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(erstellt: Januar 2012)

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Midrasch (Plural: Midraschim) bezeichnet die Methode der Rabbinen, die Schrift auszulegen, und dient darüber hinaus als Gattungsbegriff für die Auslegung einzelner Verse und ganzer Bücher der Hebräischen Bibel.

1. Begriff

Trotz intensiver Bemühungen ist es der Gelehrtenwelt bis auf den heutigen Tag nicht gelungen, eine umfassende und mehrheitlich akzeptierte Definition des Begriffes Midrasch zu entwickeln. Ob dies Unterfangen überhaupt sinnvoll ist, wird von einigen bezweifelt: „The phenomenon „midrash“ cannot be grasped in one all-encompassing definition.“ (Teugels, 49). Dieses Schicksal teilt der Terminus Midrasch im Übrigen mit anderen generischen Begriffen wie „Legende“ oder „Erzählung“.

Auch die sprachliche Ableitung des Wortes Midrasch (מִדְרָשׁ midrāš) vom hebräischen Verb דרשׁ drš „erkunden / befragen / erforschen / suchen / fordern“ hilft bei der Bestimmung seiner Bedeutung kaum weiter. Für das Nomen מדרשׁ bietet die Hebräische Bibel nur zwei relativ späte Belege (2Chr 13,22; 2Chr 24,27), deren Bedeutung („Buch“ oder „Werk“) unsicher ist. Erst in deuterokanonischen Texten wie → Jesus Sirach (Sir 51,23 [Lutherbibel: Sir 51,31]) oder in der → Qumranliteratur (z.B. מדרש התורה in 1QS 8,15 oder CD 20,6) lässt sich eine Verfestigung des Begriffs in Richtung auf „Lehre“, „Belehrung“ oder „Auslegung“ beobachten. An diese Entwicklung knüpft die rabbinische Literatur an (vgl. Stemberger, 258 f.).

Bevor ein genauerer Blick auf Geschichte und Entwicklung des Terminus weiteren Aufschluss ermöglicht, soll als Ausgangspunkt und weitgehend akzeptierter Forschungsstand festgehalten werden, dass mit dem Begriff Midrasch (vgl. Porton, 520)

(1) ein literarisches Genre bezeichnet werden kann, das sich im Kontext der rabbinischen Bewegung zu seiner markanten Form entwickelte und einen expliziten Bezug zur Hebräischen Bibel aufweist;

(2) eine hermeneutische Methode bzw. ein hermeneutisches System beschrieben wird, das einen expliziten Bezug zur hebräischen Bibel aufweist;

oder

(3) eine einzelne Auslegung zu einem biblischen Vers gemeint sein kann.

In den Worten von James Kugel (91): „The word has been used to designate both the activity of interpretation and the fruits of that activity.“

Die zweite Bedeutungsebene des Wortes Midrasch führt allerdings bisweilen zu inflationärem Gebrauch des Begriffs in der Literaturtheorie. Ob die Verwendung von „Midrasch“ auch weit außerhalb seines jüdischen Kontextes berechtigt ist, wird in der Forschung heftig diskutiert (vgl. Teugels, 43-63). Wiewohl eine klare Definition von Begriffen in der Wissenschaft eine Kardinaltugend darstellt, erscheint diese Debatte insofern müßig, als dass man keiner Disziplin verwehren kann, sich der Termini anderer zu bedienen.

Die Streitfragen in der gegenwärtigen Forschung werden durch die beschriebenen definitorischen Probleme wesentlich geprägt: Je nachdem, ob man den Midrasch primär als hermeneutische Methode (z.B. Kugel, Boyarin) oder vor allem als literarisches Genre (Neusner, Porton) betrachtet, wandelt sich der methodische Zugriff auf die Texte. Erstere Fraktion sieht die Midraschim eher als Anthologien rabbinischer Traditionen, deren Bestandteile man auch unabhängig von ihrem jeweiligen literarischen Kontext (synoptisch) analysieren kann. Die zweite Gruppe besteht darauf, jeden einzelnen Midrasch als planvoll gestaltetes Dokument zu betrachten, dessen einzelne Elemente man vornehmlich in ihrem vorfindlichen literarischen und somit intellektuellen Umfeld zu deuten hat. Es scheint sinnvoll, die Positionen dialektisch aufeinander zu beziehen und sich die methodischen Konsequenzen einer jeden definitorischen Entscheidung zu vergegenwärtigen (vgl. sehr instruktiv: Bakhos, 167-178). Niemand würde ja denn auch tatsächlich bestreiten, dass der Midrasch eine distinkte Hermeneutik praktiziert und es gleichermaßen literarische Werke dieses Namens gibt.

Eine weitere wichtige Diskussion rankt sich um die Frage, ob (und wenn ja, wie) der Midrasch mit seinem historischen Umfeld in Verbindung zu bringen ist. Die Zeiten, in denen man die narrativen Traditionen der Rabbinen naiv und prima facie als historische Berichte verstanden hat, sind längst vorüber. Allerdings hat auch hier das Pendel zunächst ins andere Extrem ausgeschlagen, so dass man die historische Kontextualisierung der rabbinischen Texte durch einen strikt literarischen Zugriff zu ersetzen trachtete: Midrasch, insbesondere die in ihm enthaltenen Erzählungen, seien fiktive Texte mit vornehmlich didaktischen Zielen und nahezu ohne historische Relevanz.

Auch in diesem Fall bewegen sich die Stellungnahmen inzwischen auf eine dialektische Verbindung beider, der literarischen und der historischen Bezüge des Midrasch, zu. Diese Entwicklung firmiert – insbesondere in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft – unter dem Stichwort „the return to history“ bzw. „cultural poetics“. Die Grundeinsicht dabei lautet, dass nicht nur die Texte eine Geschichte haben („historicity of texts“), sondern die Geschichte selbst vorwiegend in Textform („textuality of history“) zugänglich ist (vgl. Montrose, 6). Mehr noch: Texte spiegeln ihren sozio-historischen Kontext nicht einfach nur, sondern suchen ihn auch zu verändern. Auf den Midrasch angewandt bedeutet dies – insbesondere für seine erzählerischen Teile, aber auch für seine Struktur – ihn als Teil eines kulturellen Programms zu deuten, das auf die ihn umgebende Kultur Einfluss zu nehmen trachtet (vgl. Levinson, 206).

2. Geschichte des Begriffs

Wendet man sich der Entwicklung des Terminus Midrasch innerhalb der klassischen jüdischen Tradition zu, dann wird unmittelbar deutlich, dass der Gebrauch des Wortes noch erheblichen Wandlungen unterlag.

1. Mischna. So findet der Begriff מדרש in der → Mischna (Ende 2. / Mitte 3. Jh.), wenn man die zehn Belege für Bet ha-Midrasch (Lehrhaus) außer Acht lässt, nur vier Mal Anwendung – und dies gleich in drei verschiedenen Bedeutungen: Er bezeichnet das Lehren und Lernen allgemein (Mischna Avot [mAv] I,17), eine Auslegung eines Bibelverses (Mischna Ketubbot IV,6; Mischna Scheqalim VI,6) sowie eine spezifische Form des Lehrens, das neben den Halachot (Handlungsnormen), den Aggadot (Plural von → Aggada, narrative Traditionen) und der Bibel selbst genannt wird (Mischna Nedarim IV,3).

2. Tosefta. In der Tosefta, einem der Mischna vermutlich weitgehend parallel gestalteten Kompendium der Halacha, kommt der Begriff häufiger zum Tragen, wobei es weit überwiegend um eine ganz bestimmte Form des Lehrens geht (Tosefta Berakhot 2,12; Tosefta Eruvin 8,17= 8,23f. par Tosefta Hagiga 1,11=1,9; Tosefta Sota 7,13=7,21). Dabei fällt auf, dass die Kategorie Midrasch neben die der Bibel, Mischna, Halachot und Aggadot gestellt wird. Ein weiterer Beleg weist in eine ähnliche Richtung, wobei in diesem Fall interessante Abstufungen vorgenommen werden. Kontext der folgenden Ausführungen bilden Gerichtsentscheidungen, für die nach Entscheidungskriterien gesucht wird.

„Die gesamte Tora wird als eine einzige [relevante] Angelegenheit betrachtet. Eine [relevante] Angelegenheit und eine [irrelevante] Angelegenheit: man halte sich an die [relevante] Angelegenheit. Ein Präzedenzfall und kein Präzedenzfall: man halte sich an den Präzedenzfall. Halacha und Midrasch: Man halte sich an die Halacha. Midrasch und Aggada: Man halte sich an den Midrasch. Midrasch und Argument a fortiori (qal wa-chomer): Man halte sich an das Argument a fortiori. Argument a fortiori und Analogieschluss: man halte sich an das Argument a fortiori.“ (Tosefta Sanhedrin 7,7)

Diese Aussage suggeriert, dass es sich beim Midrasch um eine Tradition neben Halacha und Aggada handelt, die höher zu bewerten ist, als die narrative Überlieferung (Aggada). Andererseits werden hermeneutisch-logische Prozeduren der Entscheidungsfindung – mindestens der Schluss a fortiori – als relevanter bewertet als der Rückgriff auf „Midrasch“. Dieser kann, wie Mischna, Halachot und Aggadot „studiert“ werden (לשנות במשנה במדרש בהלכות ובאגדות in Tosefta Sanhedrin 2,12); was bedeutet, dass es sich um eine irgendwie geprägte Tradition handelt.

3. Midrasch. Anders präsentiert sich das Bild in den alten (halachischen) Midraschim selbst, deren Redaktionsprozesse in etwa dieselbe Zeit (spätes 3./Anfang 4. Jh.) fallen und die in Palästina entstanden sind. In der Mekhilta de-Rabbi Jischma’el wird der Begriff (sieht man wiederum vom Bet ha-Midrasch ab) nur im Plural verwendet. Die zwei Belege (Amaleq IV zu Ex 18,17 und Ex 18,20) werden verwendet, um das biblische Wort „Setzungen“ (חוקים) zu erläutern; „Midraschot“ sind in der Mekhilta also – im vermutlichen Unterschied zur Tosefta – eine Form der Halacha. Ähnlich steht es um die überwiegende Zahl der Belege in der Sifra. Sifre Bemidbar (Numeri) nutzt das Wort nur im Zusammenhang mit Schule und Lehrhaus. Das Parallelwerk zum Buch Deuteronomium, Sifre Devarim, enthält sowohl die Auffassung, der zufolge Midrasch mit dem biblischen Wort חוקים gleich zu setzen ist (vgl. Mekhilta und Sifra), als auch diejenige der Tosefta, nach der Midrasch als ein Begriff neben Halacha und Aggada verwendet wird. In einer Tradition zur Übergabe des → Dekalogs wird berichtet, dass jedes einzelne Gebot vom Munde des Ewigen ausging und jeden Einzelnen am Sinai Anwesenden darüber unterrichtete, „wie viel Midrasch es in ihm gibt, wie viel Halacha es in ihm gibt und wie viele Schlüsse a fortiori es in ihm gibt und wie viele Analogieschlüsse es in ihm gibt.“ (Sifre Devarim Ha’asinu § 213)

4. Talmud. In beiden Talmudim wird „Midrasch“ weit überwiegend entweder recht unspezifisch „Lehre“ (vgl. Babylonischer Talmud, Traktate: Berakhot 77b; Jevamot 117a; Baba Qamma 17b u.ö.; Text Talmud) oder präziser für die Interpretation der Bibel bzw. eines Verses gebraucht (Jerusalemer Talmud, Traktat Joma 16a; Jerusalemer Talmud, Traktate: Megilla 13b; Baba Batra 108b u.ö.). Über die bloße Bezeichnung hinaus reicht jedoch eine Reflexion zum Verhältnis divergenter Schriftinterpretationen zueinander, wie sie jSchev 21b [Jerusalemer Talmud, Traktat Scheviit] enthält, da es heißt: „Jeder Midrasch, den du lehrst und [der] einen ersten [voraufgehenden] Midrasch zerbricht, ist kein Midrasch.“

Über den Stellenwert von „Midrasch“ im Gefüge der rabbinischen Gelehrsamkeit äußert sich indirekt bQid 49a [Babylonischer Talmud, Traktat Qidduschin]. Kontext der Darstellung ist die Selbsteinschätzung eines angehenden Ehemannes seiner potentiellen Angetrauten gegenüber. Sollte dieser von sich behauptet haben, er sei fähig, (einigermaßen) Bibel zu lesen (קריינא), so muss er mindestens drei Verse im Bethaus vorzutragen imstande sein, sonst wäre seine Aussage unglaubwürdig und die Verlobung somit ungültig. Sollte er sich indessen als (echter) Schriftkundiger (קרא) bezeichnet haben, müsse er alle drei Teile der Bibel akkurat lesen können. Hätte er sich seiner künftigen Frau hingegen als Lernender (Gelehrtenschüler) präsentiert, dann gehen die Meinungen der Rabbinen zu den Prüfkriterien auseinander:

„Chisqija sagte , [er müsse dann] Halachot [studieren]; und Rabbi Jochanan sagte: Tora. Man wandte ein: Was ist Mischna [Lehre]? Rabbi Me’ir sagt: Halachot und Rabbi Jehuda sagt: Midrasch. Was ist Tora? Auslegung von Tora [Midrasch Tora]. Siehe aber, dies gilt, wenn er ihr sagte: Ich lerne. Wenn er ihr aber sagte: Ein Gelehrter [תנא] bin ich!, dann muss er Halacha, Sifra und Sifre und Tosefta studiert haben.“ (bQid 49a.b)

Aus dem Katalog der Prüfkriterien wurde einmal mehr deutlich, dass „Midrasch“ im Sinne von Schriftinterpretation für den Talmud ebenso zu den zentralen Aktivitäten eines (zukünftigen) Gelehrten gehört, wie die Kenntnis einiger „Midraschim“, namentlich Sifra und Sifre, als Kanon eines anerkannten Weisen vorausgesetzt wird. Zu konstatieren ist dennoch, dass der Terminus Midrasch als Genrebezeichnung (z.B. für Sifra oder Sifre) in der rabbinischen Literatur keine Anwendung findet – was jedoch insofern nicht erstaunlich ist, als dass es für ein solches definitorisches Unterfangen in der Regel eines gewissen zeitlichen Abstands bedarf.

5. Mittelalter. Dieser lässt sich für den großen mittelalterlichen Exegeten Schlomo ben Jitzchaki (→ Raschi, 1040-1105) natürlich voraussetzen. Und so zeigt sich bei ihm eine Definition des Begriffes, wie er auch die eingangs skizzierten Forschungsdiskussionen dominiert. In seinem Kommentar zu bBer 11b hält Rasch“i lakonisch fest: „Midrasch – das ist nahe an der Schrift , wie zum Beispiel Mekhilta und Sifra und Sifre, denn sie sind Auslegungen [מדרשי] der Schrift.

Als sich in der mittelalterlichen Bibelexegese, als deren unumstrittener Meister und Impulsgeber Rasch“i anzusehen ist, unterschiedliche Zugänge zur Schrift aufzufalten beginnen, entwickelt sich auch der dritte Gebrauch des Wortes Midrasch als einer distinkten hermeneutischen Methode. Rasch“i verwendet den Begriff in diesem Sinne; im Hochmittelalter wird man ebendiese Form der Bibelinterpretation als eher „derasch“ (דרש) bezeichnen. In seiner Einleitung zum Hohelied-Kommentar äußert sich Rasch“i programmatisch zum Midrasch:

Ich fand zu diesem Buch [dem Hld] etliche Midrasche Aggada. Es gibt [welche], die ordnen dieses gesamte Buch in einem Midrasch [nach einer hermeneutischen Strategie?] und es gibt [welche], die in etlichen Midrasche Aggada zerstreut sind [als] Einzelerklärungen von Schriftversen. Sie befinden sich aber nicht in Übereinstimmung mit der Sprache der Schrift und der Anordnung der Verse. So sagte ich mir, ich solle die [exakte] Bedeutung [משמעות] der Schrift erfassen und ihre Erklärung mit ihrer Anordnung in Übereinstimmung bringen. Und die Midraschot unserer [rabbinischen] Meister würde ich Midrasch für Midrasch festsetzen – einen jeden an seinen Ort.“

Die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes Midrasch als distinktes Werk der rabbinischen Meister, als Interpretation eines einzelnen Verses und als Methode der Rabbinen, die Schrift zu interpretieren, finden sich in dieser Aussage versammelt – ebenso wie der Ansatz Rasch“is, den Midrasch mit der „exakten Bedeutung“ (→ Peschat) der Hebräischen Bibel zu harmonisieren.

3. Der Midrasch als literarische Gattung und Textkorpus

Unter Rückgriff auf traditionelle Kategorisierungen hat es sich in der Wissenschaft eingebürgert, die Midraschim in halachische und haggadische einerseits sowie in exegetische und homiletische Werke andererseits zu unterteilen. Diese Kategorisierung ist – wie Stemberger (264) zu Recht anmerkt – recht ungenau und mitunter inkonsistent, hat aber mangels besserer Vorschläge Bestand. Dabei versteht man unter halachischen Midraschim Werke, die sich in erster Linie mit halachischen Texten der Bibel auseinandersetzen; unter haggadischen solche, die vor allem Erzählungen des Tenach (→ Kanon) zum Gegenstand haben. Exegetische Midraschim präsentieren ihr Material entlang der Verse des biblischen Buches, auf das sie sich beziehen; homiletische bieten nach festen rhetorischen Mustern geordnete Texteinheiten. Deren Ausgangsvers kann zwar aus einem bestimmten Buch (etwa Leviticus in Wajjiqra Rabba) stammen, im Mittelpunkt der Homilien stehen jedoch bestimmte Themen (sog. Jelamdenu-Form), Feste oder ein Textgefüge aus mehreren Teilen der Bibel. Die beiden Definitionspaare heben also auf unterschiedliche Merkmale – den zugrunde liegenden Text resp. die Organisation des Materials – ab, was weitere Inkonsistenz bei der Zuordnung zur Folge hat.

Wie die folgende Übersicht zeigt, konzentrierte sich das Interesse der Rabbbinen zunächst auf das Zusammenstellen von (überwiegend) halachischen Traditionen – also auf Midraschim zu Exodus, Leviticus und Numeri / Deuteronomium. In einem nächsten Schritt ergänzte man die Sammlung durch weitere exegetische Überlieferungen zur Tora; insbesondere zu Genesis und – man höre und staune: Leviticus. Letzteres hatte zweifellos seinen Grund in der liturgischen Verwendung der Tora. Diese wurde in einer lectio continua in den Synagogen und Versammlungshäusern vorgetragen und von Erläuterungen (Predigten oder Homilien) flankiert. Da sich solcherart Erklärungen zum Buche Leviticus vermutlich besonders mühselig gestalteten, nimmt es nicht wunder, dass zu diesem biblischen Buch recht früh ein „homiletischer Midrasch“ (Wajjiqra Rabba, 5. Jh.) geschaffen wurde.

Ein liturgisches Interesse wird auch hinter dem Entstehen der Midraschim zu den → Megillot zu vermuten sein, da diese, wie der Name impliziert, zu großen jüdischen Festen vorgetragen wurden. Ganz ausdrücklich zum praktischen Einsatz im Umfeld der Schriftlesungen dienten dann auch die älteren Sammlungen von Homilien zu Festen und herausgehobenen Schabbatot, wie die Pesiqta de-Rav Kahana (PRK, 5. Jh.) eine ist. In ihr finden sich Traditionen zu unterschiedlichen biblischen Büchern; im gleichfalls homiletisch ausgerichteten Midrasch Tanchuma (5.-7.Jh.) bilden Texte der gesamten Tora den Ausgangspunkt der Homilien.

Den Schlussakkord bei der Herausbildung des „klassischen“ Textkorpus bilden Midrasch-Kompendien oder Sammlungen, die sich im Mittelalter herausbildeten. Die bekanntest unter ihnen ist der Jalqut Schim’oni (Jalqut, 12./13. Jh.), der Midrasch-Traditionen aus mehr als fünfzig Werken zusammenträgt (vgl. Stemberger, 388).

Neben diesen Hauptformen der Midrasch-Literatur existieren weitere unter dem generischen Begriff Midrasch subsummierte oder direkt als solche bezeichnete Werke, wie zum Beispiel ethisch (Tanna de-be-Elijahu) oder satirisch (Otijot de-ben Sira) ausgerichtete Schriften, Teile der Hekhalot-Literatur (Otijot de-Rabbi Akiba) oder Chronikartige Werke (wie der Seder Olam Rabba).

Midrasch 1

Die nebenstehende Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit (vgl. dafür Stemberger, 257-397); sie verzeichnet nur eine Auswahl der bekanntesten Midraschim. Die angezeigte Datierung orientiert sich gleichfalls an Stemberger, wobei die Angaben sich oft auf die Fertigstellung einer vermuteten Grundschicht beziehen, die späteren Überarbeitungen und Ergänzungen unterworfen sein konnte.

Sieht man von den späten (mittelalterlichen) Midraschim einmal ab, sind die Midraschim sämtlich in Palästina entstanden. Es handelt sich also um eine dort typische Umgangsweise mit den biblischen Traditionen. Die babylonisch-rabbinischen Redaktoren und Kompilatoren vergleichbaren Materials haben es vorgezogen, dieses in den Babylonischen Talmud zu inkorporieren.

4. Midrasch als (hermeneutische) Methode

Zwei auf den ersten Blick komplett gegensätzlich erscheinende Grundsatzaussagen zur Bibel und den Möglichkeiten ihrer Interpretation beschreiben den weiten Horizont dessen, was die rabbinische Hermeneutik überspannt:

(1) „Drehe und wende sie [die Tora], denn alles ist in ihr!“ (mAv).

(2) „Die Tora redet entsprechend der menschlichen Sprache.“ (bBer 31b, bKet 67b, bNed 3a u.ö.).

Beide Überzeugungen bestehen nebeneinander: Jeder Vers der Bibel hat gleichzeitig mehrere Bedeutungen (oft wird hier Ps 62,12 begründend herangezogen); jedes Detail des Textes hat seine eigene Aussagekraft („Omnisignifikanz“) – aber andererseits kann die Erhebung dieser Bedeutungen und die Detailanalyse zum Beispiel von Wortwurzeln und Partikeln nicht willkürlich erfolgen.

Basis des gesamten methodischen Gebäudes ist die Heiligkeit der Bibel („Omnisignifikanz“), die in der Sprache des Ewigen und der Engel verfasst ist und nie anders als auf Hebräisch studiert werden darf. Es ist also nicht nur die Sprache als Abfolge von Worten bedeutungsträchtig, sondern auch die Form der Buchstaben, deren Aussehen, Klang, die Assonanzen zwischen Wörtern, der Zahlenwert der Buchstaben oder die Anzahl von Zeichen und Wörtern. Und zugleich ist die Tora eben auch in die Hand der Menschen gegeben, redet ihre Sprache – will also verstanden werden.

In zahlreichen Werken älteren Datums sind die beiden oben genannten Grundsatzaussagen quasi zwei exegetischen „Schulen“, derjenigen des Rabbi Jischma’els (2) und der des → Akiba (1), zugeschrieben worden. Man hat sich auch redlich bemüht, insbesondere die halachischen Midraschim jeweils einer von ihnen zuzuordnen – je nachdem, ob ihn ihnen eher dicht am Bibeltext oder vermeintlich phantasievoller interpretiert worden ist und welche Methoden dabei bevorzugt zum Einsatz kamen (vgl. Hoffmann). Diese Hypothese, inzwischen auch weithin aufgegeben (vgl. Stemberger, 273-276), verstellt eher den Blick darauf, dass es den Rabbinen gerade um die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen Heiligkeit und Transparenz der Bibel zu tun ist.

5. Bedeutung des Midrasch

Der Midrasch kann als eine der erfolgreichsten Unternehmung der jüdischen Tradition angesehen werden: sei es als Gattung, als distinktes Korpus von Werken oder als Methode. Midraschim werden studiert, kommentiert und noch immer neu geschrieben. Ihre Blütezeit reichte von der Spätantike bis weit in das Mittelalter hinein. Sie interferieren methodisch und inhaltlich mit anderen wesentlichen Korpora der jüdischen Traditionsliteratur, wie zum Beispiel esoterischen (früher „mystischen“) Schriften wie dem berühmten Sefer Jezira oder den Hekhalot-Texten (ab dem 3. Jh.).

Eine atemberaubende Renaissance erlebt der Midrasch denn auch mit dem Sohar, dem Hauptwerk der klassischen Kabbala. Diese Gruppe von Texten, verfasst von einem kastilischen Kabbalistenkreis um Mosche ben Schem Tov de León (1250-1305), präsentiert sich als Midrasch zur Tora und den → Megillot (vor allem zu Genesis / Bereschit). Die Autoren wollten ihr Werk als apokryphe Schöpfung des Rabbi Schim’on bar Jochai, eines (legendären) rabbinischen Gelehrten des 2. Jh. erscheinen lassen. Im Sohar sieht sich das polyvalente Bedeutungsspektrum des sefirotischen Systems stringent auf biblische Texte angewendet. (Fast) jeder der zehn offenbaren Aspekte des Ewigen („Sefirot“) wurde im Laufe der Entfaltung der kabbalistischen Systeme mit einer Vielzahl von Phänomenen identifiziert: mit biblischen Personen, Eigenschaften, Elementen, Zahlen, Farben und anderem. Jede Erwähnung eines dieser Topoi in biblischen Schriften ermöglichte dem soharischen Midrasch schier unergründliche Assoziationsketten.

Ähnlich erfolgreich beeinflusste der Midrasch die Kommentar- und homiletische Literatur des Judentums. Zu den großen Midraschim wurden und werden seit dem Mittelalter (selbstverständlich) kontinuierlich Kommentare verfasst. Als Methode dominiert der Midrasch nach wie vor das Genre der Homiliensammlung der jüdischen Meister, Kompilationen gelehrter Exkurse anlässlich von Schabbat oder Festzeit, die sich vor allem im haredischen (chassidisch oder litauisch „ortodoxen“) Lager größter Beliebtheit erfreuen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • A Dictionary of Biblical Interpretation, London 1990
  • Encyclopedia of Midrash. Biblical Interpretation in Formative Judaism, Leiden 2004
  • Encyclopaedia Judaica, 2. Aufl., Detroit u.a. 2007

2. Weitere Literatur

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  • Bakhos, C., 2006, Method(ological) Matters in the Study of Midrash, in: dies. (Hg.), Current Trends in the Study of Midrash, Leiden, 161-187
  • Bodendorfer, G. / Millard, M., (Hgg.),1998, Bibel und Midrasch. Zur Bedeutung der rabbinischen Exegese für die Bibelwissenschaft (Forschungen zum Alten Testament 22), Tübingen
  • Boyarin, D., 1991, Intertextuality and the Reading of Midrash, Bloomington
  • Goldberg, A., 1985, Analysis of Midrashic Literature as a Method of Description, JJS 36, 159-174
  • Goldberg, A., 1982, Die funktionale Form Midrasch, FJB 10, 1-45
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  • Neusner, J., 1998, Invitation to Midrash, Atlanta
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  • Porton, G.G., 2005, Art. Midrash, Definitions of, in: Encyclopedia of Midrash, Leiden, Bd. 1, 520-534
  • Stemberger, G., 9. Aufl. 2011, Einleitung in Talmud und Midrasch, München
  • Teugels, L., 1998, Midrash in the Bible or Midrash on the Bible? Critical Remarks about the Uncritical Use of a Term, in: Bodendorfer 1998, 43-63
  • Weiss-Halivni, D., 1986, Midrash, Mishnah and Gemara: The Jewish Predelection for Justified Law, Cambridge/Mass. / London

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