu tun wagt, sowohl der positiv bewerteten, z.B. schlägt Gideon den Kultpfahl seines Vaters um und zerstört den Baalsaltar (vgl. Ri 6,27), als auch der negativ konnotierten wie die Nekromantie in 1Sam 28,7-25.

Lob und Klage. Die Nacht ist die Zeit des Lobpreises und der Klage im Gebet sowie des Nachdenkens des Einzelnen, aber auch der Gemeinde, wobei nächtliche Feiern (außer dem Passa) nicht explizit belegt sind (vgl. Num 14,1; Klgl 1,2; Ps 77,7; Ps 119,55; Ps 119,62; Jdt 6,21 [Lutherbibel: Jdt 6,20]; Jdt 11,17; Jes 26,9; in Qumran 1QS 6,7; 1QS 10,10; 1QM 14,13).

Schlaf und Traum. Die Nacht ist die Zeit des Schlafes (→ Schlaf) und mithin des → Traumes. In diesem Zusammenhang bestimmt lajlāh „Nacht“ den allgemeinen Begriff „Offenbarung“ (Wurzel chzh) näher als „nächtliche Offenbarung“ (chazôn / chæzjôn lajlāh) – dieser Terminus meint den überprüften, gültigen Offenbarungstraum, während der allgemeine hebräische Ausdruck chălôm „Traum“ alle möglichen, auch die ungeprüften Träume umfasst.

2.2. Bedrohendes Chaos und bedrohte Weltordnung

Positive und negative Kräfte in der Nacht. Die Beobachtung der Gestirne ist nur in der Nacht möglich (Hunger 1988, 15f). Die Nacht gehört zwar zur Schöpfung, bleibt aber bevorzugter Bereich widergöttlicher und menschenfeindlicher Kräfte, die die gute Weltordnung bedrohen (zur mesopotamischen Vorstellung vgl. CAD A/1, 302a zu alāku die Dämonen muttallik mūši; Hunger 2001, 45; zur ägyptischen Vorstellung vgl. → Pyramidentext 1437a; Hornung, 291; Kákosy, 1361; zur israelitischen Vorstellung vgl. pachad lajlāh „Schrecken der Nacht“ in Ex 12,12; Ex 12,29; Ps 91,5). Dieser Umstand kann durch die größere Wirkmacht nächtlicher Magie genutzt werden. Mesopotamisch gedacht sind nachts die Gestirnsgötter präsent, deren Kräfte dienstbar gemacht werden können (Falkenstein, 28f; Reiner, 133-143). In den nachexilisch redigierten biblischen Texten ist diese Vorstellung nicht mehr enthalten. Ein spezieller Topos ist die Vorstellung der Bedrohung der Braut in der Hochzeitsnacht durch den → DämonAschmodai Tob 3,8; Tob 3,17 (nicht in Lutherbibel); Tob 6,15ff; Tob 8,2f.

Die gezähmte Finsternis in Gen 1, Ps 104 u.a. biblischen Texten. In Gen 1 wird lediglich vom Licht ausgesagt, dass Gott es erschaffen habe und „gut“ (tôb) sei (Westermann, 157f). Die Finsternis ist ein widergöttliches Chaos, das nur durch die Abtrennung vom Licht (bdl „trennen / unterscheiden“) und die Benennung (qr’ „rufen / nennen“) als lajlāh „Nacht“ durch Gott gezähmt ist. Gen 1 versteht Licht und Dunkelheit nicht mehr als Ausdruck eigenständiger, schicksalswirkender göttlicher Mächte. Sonne, Mond und Sterne werden auf ihre Funktion als Zeitmesser depotenziert und der Zeit selbst subordiniert. Die Ordnung der Zeit ist der erste Schöpfungsakt, dem die Ordnung und Gestaltung des Lebensraumes folgt.

Die Vorstellung, dass der abgegrenzte Bereich der Dunkelheit als Herrschaftsraum von Lichtern im Sinne von Lichtwesen verstanden wurde (Mond und Sterne vgl. Ps 136,9), die auch den Menschen schaden könnten, schimmert noch in Ps 121,6 durch, wo dem Frommen JHWHs Schutz vor dem „Stechen“ der Sonne und des Mondes zugesagt wird (nkh hif. „stechen“; vgl. Stiglmair, 554). Von einem Herrschaftsraum der Finsternis kann man in Qumran sprechen (1QH 12,6f).

Die „Nacht“ als durch Gott gezähmte Macht dient dem Lob des Schöpfers im sprachlosen Bereich der Schöpfung (vgl. Ps 19,3). JHWH kann die Nacht erleuchten (Jer 31,35; Ps 105,39) und den Tag verfinstern (Am 5,8 und s.u. zum eschatologischen Gottestag bei Amos). Daher ist die Finsternis kein Versteck vor Gott (Ps 139,11f). Die „gezähmte Finsternis“ bietet Zeit und Raum für Lebewesen, die hier ihre Nahrung finden (Ps 104,20f). Die geschaffene Ordnung der Zeit kann als bərît „Bund“ Gottes bezeichnet werden (Gen 8,21f vgl. Jer 33,25). Gott schützt die Frommen vor den Gefahren der Nacht und ist nachts bei seinem Volk präsent (Ex 13,21 u.ö.).

Ein konsequent durchgehaltener Monotheismus, der eine schöpferische „Pankausalität“ Gottes denkt, in der der israelitische JHWH nicht nur Herr von Tagen und Nächten, sondern Schöpfer von Licht und Dunkelheit und mithin der Zeit überhaupt ist, findet sich erst bei Deuterojesaja (Jes 45,7), zudem noch in Jer 33,20; Ps 74,16f; Ps 139, 11f; Hi 2,10.

2.3. Identitätsstiftende Nächte der Befreiung

Die ätiologische Erzählung vom nächtlichen Kampf bis zur Morgenröte in → Pnuel (Gen 32,25-33) erklärt u.a. den Ehrennamen „Israel“ mit der Wurzel srh „kämpfen“. Die dämonische Macht wird in Segen verwandelt und somit für das Überleben, die eigene Existenz, dienstbar gemacht.

Die identitätsstiftende Tradition von der einen, besonderen „Nacht der Befreiung“ ist mit zwei Festtraditionen, Mazzot- und → Passafest, verbunden. Die überlieferungsgeschichtliche Wurzel der Nacht, in der der Verderber (mašchît) durch Ägypten geht, um mit Unheil zu schlagen (Ex 12,13), wird in der Passafeier gesehen. Der durch einen apotropäischen Blutritus von der Tötung abgehaltene Verderber konkretisiert so die Vorstellung von der Nacht als Zeit der Unheilsmächte und → Dämonen.

Meist wird angenommen, dass die Erinnerung an die letzte → Plage, die Tötung der Erstgeburt, zum Mazzotfest als Gabe der Erstlinge der Ernte an Gott gehört. Die Verbindung beider Traditionen bzw. die „Jahwisierung“ des Passa zur „Nacht der Tötung der Erstgeburt durch JHWH“ sei deuteronomistisch (Stiglmair, 560, mit weiterer Literatur). Zur Begründung wird u.a. auf die sekundären Passanotizen in Dtn 16,1-8 verwiesen.

Der mašchît wäre demnach also ursprünglich ein nächtlich wirksamer Dämon, der „Verderben“ bringt, so der Wortsinn „Verderber“ (vgl. auch 2Kön 23,13; Ez 5,16; Ez 9,6; Ez 21,36; Ez 25,15; Spr 18,9; Dan 10,8; 2Chr 20,23; 2Chr 22,4 – wobei nicht alle Belege eine Personifizierung von mašchît nahelegen). Im heute vorliegenden Text von Ex 12,13 ist es JHWH, der die dämonische Größe der Nacht dienstbar macht für das Überleben des Volkes. In dieser Nacht (ballajlāh hazzæh Ex 12,8; Ex 12,12 bzw. hû’ hallajlāh hazzæh Ex 12,42) wendet sich Gott wachend und schützend seinem Volk zu, so dass diese Nacht als „Nacht des Wachens“ (lêl šimmurîm Ex 12,42) gefeiert werden kann (→ Nachtwache).

Während der Morgenwache wird die Stadt Jerusalem gerettet (2Kön 19,35; Jes 37,36; → Nachtwache). Dieses Ereignis wurde als Rettungswunder interpretiert und könnte auch auf die Gestaltung der Schilfmeererzählung eingewirkt haben (Ex 14,24; Stiglmair, 559).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005

2. Weitere Literatur

  • Assmann, J., 1986, Art. Stundenwachen, Lexikon der Ägyptologie VI, 104-106
  • Borger, R., 1956, Die Inschriften Asarhaddons, Königs von Assyrien (Archiv für Orientforschung Beiheft 9) Graz
  • Donner, H., Röllig, W., 1964-1971, Kanaanäische und aramäische Inschriften I-III, Wiesbaden
  • Falkenstein, A., 1941, Topographie von Uruk, I: Uruk zur Seleukidenzeit, Leipzig
  • Hornung, E., 1982, Art. Nacht, Lexikon der Ägyptologie IV, Wiesbaden, 291f
  • Hunger, H., 2001, Art. Nacht, Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie 9, Berlin
  • Hunger, H., 1988, Astronomical Diaries and Related Texts from Babylonia I, Wien
  • Janowski, B., 1989, Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes am Morgen im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 59), Neukirchen-Vluyn
  • Kákosy, L., 1986, Art. Zeit, Lexikon der Ägyptologie VI, Wiesbaden, 1361-1371
  • Reiner, E., 1995, Astral Magic in Babylonia (Transactions of the American Philosophical Society 85,4), Winona Lake
  • Stiglmair, A., 1984, Art. lajil / lajlāh, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament IV, 552-562
  • Westermann, C., 1974, Genesis 1-11 (Biblischer Kommentar: Altes Testament 1,1) Neukirchen-Vluyn

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