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Andere Schreibweise: Miriam

(erstellt: Januar 2007)

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1. Der Name Mirjam

Die Etymologie des hebräischen Namens Mirjam (מִרְיָם mirjām; griech. mariam; lat. Maria) ist unsicher. Alte Traditionen sehen eine Verbindung aus jām „Meer“ mit „Myrrhe“ („Meeresmyrrhe“) oder auch „Stern“ („Meeresstern“). Etymologisch gesehen handelt es sich möglicherweise um einen Fremdnamen, der aus ägyptisch mrj „lieben“ und dem Gottesnamen → „Amun“ gebildet ist und „Geliebte des Amun“ bedeutet (vgl. Burns, 1987, 9f; Görg, 1995, 816). Leitet man den Namen von einem Verb ab, bietet sich u.a. mrj / mr’ „fruchtbar sein“ an (vgl. Burns, 1987, 9; Görg, 1995, 816). Der Name könnte dann wie → „Midian“ konstruiert sein (Affix -am) und aus dem Midianitischen kommen (Knauf, 1988, 87).

Im biblischen Kontext scheint eine Herleitung von hebr. mārāh „widerspenstig sein“ sinnvoll. → Mose bezeichnet in Num 20,10 das Volk, das nach dem Tod Mirjams in Todesangst verfiel (Num 20,1-2) als „widerspenstig“. Ebenso werden die Verängstigten in Num 17,25 bezeichnet. In beiden Erzählungen (Num 17; 20) geht es um die Frage der Leitung des verängstigten Volkes. Der Name würde Mirjam mit diesem Volk verbinden, das Mose nach dem falschen Gebrauch des Stabes nicht mehr ins gelobte Land führen darf (Num 20,12; Rapp, 2001, 325).

2. Mirjam im Alten Testament

2.1. Die Prophetin

Mirjam ist eine der namentlich bekannten Prophetinnen des Alten Testaments (→ Frauen in der Literatur des AT 9.6). Als Prophetin tritt sie explizit nur in Ex 15,20-21 auf, wo sie Israels Erfahrung von der Teilung des Meeres deutet. Sie hat dabei dieselbe Aufgabe wie Mose, der in Ex 15,1-17 ebenfalls die Ereignisse besingt. Entgegen der Annahme, es handle sich in Ex 15,20-21 um ekstatische Prophetie, muss von einer die Geschichte deutenden Prophetie gesprochen werden.

Als auslegende Prophetin ist Mirjam auch in Num 12 zu sehen, wo sie die alleinige Autorität Moses in Frage stellt (Num 12,2) und in der Antwort Gottes (Num 12,6-8) ein Prophetieverständnis erklärt bekommt, das dem des deuteronomischen Gesetzes zu Propheten und Prophetinnen gleicht (Dtn 18,9-22): alleinige Autorität kommt Mose zu. Auch Dtn 24,8-9 erinnert an die Frage der Autorität zur Gesetzesauslegung und -lehre und erinnert an Mirjams Aussatz. Der in Num 12,10-15 verhandelte Aussatz Mirjams ist im Sinne all jener Aussätze zu verstehen, die als Strafe für Auflehnung gegen Autoritäten auftreten (vgl. 2Sam 3,29; 2Kön 5; 2Chr 26).

Num 20,1 erzählt vom Tod Mirjams in → Kadesch und der anschließenden Todesangst des Volkes sowie dem daran anschließenden Versagen der Führungselite Mose und Aaron. Auch hier steht implizit die Frage der legitimen Führung Israels – besonders angesichts des Todes Mirjams – zur Debatte. Jedoch wird ganz anders argumentiert als in Num 12 und Dtn 24,8-9: Mose und Aaron versagen nach Mirjams Tod und dürfen das Volk nicht weiter ins Land führen (Num 20,12). Mirjam und das, wofür sie steht (vgl. u. 3.), sind in Israel unverzichtbar. Diese positive Sicht Mirjams und ihres Anliegens vertritt neben Ex 15,20f und Num 20,1-13 auch Mi 6,4, der einzige Text eines prophetischen Buches, der an Mirjam erinnert: Sie wurde gemeinsam und gleichbedeutend mit Mose und Aaron von Gott geschickt, um das Volk aus dem Sklavenhaus zu führen.

2.2. Schwester Moses und Aarons

Als Schwester → Aarons wird Mirjam in Ex 15,20 sowie in den genealogischen Texten Num 26,59; 1Chr 5,29 vorgestellt. Der Geschwistertitel ist aber nicht biologisch misszuverstehen, sondern als Rangordnung: Sie wird als Schwester den beiden Brüdern gleichgestellt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Bezeichnung „Schwester“ in den mirjam-kritischen Texten Num 12 und Dtn 24,8-9 fehlt.

Moses Schwester tritt auch in Ex 2,4-10 auf. Sie bleibt dort aber namenlos. Betrachtet man von Num 20,1-13 her die Wichtigkeit Mirjams für Mose und Aaron, bekommt die Rettungsgeschichte aus Ex 2 zusätzliche Bedeutung: Mirjam war zu Beginn des Lebens Moses lebenswichtig für ihn und ist es auch für seine politische und religiöse Rolle am Schluss. Die Erzählung von seinem Versagen unmittelbar nach ihrem Tod nimmt dann diesen Faden der Bedeutung Mirjams für Mose wieder auf.

3. Die Frage der Historizität

Sowohl für die Gestalt der Mirjam als auch für ihr Lied in Ex 15,21 wurde und wird teilweise noch ein hohes Alter angenommen. Dieses wird einerseits mit der Kürze des Liedes begründet. Das längere Lied des Mose in Ex 15,1-17 sei dann als spätere längere Ausformulierung desselben zu verstehen. Andererseits versuchte man mit dem Alter der sprachlichen Formulierungen und theologischen Vorstellungen für das hohe Alter des Liedes zu plädieren. Beide Argumente wurden begründet widerlegt, weshalb das hohe Alter des Mirjamliedes nicht zwingend angenommen werden muss.

Wie oben (2.1.) deutlich wurde, scheiden sich am Prophetinnenverständnis die Geister der Texte: Die einen verstehen Mirjam als neben Mose gleichwertige Prophetin (Ex 15,20-21; Num 20,1-13; Mi 6,4 sowie Num 26,59; 1Chr 5,29), die anderen werten sie als aussätzig ab, weil sie dieselbe Autorität in Anspruch nimmt.

Der erzählte Konflikt zwischen Mirjam und Mose wird in Num 12 am deutlichsten. An der Tatsache, dass Mose mit einer kuschitischen Frau (→ Zippora, vgl. Ex 2,15-22) verheiratet war (Num 12,1), hängt die Frage nach der prophetischen Autorität. Die konkrete Frage ist die der Auflösung und Aufrechterhaltung von Mischehen, wie sie auch in Esr 9; Neh 13 verhandelt wird (Fischer, 2000; Rapp, 2001). Mirjam tritt dabei für die Aufrechterhaltung der Mischehen ein und argumentiert damit, dass ja auch Mose mit einer Nichtisraelitin verheiratet sei (Num 12,1). Möglicherweise spiegelt sich in den Fragen um die Autorität der Prophetie Mirjams ein Konflikt der persischen Zeit, der zwischen den Reformern → Esra / → Nehemia und ihren Gegnerinnen und Gegnern sichtbar wird (vgl. Esr 4; Neh 4). Die in Neh 6,14 namentlich erwähnte Prophetin Noadja soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben.

In diesem Kontext ist Mirjam als eine Figur der späteren nachexilischen Zeit zu verstehen, in der die Anfänge Israels erzählt wurden. Mit relativer Sicherheit kann man davon ausgehen, dass es bis dahin mündliche und möglicherweise auch schriftliche Überlieferungen einer solchen Figur gegeben hat, die wir aber nicht mehr nachvollziehen können. Keinesfalls aber kann eine Mirjam, sei es als Prophetin oder als Schwester Moses, historisch identifiziert werden.

4. Mirjam im Judentum

4.1. Mirjam in der Literatur der hellenistisch-römischen Zeit

Die jüdische Tradition hat Mirjam schon früh positiv und bedeutungsvoll aufgenommen. Bereits in Pseudo-Philo 9, 10 wurde entlang von Ex 2 die prophetische Tradition weitergeschrieben. Der Geist Gottes sei über Mirjam gekommen und sie habe im Traum gesehen, dass ihre Mutter einen Sohn gebären werde, der Israel retten würde.

Auch die bekannte Tradition, Gott habe für die Verdienste Moses, Aarons und Mirjams nach deren Tod drei Gaben gegeben, darunter für Mirjam den Brunnen, ist bereits in Pseudo-Philo bezeugt (20, 8).

Die apokalyptische Literatur erinnert an die Aussage in Mi 6,4, dass Mirjam gemeinsam mit Mose und Aaron gesandt wurde (syrBar 59, 1; hebrHen 45, 4; Text Pseudepigraphen).

4.2. Mirjam in der rabbinischen Literatur

Vor allem im Babylonischen Talmud werden die bereits begonnenen Traditionen aus Pseudo-Philo fortgesetzt (Prophetie in Ägypten: Megilla 14a; Sota 12b-13a; Brunnengabe: Taanit 9a; Text Talmud 2).

Darüber hinaus erzählt eine weitere prophetische Tradition Mirjams, dass Mirjams Vater → Amram nach dem Befehl Pharaos, alle Knaben zu töten, gar kein Kind mehr zeugen und sich von seiner Frau trennen wollte. Mirjam habe ihm aber erklärt, dass dies noch schlimmer sei als der Befehl Pharaos, weil Amram durch sein Handeln jedes weitere Leben verhindern würde (Babylonischer Talmud, Traktat Sota 12a).

Literaturverzeichnis

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