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Mowinckel, Sigmund

(1884-1965)

(erstellt: November 2007)

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1. Leben

Sigmund Olaf Plytt Mowinckel wurde am 4.8.1884 in Kjerringøy geboren. Er wuchs als Sohn eines Pfarrers im nordnorwegischen Regierungsbezirk Nordland (Gemeinde Beiarn) auf. Mit 14 Jahren kam er zu Verwandten nach Bergen, um dort eine weiterführende Schule zu besuchen (1898-1902). Sein Studium der Theologie (1903-1908) in Kristiania (= Oslo) fiel in die Zeit, in der die sogenannte liberale Theologie in Norwegen zum Durchbruch kam; seine Lehrer für Altes bzw. Neues Testament, Simon Michelet und Lyder Brun, zählten zu den ersten norwegischen Vertretern der historisch-kritischen Theologie.

Als Student der Theologie hat Mowinckel das Schicksal nicht weniger begabter Studenten geteilt: Das Studium stellte sie nicht nur vor rein fachliche Herausforderungen, sondern konnte auch ein gewisses Maß an persönlichen Anfechtungen mit sich führen. Nach dem Staatsexamen ging Mowinckel darum nicht gleich weiter zum praktisch-theologischen Seminar, sondern schrieb einen längeren Aufsatz über den altisraelitischen Prophetismus (1909). Nach einer Wartezeit von zwei Jahren, in der er hauptsächlich als Religionslehrer tätig war, konnte er im Herbst 1911 mit einem Stipendium nach Deutschland reisen, wo er bei Peter Jensen (Marburg) Assyriologie und bei → Hermann Gunkel (Gießen) Altes Testament studierte.

Als Thema für seine Doktorarbeit wählte Mowinckel verschiedene ungelöste Fragen der → Esra / Nehemia-Bücher. Indessen wurde sein Auslandsstudium im März 1913 durch Schwindsucht abgebrochen, und es folgten längere Kuraufenthalte in norwegischen Sanatorien. Während dieser Zeit der Rekonvaleszenz, in der er seine erste deutsche Abhandlung (Die Komposition des Buches Jeremia, 1914) verfasste, durchlebte Mowinckel einen religiösen Reifeprozess und, als er wieder ganz arbeitsfähig war, holte er 1915 die praktisch-theologische Ausbildung nach, ehe er seine Esra/Nehemia-Studien abschloss, von denen ihm die erstere, Statholderen Nehemia, im Dezember 1916 den Doktorgrad einbrachte.

Schon im Juli 1917 wurde Mowinckel auf einer eigens für ihn errichteten Stelle zum Dozenten der Theologie ernannt, und mit sechs schnell hintereinander publizierten Psalmenstudien (1921-1924) erfolgte sein internationaler Durchbruch. 1922 wurde seine Dozentur in eine außerordentliche Professur umgewandelt, und 1933 konnte er als Ordinarius den Lehrstuhl für Altes Testament übernehmen, eine Stelle, in der er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1954 blieb. 1929 erhielt er ehrenvolle Rufe aus Basel und Marburg, und nicht weniger als fünf Ehrendoktorate wurden ihm zuteil (Gießen 1923, Lund 1923, Straßburg 1927, Amsterdam 1932, St. Andrews 1956).

Im Frühjahr 1917 heiratete Mowinckel die Krankenschwester Karoline (Caro) Simonsen (1887-1963), mit der er zwei Töchter hatte. Von Zeit zu Zeit äußerte er sich in der Öffentlichkeit zu theologischen oder verschiedenen tagesaktuellen Themen und galt in den 1920er Jahren als ein profilierter Sprecher liberaler Theologie. 1934 erlebte er durch die Begegnung mit der sogenannten „Gruppenbewegung“ (Oxford Group Movement) so etwas wie eine religiöse „Erweckung“, nach der er in vieler Hinsicht ein aktiveres Kirchenmitglied wurde und sich schließlich (1940) auch noch ordinieren ließ.

2. Werk

Auf den meisten Feldern der alttestamentlichen Theologie ist Mowinckel tätig gewesen. Zur Prophetenforschung, der seine ersten Arbeiten gewidmet waren, kehrte er mehrmals zurück. Teils galt sein Interesse der Eigenart der prophetischen Verkündigung innerhalb der altisraelitischen Religionsgeschichte, teils der Frage nach der Entstehung dieser Literatur und nach der Komposition der einzelnen Prophetenbücher. Umstrittene Themen, nicht zuletzt innerhalb der skandinavischen Forschung, waren das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Überlieferung der Prophetenorakel sowie die Möglichkeit der Forschung, zu den ursprünglichen Worten der Propheten zurückzufinden. In einer zeitweise gespannten Diskussion mit dem Uppsala-Theologen Ivan Engnell nahm Mowinckel hier eine Art Zwischenposition ein, indem er sowohl literarkritische als auch traditionshistorische Gesichtspunkte gelten lassen wollte (Prophecy and Tradition, 1946).

In den Kontext der Prophetenstudien gehört auch eines der Hauptwerke des älteren Mowinckel, Han som kommer (1951; engl.: He That Cometh, 1956), in dem er die altisraelitische Königsideologie und Zukunftserwartung und die frühjüdischen Messiaserwartungen behandelte. Anders als die Kollegen in Uppsala – Ivan Engnell und Geo Widengren –, die im Anschluss an die englische „Myth and ritual“-Schule ein gemeinsames „kultisches Muster“ im ganzen Vorderen Orient postulierten (→ Uppsala-Schule), fand es Mowinckel gerade im Hinblick auf diesen Themenkomplex notwendig, die Eigenart der altisraelitischen Entwicklung zu betonen.

Zur Pentateuchforschung hat Mowinckel ebenfalls bedeutende Beiträge geliefert, insbesondere zur Frage nach dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Quellenschriften. Als Student war er mit der literarkritischen Quellenscheidung im Sinne Wellhausens vertraut geworden, aber sowohl in der formgeschichtlichen Schule Gunkels als auch durch die innerskandinavische Methodendiskussion lernte er, der mündlichen Überlieferung eine größere Rolle beizumessen. Ein Beispiel einer gewissen Neuorientierung in dieser Hinsicht ist seine Auffassung vom → Elohisten, der sogenannten E-Quelle, die er allmählich als eine eigene, selbständige Quelle verwarf und stattdessen als eine mündlich bearbeitete Variante der schriftlich fixierten J-Quelle (→ Jahwist) betrachtete (Erwägungen zur Pentateuchquellenfrage, 1964); → Pentateuchforschung.

Seinen Platz in der Theologiegeschichte hat sich Mowinckel in erster Linie als Psalmenforscher erworben. Seine ersten Beiträge auf diesem Feld – beide nur auf Norwegisch veröffentlicht – waren ein kleines Buch über die Königspsalmen (1916) und ein umfassender Aufsatz über die Thronbesteigungspsalmen (1917). Schon diese ersten Versuche weisen grundlegende Elemente und zentrale Motive seiner Psalmenforschung auf, wie sie zunächst durch die bahnbrechenden Psalmenstudien und später durch die englische Übersetzung des Alterswerks Offersang og sangoffer (1951; engl. The Psalms in Israel’s Worship, 1962) in aller Welt bekannt wurden.

Die theoretische Grundlage der Psalmenstudien Mowinckels war die Erkenntnis Gunkels, dass eine wissenschaftliche Interpretation der einzelnen Psalmen ohne eine Bestimmung ihrer Gattung sowie ihrer Funktion im religiösen Leben des Alten Israel nicht möglich sei. Was aber die Psalmenstudien Mowinckels wirklich in Gang setzte, war ein neues Verständnis des Kultes, das er dem dänischen Religionshistoriker Vilhelm Grønbech verdankte. Wie so viele moderne protestantische Theologen war Mowinckel geneigt, den Kult als äußeres Rahmenwerk zu betrachten, als etwas religiös Minderwertiges im Vergleich mit der persönlichen Frömmigkeit. Durch Grønbech lernte er, den Kult primitiver Kulturen als ein schöpferisches Drama zu verstehen, das für das Bestehen und Gedeihen der Gemeinschaft schlechthin unerlässlich ist. Auf dieser Grundlage setzte sich Mowinckel programmatisch für das „kultische Prinzip“ in der Psalmenforschung ein, eine Forschungsmethode, die er später auch auf anderen Forschungsfeldern, beispielsweise im Rahmen der Dekalogforschung (Le Décalogue, 1927), anwandte.

Durch diese konsequent „kultische“ oder „kultgeschichtliche“ Methode meinte Mowinckel, die historisch korrekte Auffassung der biblischen Psalmen zu gewinnen. Zugleich aber wurden ihm auf diese Weise die Psalmen selbst eine wichtige Quelle zur Information über Glaubensinhalte und Praxisformen der altisraelitischen Religion, nicht zuletzt über die großen Feste, die in der kultischen Gesetzgebung am spärlichsten beschrieben worden sind. Hier konzentrierte sich das Interesse Mowinckels vor allem auf jenes große Kultdrama, das, wie er mutmaßte, im Zusammenhang mit der Neujahrsfeier stattgefunden habe. Mit Hinweis auf das mesopotamische → Akitu-Fest hat er ein altisraelitisches „Thronbesteigungsfest Jahwes“ rekonstruiert, während dessen der Kampf Gottes gegen Chaosmächte und historische Feinde sowie sein Sieg über diese in eindrucksvollen Ritualen dramatisch dargestellt und durch die Freudenschreie der Gottesdienst feiernden Gemeinde bejubelt wurden. Einen Nachklang hat Mowinckel aus den sogenannten Thronbesteigungspsalmen (Ps 93 und Ps 95-99) herausgehört, in denen Jahwe als König gepriesen wird.

3. Wirkung

Die kultgeschichtliche Psalmendeutung Mowinckels – und nicht zuletzt seine Hypothese eines alljährlichen Thronbesteigungsfestes – hat sowohl Anerkennung als auch Kritik hervorgerufen. Anhänger wie Gegner haben den ungewöhnlichen Reichtum an kreativen Ideen gelobt, der Mowinckels Arbeiten kennzeichnet und die Forschung in seltener Weise angeregt hat. Für Mowinckel selbst war die größte Enttäuschung wohl der Widerstand, auf den er bei Hermann Gunkel stieß. Zwar war er sich klar bewusst, dass er einen wesentlichen Schritt über die Position des Lehrers hinaus gegangen war, aber ebenso fest war er zugleich davon überzeugt, dass er die richtige und einzig mögliche Konsequenz aus dessen formgeschichtlichem Prinzip gezogen hatte. Angesichts dieser Alternative – Gunkel oder Mowinckel? – scheint die Mehrheit der deutschen – und der übrigen kontinentalen – Alttestamentler dazu geneigt gewesen zu sein, Gunkel den Vorzug zu geben, während die Ideen Mowinckels in der angloamerikanischen Welt, in der sie eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll durchschlugen, freundlicher aufgenommen wurden.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Internet: http://www.bautz.de/bbkl/)

2. Wichtige Werke

  • Zur Komposition des Buches Jeremia, Kristiania 1914
  • Psalmenstudien, Bd. I: Awän und die individuellen Klagepsalmen; Bd. II: Das Thronbesteigungsfest Jahwäs und der Ursprung der Eschatologie; Bd. III: Kultprophetie und prophetische Psalmen; Bd. IV: Die technischen Termini in den Psalmenüberschriften; Bd. V.: Segen und Fluch in Israels Kult und Psalmdichtung; Bd. VI: Die Psalmdichter, Kristiania 1921-1924 [Nachdruck in 2 Bd.en mit neuem Vorwort, Berichtigungen und Ergänzungen, Amsterdam 1961 / 1966]
  • Hvad har vi som kristne i det Gamle Testament?, Kristiania 1922
  • Det Gamle Testamentes salmer i oversettelse, Kristiania 1923
  • Le Décalogue, Paris 1927
  • The Two Sources of the Predeuteronomic Primeval History (JE) in Gen. 1-11, Oslo 1937
  • Die Erkenntnis Gottes bei den alttestamentlichen Profeten, Oslo 1941
  • Zur Frage nach dokumentarischen Quellen in Josua 13-19, Oslo 1946
  • Prophecy and Tradition. The Prophetic Books in the Light of the Study of the Growth and History of the Tradition, Oslo 1946
  • Religion og kultus, Oslo 1950 (2. Aufl. 1971; deutsche Übers.: Religion und Kultus. Göttingen 1953)
  • Han som kommer. Messiasforventningen i Det Gamle Testament og på Jesu tid, Kopenhagen 1951 (engl. Übers.: He that Cometh. The Messiah Concept in the Old Testament and Later Judaism, Oxford 1956)
  • Offersang og sangoffer. Salmediktningen i Bibelen, Oslo 1951 (2. Aufl. 1971; revidierte engl. Ausgabe: The Psalms in Israel’s Worship, 2 Bd.e, Oxford 1962; 1967)
  • Studien zu dem Buche Ezra-Nehemia, Bd. I: Die nachchronische (sic!) Redaktion des Buches. Die Listen; Bd. II. Die Nehemia-Denkschrift, Oslo 1964
  • Tetrateuch – Pentateuch – Hexateuch. Die Berichte über die Landnahme in den drei altisraelitischen Geschichtswerken, Berlin 1964
  • Erwägungen zur Pentateuchquellenfrage, Oslo 1964 (auch in: NTT 65 [1964], 1-138)
  • Studien zu dem Buche Ezra-Nehemia, Bd. III: Die Ezrageschichte und das Gesetz Moses, Oslo 1965

3. Sekundärliteratur

  • Ap-Thomas, D.R., An Appreciation of Sigmund Mowinckel’s Contribution to Biblical Studies, JBL 85 (1966), 315-325
  • Barr, J., Mowinckel, the Old Testament, and the Question of Natural Theology, StTh 42 (1988), 21-38
  • Barstad, H.M. / M. Ottosson (Hgg.), The Life and Work of Sigmund Mowinckel, SJOT 2 (1988), 1-168
  • Hjelde, S., Sigmund Mowinckel und seine Zeit. Leben und Werk eines norwegischen Alttestamentlers (FAT 50), Tübingen 2006
  • Janowski, B., „Thronbesteigungsfest im Alten Testament“. Ein unveröffentlichtes Manuskript S. Mowinckels und sein wissenschaftsgeschichtlicher Kontext, ZAW 105 (1993), 270-278
  • Kapelrud, A.S., Sigmund Mowinckel 1884-1965, SEA 49 (1984), 66-73
  • Kapelrud, A.S., Sigmund Mowinckel and Old Testament Study, ASTI 5 (1967), 4-29
  • Kraus, H.-J., Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 3., erw. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1982, 400 ff., 460 ff.
  • Kvale, D. / Rian, D., Professor Sigmund Mowinckel’s Life and Works. A Bibliography, Oslo 1984
  • Sæbø, M., Sigmund Mowinckel and His Relation to the Literary Critical School, StTh 40 (1986), 81-94
  • Smend, R., Mowinckel und Deutschland, StTh 53 (1999), 79-96

Abbildungsverzeichnis

  • Sigmund Mowinckel (1908).
  • Sigmund Mowinckel.
  • Sigmund Mowinckel.

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