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Mündig / Unmündig

(erstellt: November 2009)

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1. Definition

Der Begriff mündig / unmündig geht auf althochdeutsch Munt „Herr“ zurück. Munt entsprach der Stellung des germanischen Herrn über Frau, Kinder und Gesinde. Die Rechtsstellung des Herrn beinhaltete ähnlich der Stellung des Königs im Alten Orient nach außen Schutz der Gemeinschaft und nach innen Sorge und Macht über die einzelnen Mitglieder (König als → Hirte). Später kommt die sachlich entgegengesetzte Bedeutung „mündig“ auf, die eine Stellung bezeichnet, in der man vom Herrn frei und ohne Schutz für sich selbst die Verantwortung übernimmt.

Mündigkeit – verstanden als rechtliche Handlungsfreiheit – muss nicht mit Volljährigkeit übereinstimmen. Die Trennung von Mündigkeit und Volljährigkeit ist in der lateinischen Rechtssprache entstanden. Im römischen Recht entsprach Mündigkeit dem Alter der Geschlechtsreife (lat. pubertas; einen eigenen Begriff für Mündigkeit kennt das Lateinische nicht); der Akt der Entlassung aus der Gewalt des pater familias (lat. emancipatio) wird dagegen mit Volljährigkeit (lat. majorennis) bezeichnet und erst mit einem höheren Alter erreicht. Auch heute unterscheidet man verschiedene Formen der Mündigkeit, zum Beispiel religiöse Mündigkeit, Eid-, Wahl- und Strafmündigkeit, deren Erreichen nicht mit der Volljährigkeit verbunden sein muss (Sommer, 225-226).

In der Zeit der Aufklärung wird der Begriff der Mündigkeit durch die Definition Kants 1784 – Aufklärung als „Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Abhandlung zur „Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung?“) – mit der philosophischen Idee der Autonomie des Subjekts verbunden.

Im Bibelhebräischen ist ein Begriff für „mündig“ bzw. „unmündig“ nicht nachweisbar. Die Stellung eines pater familias, der für seine Hausgemeinschaft / Familie oder Sippe zuständig ist, lässt sich aus den Gesetzen erschließen. Ebenso ist die rechtliche Handlungsfreiheit – also die Mündigkeit im Sinne einer Stellung, in der man selbst bestimmen kann – thematisiert. Dies lässt sich sowohl an Begriffen zeigen, die diesen Zustand ausdrücken, als auch an den entsprechenden Gesetzen, die einen Zustand betreffen, der die Handlungs- und Bewegungsfreiheit einschränkt, wie zum Beispiel die Schuldsklaverei.

Dabei ist es notwendig festzuhalten, dass ein politisches oder auch individuelles Freiheitsverständnis erst unter dem Einfluss griechischer Philosophie in hellenistischer Zeit für das Judentum nachweisbar ist (Kaiser, 304-306). Freiheit ist in der Hebräischen Bibel gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur innerhalb der von Jahwe gegebenen Gesetze bewegen kann. Man könnte sich zwar gegen die Gesetzte wenden, dies hat aber dann eine Abwendung von Gott zur Folge. Kegler spricht daher von einem „dynamischen Freiheitsverständnis“, das die Befreiung durch Gott voraussetzt (Kegler, 699).

Daher ist der rechtliche Zustand der Handlungsfreiheit nicht automatisch mit einer Wahl- oder Entscheidungsfreiheit gleichzusetzen. Letztere ist für die Hebräische Bibel umstritten.

2. Formeln und Begriffe für die rechtliche Handlungsfreiheit

1. חָפְשִׁי chåfšî. Das Ende des Sklavenzustandes, also der rechtlich eingeschränkten Handlungsfreiheit, wird mit dem Begriff chåfšî ausgedrückt, den man mit „Freier“ wiedergibt. Die Herkunft des Wortes ist unklar, vorgeschlagen wird eine Ableitung vom ugaritischen chbṯ / chpṯ, einem Wort, das wohl – wie der Kontext vermittelt – für eine Gruppe von sozial niedrig gestellten Söldnern steht (Baal-Mythos KTU 1.4 VIII 7-9; Janowski, 5-6.12f). Das Hebräische kann den Übergang in die rechtliche Handlungsfreiheit in zwei Formeln ausdrücken: jṣ’ (Qal) chåfšî / ləchåfšî „als Freier ausziehen“ (Perspektive des Freigelassenen) oder šlch (Pi.) chåfšî / ləchåfšî „als Freien ausschicken“ (Perspektive des Herrn).

2. דְּרוֹר dərôr. Als Begriff für die Schuldenentlastung / Lastenbefreiung, der auf das akkadische andurāru zurückgeht, ist noch dərôr nachweisbar. dərôr „Befreiung“ geht auf die Verbwurzel drr „freien Lauf haben / geben“ zurück. Das gut nachvollziehbare Bild der Bewegungsfreiheit wird auf die Handlungsfreiheit übertragen. Die Befreiung kann sich sowohl auf Eigentum als auch auf Personen beziehen (Lev 25,10). Die Semantik – Zustand der rechtlichen Handlungsfreiheit – wird dann aber erweitert auf eine Befreiung von äußeren Zwängen allgemein (Jes 61,1) und kann auch – ins Gegenteil verkehrt – eine Versklavung ausdrücken (Freilassung der Nöte in Jer 34,17). Inwieweit die rechtliche Institution der Lastenbefreiung, wie im Babylonischen, historisch war, ist allerdings aufgrund der fehlenden Quellen problematisch (→ Erlassjahr; → Gnadenjahr).

3. עָצוּר וְעָזוּב ‘āṣûr wə‘āzûv. Die Übersetzung der Formel ‘aṣûr wə‘asûv „zurückgehalten und losgelassen“ (Dtn 32,36; 1Kön 14,10; 1Kön 21,21; 2Kön 9,8; 2Kön 14,26) ist nicht unumstritten. Vorgeschlagen wurden unter anderem die Gegensatzpaare „Sklave und Freier“, „rein und unrein“ sowie „mündig und unmündig“ (Wrigth / Milgrom, 335). Inzwischen überwiegt die Übersetzung „mündig und unmündig“ (z.B. Würthwein, 177). Sicher ist aufgrund fehlender Parallelen nur, dass wohl durch das Gegensatzpaar, das dann für zwei Bevölkerungsgruppen steht, die ganze Gesellschaft umfasst werden sollte.

In Est 2,7 ist durch den Kontext zu erschließen, dass es sich hier um eine Art „Vormundschaft“ handelt. Die Verbwurzel ’mn (Qal) „tragen / schützen“ zeigt aber keine eindeutige Rechtsposition an. Kinder sind zwar überwiegend als Objekte genannt, aber das Schützen / Erziehen kann sowohl von Frauen als auch von Männern ausgesagt werden.

3. Personen mit eingeschränkter rechtlicher Handlungsfreiheit

Die Texte der Hebräischen Bibel lassen, wie überall im Alten Orient, auf patriarchale Gesellschaftsstrukturen schließen. An der Spitze der sozialen Einheit einer → Familie und Sippe steht der pater familias. Er sorgt für den Erhalt dieser Struktur und ist für den Schutz und das Recht der einzelnen Mitglieder zuständig.

Zur Familie gehören Frauen, Kinder und → Sklaven / Sklavinnen, auch die Nutztiere, wie die Aufzählung des → Dekalogs erkennen lässt (Ex 20,10; Dtn 5,21). Die Rechtsstellung der einzelnen Mitgliedergruppen zu bestimmen ist schwierig, da die einzelnen Rechtstexte aus verschiedenen Zeiten stammen und nicht unbedingt mit dem praktizierten Recht übereinstimmen müssen. Hier muss immer jeder Einzelfall überprüft werden.

Das wohl nachexilische → Erbrecht einer Tochter, wenn sie das einzige Kind ist (Num 27,1-11), lässt sich beispielsweise auch durch Urkunden belegen, wie den Rechtsurkunden aus → Elephantine. Dort erbt die Tochter als einziges Kind Haus und Grundstück des Vaters und wird berechtigt, dies auch weiter zu verkaufen (Porten / Yardeni B2.3; Kottsieper TUAT.NF I, 258-260).

Darüber hinaus können bei Vergehen oder Krankheit die Rechte und damit die Handlungsfreiheit eingeschränkt werden (z.B. Lev 13,45ff Ausstoß aus der Gesellschaft bei Aussatz).

3.1. Kinder

Kinder unterstehen dem pater familias. Nach Genesis 21,8-10 wird ein Kind mit der Entwöhnung erbberechtigt. Als Arbeitskraft zählt ein Kind ab seinem 5. Lebensjahr (Lev 27,5). Ein explizites Alter, ab dem Kinder rechtlich handeln dürfen, ist nicht bekannt. Die Geschlechtsreife ist hier nicht maßgeblich, wie etwa im römischen Recht. Mädchen unterstehen dem pater familias bis zur Heirat und Jungen bis zur eigenen Familiengründung oder Übernahme des Amtes des pater familias.

3.2. Frauen

Die Stellung der → Frau ist rechtlich in alttestamentlichen Gesetzen nur bedingt fassbar. Sie untersteht bis zur Heirat dem Vater, der seine Tochter auch als Sklavin verkaufen kann (Ex 21,7-11). Mit der Heirat übernimmt diese Rolle der Ehemann.

3.3. Sklaven

Der Sklavenstand (→ Sklaverei) kann entweder von Geburt an bestehen oder auch durch Krieg oder finanzielle Not bedingt sein. Die Kinder von Sklaven gehören ebenfalls diesem Stand an, zählen aber wie die Sklaven zur Familie. Dies belegt das Gebot, nicht nur die Familienangehörigen zu beschneiden, sondern auch alle durch Geburt oder Kauf dazugehörenden Sklaven (z.B. Gen 17,12.23). Ein Sklave untersteht seinem Herrn. Einen speziellen Begriff für „Sklave“ gibt es in der Hebräischen Bibel nicht, weshalb auch die Unterscheidung zwischen Sklavenarbeit, → Frondienst und Lohnarbeit schwer ist (Riede, 617). Nach Rechtssätzen der Hebräischen Bibel ist allerdings die Schuldsklaverei eingeschränkt durch die Institution des → Jobeljahres / → Erlassjahres. Angehörige des eigenen Volkes sollten nicht versklavt werden (z.B. Ex 21,16).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Paulys Realencyclopädie, Stuttgart 1893-1978
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Crüsemann, F., 2002, Gott als Anwalt der Kinder!? Zur Frage von Kinderrechten in der Bibel, JBTh 17, 183-197
  • Gerstenberg, E.S., 1986, Art. עָוַב, ThWAT V, Stuttgart, 1200-1208
  • Janowski, B., 2001, Die Toten loben Jahwe nicht. Psalm 88 und das alttestamentliche Todesverständnis, in: F. Avemarie u.a. (Hgg.), Auferstehung – Resurrection. The fourth Durham-Tübingen Research Symposium Resurrection, Transfiguration and Exaltation in Old Testament, Ancient Judaism and Early Christianity (Tübingen, September, 1999), (WUNT 135), Tübingen, 3-45.
  • Kaiser, O., 2000, Art. Freiheit I. Altes Testament, RGG, 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen, 304-306
  • Kegler, J., 1991, Art. Freiheit I. Altes Testament, NBL 1, Zürich, 699f
  • Lohfink, N., 1982, Art. חָפְשִׁי, ThWAT III, Stuttgart, 123-128
  • Maass, F., 1982, Art. חָפַשׁ, I.-II., ThWAT III, Stuttgart, 121-123
  • Müller, I., 1996, Stellung der Frau im Recht altorientalischer Kulturen und Altägyptens. Eine Bibliographie, Weinheim
  • North, R., 1977, Art. דְּרוֹר, ThWAT II, Stuttgart, 283-287
  • Obzien, S., 1998, Art. Freiheit II. Philosophisch, DNP 4, Stuttgart, 652-653
  • Otto, E., 1998, False weights in the scales of biblical justice? Different views of women from patriarchal hierarchy to religious equality in the Book of Deuteronomy, in: V.H. Matthews u.a. (Hgg.), Gender and law in the Hebrew Bible and the ancient Near East (JSOT.S 262), Sheffield, 128-146
  • Porten, B. / Yardeni, A., 1986-1993, Textbook of Aramaic Documents from Ancient Egypt, Bd. I-III, Jerusalem
  • Raaflaub, K.,1998, Art. Freiheit I. Politisch, DNP 4, Stuttgart, 650-652
  • Riede, P., 2001, Art. Sklave / Sklavin, in: NBL 3, 616-621
  • Sommer, M., 1984, Art. Mündigkeit, in: Ritter, J., u.a., Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel, 225-235
  • Warnach, W., 1972, Art. Freiheit I-II, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel, 1064-1083
  • Willi, T., 1977, Die Freiheit Israels. Philologische Notizen zu den Wurzeln chpš, ‘zb und drr, in: H. Donner (Hg.), Beiträge zur Alttestamentlichen Theologie (FS W. Zimmerli), Göttingen, 531-546
  • Wrigth, D.P., Milgrom, J, 1989, Art. עָצַד, ThWAT VI, Stuttgart, 333-338
  • Würthwein, E., 1977, Das erste Buch der Könige (Kapitel 1-16), (ATD 11,1), Göttingen

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