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Muttergöttin

(erstellt: Dezember 2008)

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1. Muttergöttin – Funktion und Rollen

Im Alten Orient ist die Vorstellung der Gebärenden auf weibliche Gottheiten beschränkt, was keineswegs bedeutet, dass männliche Gottheiten nicht auch Göttersöhne oder Menschen erschaffen könnten. Entgegen verbreiteter, auch feministischer, Matriarchatsthesen gibt es nicht die Muttergöttin schlechthin, die später vom männlichen Gott verdrängt wurde, sondern zahlreiche verschiedene Ausprägungen mächtiger weiblicher Gottheiten (→ Göttin, 2.). Die Mutterrolle hebt die Potenzen von Generativität und Gewährung von Leben sowie von Nahrung und Schutz hervor. Als Muttergöttin können Göttinnen bezeichnet werden, deren Gebärfähigkeit im Vordergrund steht und die mit ihrem Säugling dargestellt werden. Die meisten dieser Göttinnen, die gelegentlich ohne spezifischen Namen auskommen, gehen aber nicht in der Rolle der Mutter auf, sondern haben weitere Funktionen. Ikonographisch wird die Mutterfunktion einer Darstellung oder Figurine nur bei Vorhandensein eines Kindes deutlich.

2. Muttergöttinnen im Alten Orient

2.1. Die Herrin und Mutter in Mesopotamien

In den sumerischen Stadtstaaten des 3. Jt.s v. Chr. wird eine mütterliche Göttin (ama / amma „Mutter“) ohne spezifischen Namen verehrt. Ihre unterschiedlichen Titel und Beinamen wie Ningal, Ninmach, Nintu „Herrin des Gebärens“ und Ninchursag „Herrin der Berge“ zeigen eine weite Verbreitung, aber auch große Unterschiede in ihrer Verehrung an. Im akkadischen Kontext trägt die Muttergöttin den Titel bēlit-ilī „Herrin der Götter“; das → Atrachasis-Epos nennt die an der Erschaffung der Menschen beteiligte Göttin, die den Mutterleib öffnet, Mami, Mama und Nintu (TUAT III, 625). Auch andere namentlich genannte assyrische Göttinnen wie → Ischtar, Gula und Nikkal können den Muttertitel tragen, ohne in der Rolle der Leben spendenden und bewahrenden Göttin aufzugehen.

In Texten der kanaanäischen Stadt → Ugarit trägt die Göttin → Aschera gelegentlich den Muttertitel (z.B. KTU 1.6 VI: 11, 15) und den Beinamen „Schöpferin der Götter“ (z.B. KTU 1.4 I: 23); sie hat aber auch viele andere Funktionen.

Darstellungen einer Frau bzw. Göttin mit Kind sind im Blick auf das gesamte Material von den Anfängen bis in die 2. Hälfte des 1. Jt.s v. Chr. selten. Der Uterus wird seit Beginn des 2. Jt.s in Form eines Ω-Zeichens abgebildet. Dieses Zeichen wird in Babylonien den Muttergöttinnen Ninchursag und Nintu zugeordnet. Es begegnet auch auf mittelbronzezeitlichen Siegelamuletten aus Südostanatolien (heutige Türkei) und Palästina, die wohl verstorbenen Kindern mitgegeben wurden (Keel / Schroer 2004, 31 und 59-61).

2.2. Die nährende Göttin in Ägypten

Muttergottin 1

In Ägypten ist neben → Nut und → Mut vor allem → Hathor in ihrer Erscheinung als Himmelskuh die herausragende Muttergöttin, bevor sie mit → Isis, der Mutter des → Horus, verschmilzt (→ Göttin, 2.3). Sie wird häufig als säugend dargestellt und steht zunächst für die Fruchtbarkeit der Herden.

In der levantinischen Elfenbeinkunst des 1. Jt.s v. Chr. wird die säugende Himmelskuh in den Motiven „Kuh und Kalb“ oder „säugende Capride“ (→ Ziege) aufgenommen (Keel / Uehlinger 1998, 166-174), die als Segensikonen die mütterlich-nährenden Aspekte einer Göttin darstellen.

Muttergottin 2

Im 1. Jt. v. Chr. verbreitet sich das anthropomorphe Bild der Göttin → Isis, die den Horusknaben stillt, ausgehend von Ägypten im ganzen Mittelmeerraum. Dem Mythos zufolge bewahrt Isis, die Schwester und zugleich Gattin des → Osiris, ihren mit Osiris nach dessen Tod gezeugten Sohn → Horus vor Schlangenbissen und → Skorpionen (→ Isis). In griechisch-römischer Zeit wird Isis als Leben gebende und Leben bewahrende Gottheit über die Grenzen des römischen Reiches hinaus verehrt. Die ihr gewidmeten Aretalogien (Lobeshymnen) identifizieren Isis mit anderen zeitgenössischen Göttinnen und preisen sie als die alles umfassende Gottheit. Die stillende Isis wird zur Mutterikone schlechthin und damit zu einem ikonographischen Vorbild für Maria mit dem Christuskind (vgl. Keel / Schroer 2004, 266-273).

2.3. Die Muttergöttin in Kleinasien

Muttergottin 4

Aus der zentralanatolischen jungsteinzeitlichen Siedlung Çatal-Höyük stammt eine Terrakottafigur einer gebärenden Frau mit dicken Schenkeln und großen Brüsten auf einem von Leoparden flankierten Thron (Abb. 3). Sie und eine sitzende dicke Terrakottafigur mit Kind aus Hacilar werden häufig als Muttergöttin und damit als Vorgängerin der phrygischen Muttergottheit (s.u. 3.1.) verstanden.

Die Deutung der neolithischen Funde (6500-4000 v. Chr.) von Çatal-Höyük und Hacilar ist umstritten. Für den Ausgräber James Mellaart und die Archäologin Marija Gimbutas dienen diese und weitere Frauenfigurinen sowie Wandreliefs als Beweise für ihre These einer in der Jungsteinzeit verbreiteten Verehrung der Muttergöttin und sogar einer matriarchalen Sozialstruktur in beiden Ackerbausiedlungen. Dagegen halten Othmar Keel und Silvia Schroer die Deutung aller jungsteinzeitlichen Frauenfigurinen als Muttergöttin für nicht hinreichend begründet (Keel / Schroer 2004, 17-19). Ian Hodder, der die neuen Ausgrabungen in Çatal-Höyük leitet, deutet die Frauenfigurinen als Hinweis auf eine stärker geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in späteren Phasen der Siedlung, wobei die Figurinen für die Rolle von Frauen in der spezialisierten häuslichen Produktion stehen (Hodder 2006, 208-214, 254-256).

Im 1. Jt. v. Chr. wird in Kleinasien eine Göttin namens Kybele verehrt, die wohl mit der in hethitischen und hurritischen Quellen des 2. Jt.s genannten Göttin Kubaba, der Stadtgöttin von → Karkemisch am Euphrat, gleichzusetzen ist. Bereits seit 1200 v. Chr. wird diese Göttin in Pessinus (Phrygien) durch einen heiligen Stein verkörpert. Einige Priester der Kybele, sog. galloi, sollen sich freiwillig kastriert haben; der Name gallos / galloi geht auf die nach Kleinasien eingewanderten Gallier zurück. In Pessinus hat der Kybelekult durch die Verbindung mit dem Dionysoskult einen ekstatisch-orgiastischen Charakter angenommen. Dem griechischen Geographen Strabo (ca. 63 v. Chr.-23 n. Chr.) zufolge regierte Kybeles Priesterschaft in Pessinus bis 183 v. Chr. (Strabo, Geographie 12,5,3).

Seit dem 6. Jh. v. Chr. ist in Phrygien eine Göttin namens meter „Mutter“ belegt, die meist thronend mit einem Löwen auf ihrem Schoß dargestellt wird. Ihre Verehrung breitete sich sukzessive bis an die Westküste Kleinasiens, ans Schwarze Meer und über Thrakien sowie die ägäischen Inseln nach Griechenland aus. Erst in späten Inschriften wird diese Muttergottheit als Kybele bezeichnet. In Griechenland wird sie mit den Muttergöttinnen Rhea und Demeter identifiziert.

2.4. Eine Muttergöttin im Alten Testament?

Während nirgends im Alten Testament eine Muttergöttin explizit genannt wird, vermuten manche Exegetinnen und Exegeten in der Darstellung Evas Reste der altorientalischen Tradition. Eva wird in Gen 3,20 „Mutter alles Lebendigen“ genannt und sagt in Gen 4,2 „ich habe einen Mann erworben / gebildet mit JHWH“. Die Schöpfungserzählung betont die weibliche Gebärfähigkeit als göttliche Potenz, ohne jedoch → Eva zu vergöttlichen. Vergleicht man die → Fluterzählung in Gen 6-9 mit altorientalischen Parallelen, so übernimmt JHWH sowohl die Rolle des Gottes, der die Vernichtung der Menschen beschließt (Enlil) als auch der Muttergöttin, die sich der Menschen erbarmt (Nintu). Wo der Gott Israels metaphorisch mit mütterlichen Zügen dargestellt wird, steht nicht das Gebären im Mittelpunkt, sondern Schutz und Erziehung Israels als Kind Gottes (Jes 66,13; Hos 11,3-4.8). Bei Geburtsvorgängen handelt JHWH dagegen häufiger als → Hebamme oder handwerklicher Bildner (Jes 66,9; Jer 1,5; Ps 22,10-11; Ps 139,13).

2.5. Die Erde als Mutter im Alten Orient und Alten Testament

Die Vorstellung der Erde als Mutter, die eigenständig Pflanzen hervorbringt, ohne selbst geschaffen zu sein, ist in der Antike verbreitet. Sie beruht auf der numinosen Dimension des fruchtbaren Ackerlandes (hebräisch ’ǎdāmāh; griechisch / Gaia) sowie der Erdentiefen (hebräisch ’æræṣ, šə’ôl; griechisch chthōn / chthonios). In dem sumerischen Text „Prolog des Streitgesprächs zwischen Holz und Rohr“ (TUAT III, 357-360) ist das Gebären der Pflanzen als Folge der Begattung der Erde durch den Himmelsgott An beschrieben. Dagegen bringt nach Gen 1,11-12.24 die Erde auf Gottes Befehl hin Pflanzen und Lebewesen hervor (vgl. das Sprossen der Erde in Ps 90,5; Jes 34,1). Ikonographisch wird diese Vorstellung seit dem 3. Jt. v. Chr. gelegentlich in Form einer ‚pflanzentreibenden’ Erdgöttin dargestellt (Abb. 4).

Muttergottin 3

Seit der Mittelbronzezeit (1750-1550 v. Chr.) wird in Syrien / Palästina die Göttin mit Pflanzen als nackte weibliche Gestalt zwischen Zweigen oder Bäumen dargestellt (→ Göttin, 4.2).

Die Erde wird im Alten Testament manchmal als Mutterschoß beschrieben, in dem der menschliche Leib kunstvoll gestaltet wird (Ps 139,15), zu dem der Mensch zurückkehrt (Hi 1,21; Pred 5,14; Sir 40,1) oder der die Toten ein zweites Mal gebiert (Jes 26,19). Diese Spuren der Vorstellung einer gebärenden Mutter Erde werden jedoch kontrastiert von zahlreichen Aussagen über die Erde als Schlund, der die Verbrecher verschlingt (Num 16,30-33; Ps 106,17; vgl. auch Gen 4,11), und als Ort der Toten, an dem Gott nicht mehr gepriesen wird (Ps 6,6; Ps 88,11-13; Jes 38,18). Die Ausweitung der Herrschaft des israelitischen Gottes auf die Tiefen der Totenwelt klingt erst in sehr späten poetischen Texten an (1Sam 2,6; Jes 14,9; Jes 25,8; Ps 139,8.12).

Die Verehrung der Erde als Mutter, als Spenderin der vegetarischen Nahrung findet sich wohl schon in frühen indogermanischen Kulturen. Die ambivalente Vorstellung der Erde als gebärend und die Toten aufnehmend, findet sich auch in der griechischen Kultur. In der griechischen Tragödie und der griechischen Philosophie wird die Ergöttin Gaia oder Ge häufig als Mutter bezeichnet. Dagegen spielt die Verehrung der Gaia im Kult eine vergleichsweise geringe Rolle. Gelegentlich wird Gaia mit der Getreidegöttin Demeter identifiziert, deren berühmter Mysterienkult in Eleusis beheimatet ist. Als Mutterschoß, der die Toten aufnimmt, firmiert die Erde bei griechischen und römischen Schriftstellern und in zahlreichen Grabsprüchen der hellenistischen und römischen Zeit. Diese mythologische Vorstellung kann jedoch nicht mit der Verehrung einer Muttergöttin gleichgesetzt werden.

3. Der Mythos der „Großen Mutter“

3.1. Der Kult der Mater Magna

Ein Kult der Mater Magna („Große Mutter“) wurde 204 v. Chr. in Rom eingeführt, wo eine gleichnamige Göttin auf dem Palatin einen eigenen Tempel erhielt. Der genaue Herkunftsort der Göttin ist umstritten: Stammt sie ausweislich ihres Titels Mater Deum Magna Idaea „große Mutter der Götter, die aus Ida“ ursprünglich vom Berg Ida im Nordwesten Anatoliens? Ist die im heiligen Stein verehrte Göttin die römische Variante der Kybele von Pessinus? Oder stammt sie aus der kleinasiatischen Küstenstadt Pergamon, in der sich ein der Muttergöttin geweihtes Heiligtum, das Megalesion, befand? Auch in römischen Quellen werden ihre Priester galli genannt, die jedoch nur an bestimmten Tagen in den Straßen Roms um Gaben betteln durften. Das Hauptfest ihres Kultes fand vom 4.-10. April statt und umfasste Opfer, Festmähler, die Waschung des Kultbilds und szenische Aufführungen.

3.2. Bachofens These vom Mutterrecht

Auf der Grundlage antiker Mythen und unter Annahme polarer Geschlechterbeziehungen, aber zeitlich vor den archäologischen Grabungen im Nahen und Mittleren Osten, entwickelte der Schweizer Jurist Johann Jakob Bachofen (1815-1887) in seinem 1861 erschienenen Werk „Das Mutterrecht“ eine eigene Theorie der Gynaikokratie (Frauenherrschaft). Aus Notizen griechischer Schriftsteller über das kleinasiatische Volk der Lykier und der Orestie des griechischen Tragödiendichters Aischylos (525-456 v. Chr.) postulierte Bachofen eine ursprüngliche Gesellschaftsform mit weiblicher Erbfolge und Genealogie (Matrilinearität), Namensgebung nach der Mutter sowie einer politischen Vorherrschaft von Frauen. Im Gegensatz zu seinen Quellen, die eine solche Gesellschaft als regellos und den griechischen Sitten unterlegen beurteilen, verstand Bachofen das von ihm so genannte Mutterrecht positiv als eine Völker übergreifende Kulturstufe, die eine Wesenseinheit von Frau, Erde, Kosmos und Natur annimmt und die Frau zum religiösen Wesen schlechthin erhebt. Problematisch an Bachofens Werk ist einerseits, dass er von religiösen Vorstellungen wie dem Mythos von der Mutter Erde als Grund allen Seins auf Formen sozialen Zusammenlebens und politischer Herrschaft schließt. Andererseits vertritt Bachofen seiner Zeit gemäß eine – heute überholte – kulturelle Evolutionstheorie, wonach das Mutterrecht durch das höher entwickelte, geistigere Vaterrecht abgelöst worden sei. Ethnologische Untersuchungen mutterrechtlicher Ethnien, z.B. der Irokesen und Hopis in Nordamerika, der Nayar und Minangkabau in Süd- und Südostasien und der San im Süden Afrikas zeigen sehr unterschiedliche Gesellschaftsformen. Sie erweisen die These der Existenz eines Völker übergreifenden Matriarchats als eine eurozentrische Sichtweise, die ein Deutungsmuster der europäischen Sozialwissenschaft des 19. Jh.s fortführt. Außerdem beinhaltet Bachofens Remythisierung einer Vergangenheit, in der die (weibliche) Moral führend gewesen sei, eine Modernitätskritik, die sich gegen den ökonomisch-technischen Fortschritt richtet (Wagner-Hasl 1992, 300-305).

3.3. Die „Große Mutter“ in der jungsteinzeitlichen Kultur Zentraleuropas

Die Vorstellung einer ursprünglichen Kulturstufe des Matriarchats findet sich teilweise auch in psychoanalytischer, marxistischer und feministischer Theoriebildung. Letztere hat seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jh.s in Westeuropa und Nordamerika einen Zweig der Göttinnenspiritualität ausgebildet, die das ursprüngliche Matriarchat als goldenes Zeitalter und vom Patriarchat verdrängte Gesellschaftsform versteht.

Gewährsfrau für die feministische Matriarchatsforschung ist die litauische Archäologin und Linguistin Marija Gimbutas (1921-1994). Sie verknüpfte jungsteinzeitliche Grabungsbefunde aus Ortslagen in Zentraleuropa mit Studien zur vergleichenden Mythologie, Linguistik und späterer volkskundlicher Überlieferung dieser Gebiete. Gimbutas vertrat die These, im alten Europa vor der indogermanischen Einwanderung (beginnend 4500 v. Chr.) sei eine Göttin verehrt worden, die als Gebärende, Beherrscherin des Todes und sich selbst erneuernde Frau alle wichtigen Lebensfunktionen abdeckte und keines göttlichen Partners bedurfte (Gimbutas 1995, XIX-XXIII). Die Gesellschaftsordnung der Ackerbaukulturen Europas in der Jungsteinzeit und beginnenden Bronzezeit (6500-3500 v. Chr.) sei wie im minoischen Kreta gylanisch (matrilinear und matrifokal) gewesen: egalitär, friedlich, sesshaft, ohne Symbole männlicher Dominanz und mit Frauen als Clanoberhäuptern oder Königin-Priesterin. Erst in der zweiten Hälfte des 5. Jt.s sei diese Kultur von der proto-indoeuropäischen Kurgankultur aus den Steppengebieten des Wolgabeckens verdrängt worden (russisch „kurgan“ bedeutet Grabhügel). Kennzeichen der Kurgankultur seien Bestattungen hochrangiger Männer in Rundhügeln mit Waffen und gelegentlich mit Mitgliedern des Haushalts und Frau, Viehzucht und die Domestizierung des Pferdes, woraus Gimbutas eine patriarchale Sozialstruktur erschließt.

Während Gimbutas archäologische Studien meist anerkennend rezipiert werden, ist ihre stark verallgemeinernde Deutung der alteuropäischen und proto-indogermanischen Kulturen und ihrer Religion in mehrfacher Hinsicht umstritten: Kritisch betrachtet wird etwa, dass sie sehr unterschiedliche Grabungsfunde in Zentralasien unter dem Stichwort Kurgankultur zusammenfasst sowie die Domestizierung des Pferdes als Reittier ohne weitere Belege voraussetzt. Da die jungsteinzeitlichen Funde einer schriftlosen Kultur angehören, versteht Gimbutas alle dekorativen Elemente (z.B. V-Zeichen, M-Zeichen, Zickzacklinien, Wasserlinien, ovale Linien, Vögel) als auf die eine große Göttin verweisende Symbole und deutet sie mit Hilfe völkerkundlicher und mythologischer Traditionen aus schriftlichen Quellen sehr viel späterer Zeit (zur Kritik vgl. Kunz in Röder / Hummel / Kunz 1996, 273-298). Außerdem wird Gimbutas’ universales Geschichtsbild einer Ablösung der matriarchalen durch die patriarchale Kultur im Zeitraum von 4500-3000 v. Chr. der Vielfalt der Fundorte, Siedlungsstrukturen und Phasen der Besiedlung in keiner Weise gerecht. Archäologische Funde und Texte aus dem Vorderen Orient konterkarieren darüber hinaus Gimbutas’ Ein-Göttin-These, da sie eine Vielheit von Gottheiten am Anfang bezeugen, die mittels Identifizierung in schriftlichen Quellen zu wenigen Gestalten verbunden (z.B. Isis in hellenistischer Zeit, siehe oben 2.2.) bzw. im jüdisch-christlichen Monotheismus zu einer Einheit zusammengeführt werden (vgl. z.B. Frymer-Kenski 1992).

3.4. Die dreifaltige Göttin in der feministischen Matriarchatsforschung

Die zumindest teilweise auf Grabungsfunden basierende These Gimbutas’ wurde in der feministischen Matriarchatsforschung stark rezipiert, jedoch weiter vereinfacht zum Bild der einen Göttin, die alle Lebensbereiche wie Jugend (Jungfräulichkeit), Mütterlichkeit (Fruchtbarkeit) und Alter (Tod) umfasst. Gerda Weiler etwa sucht im Alten Testament ein verborgenes Matriarchat, wobei sie den Gott Israels als ursprünglich matriarchalen Stiergott und Moses als matriarchalen Mann versteht, deren Traditionen später patriarchal überformt worden seien (Weiler 1989, 144-167). Ähnlich wie Gimbutas vereinfacht Heide Göttner-Abendroth die sehr komplexen unterschiedlichen Mythen der um das Mittelmeer siedelnden verschiedenen Völker zum Mythos von der einen Göttin und ihres Sohngeliebten, ohne allerdings einzelne Quellen oder einschlägige Fachliteratur auszuweisen (Göttner-Abendroth 1980; vgl. für das Neue Testament Mulack 1987). Alle genannten Forscherinnen rezipieren Bachofens These vom ursprünglichen, Ackerbau treibenden und friedliebenden Matriarchat und teilen die im frühen 20. Jh. in der religionswissenschaftlichen Forschung verbreitete Vorstellung der globalen Vergleichbarkeit religiöser und mythologischer Befunde.

Wie archäologisch erschlossene Funde sowie durch Texte belegte Riten und Mythen um → Schwangerschaft und → Geburt zeigen, wurde zwar die weibliche Gebärfähigkeit im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike häufig als göttliche Potenz aufgefasst. Es gibt jedoch weder eine Muttergöttin, die alle Aspekte des Lebens umgreift, noch kann nachgewiesen werden, dass die Verehrung einer solchen Göttin eine Vorrangstellung von Frauen in der betreffenden Gemeinschaft impliziert (vgl. Wacker 1987, 23-26). Die Suche nach einer weiblich fokussierten Spiritualität und nach weiblichen Elementen in der jüdisch-christlichen Tradition ist verständlich im Kontext einer durch und durch säkularen, auf Rationalität und technische Machbarkeit abzielenden Kultur. Die postmoderne Collage einer friedliebenden, den Zyklus des Werdens und Vergehens repräsentierenden Muttergöttin erscheint freilich als ein allzu stilisiertes Idealbild, das unterschiedliche archäologische Befunde einseitig interpretiert und die Bedeutung der weiblichen Figurinen überschätzt. Insbesondere die Romantisierung der weiblichen Natur im Gegensatz zu allem Männlichen und die Überhöhung der Mutterrolle mithilfe dieses Idealbildes sind ungeeignet, die eindeutig patriarchalen Strukturen des biblischen Gottesbildes zu revidieren.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005
  • Dictionary of Deities and Demons in the Bible, 2. Aufl., Leiden 1999
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Bachofen, J.J., 1948, Das Mutterrecht, 2 Bde. (1861), Basel
  • Eller, C. 2000, The Myth of Matriarchal Prehistory. Why an Inverted Past Won’t Give Women a Future, Boston
  • Frymer-Kenski, T., 1992, In the Wake of the Goddesses, New York
  • Gimbutas, M., 1995, Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der westlichen Zivilisation. Deutsch von U. Rennert und A. von Struwe (engl. Original 1989), Frankfurt.
  • Göttner-Abendroth, H., 1980, Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung, München
  • Hodder, I., 2006, The Leopard’s Tale. Revealing the Mysteries of Çatalhöyük, London
  • Keel O., 1980, Das Böcklein in der Milch seiner Mutter und Verwandtes im Lichte eines altorientalischen Bildmotivs (OBO 33), Freiburg
  • Keel, O., 1989, Jahwe in der Rolle der Muttergottheit, Orientierung 53, 89-92
  • Keel, O. / Schroer, S., 2002, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen
  • Keel, O. / Schroer, S., 2004, Eva – Mutter alles Lebendigen. Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient, Fribourg
  • Mulack, C., 1987, Jesus – der Gesalbte der Frauen. Weiblichkeit als Grundlage christlicher Ethik, Stuttgart
  • Röder, B. / Hummel, J. / Kunz, B., 1996, Göttinnendämmerung. Das Matriacharchat aus archäologischer Sicht, München
  • Wacker, M.-T., 1987, Die Göttin kehrt zurück. Kritische Sichtung neuerer Entwürfe, in: dies. (Hg.), Der Gott der Männer und die Frauen, Düsseldorf, 11-37
  • Wagner-Hasel, B. (Hg.), 1992, Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft (WdF 651), Darmstadt
  • Weiler, G., 1989, Das Matriarchat im Alten Israel, Stuttgart u.a.
  • Wesel, U., 1980, Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften, Frankfurt

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