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Matriarchat / Mutterrecht

(erstellt: August 2006)

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1. Religionsphilosophisch / ethisch

1.1. Begriff

Der Begriff Matriarchat ist ein Kunstwort, das in der Neuzeit aus lateinisch mater „Mutter“ und altgriechisch archē gebildet wurde. Dabei wird Letzteres in der Doppelbedeutung von „Anfang“ und „Herrschaft“ verwendet. Erstmalig taucht der Begriff in der ethnologischen und rechtshistorischen Diskussion des 19. Jh.s auf und wird vor allem mit den Theorien von Johann Jakob Bachofen (1815-1887) in Verbindung gebracht. Auf der Grundlage antiker Mythen und im Kontext polarer Geschlechtscharaktere entwickelte er in seinem 1861 erschienenen Werk „Das Mutterrecht“ eine eigene Theorie der Gynaikokratie (Frauenherrschaft). In seinem Entwurf versucht er zu zeigen, dass sich durch die Entwicklung vom „Mutterrecht“ zum „Vaterrecht“ der Geist von der Natur befreien und die Menschheit ihr irdisches Dasein zur „Reinheit des göttlichen Vaterprinzips“ (Bachofen 1948, Bd. 2, 53) erheben konnte.

1.2. Aufnahmen der Matriarchatstheorie

Während Bachofen zu Beginn heftiger Kritik ausgesetzt war, erfuhr sein Buch im Rahmen der Modernekritik der 20er Jahre des 20. Jh.s durch psychologische und sozialwissenschaftliche Autoren und in der nationalsozialistischen, völkischen Rezeption Zustimmung.

Auf dem Hintergrund der Frauenbewegung der 70er Jahre wurde das Matriarchat als Ideal einer strukturellen Alternative zum Patriarchat diskutiert. In den 80er Jahren verwandelte sich der zuvor primär politisch motivierte Matriarchatsfeminismus weitgehend zur Matriarchatsspiritualität. So sieht eine der prominentesten Vertreterinnen dieser Richtung, Heide Göttner-Abendroth, die heilige Ordnung der Großen Mutter in der Natur, im Kosmos und in der ganzen Welt symbolisiert. Sie wird als dreifaltige Mädchen-, Frauen- und Unterweltsgöttin durch ritualisierte Jahreszeitfeste, Kreis- und Spiraltänze verehrt.

1.3. Kritik

Kritisiert wird an Matriarchatstheorien, dass sie weibliche und männliche Geschlechtsstereotypen, sowie Ursprungsvorstellungen einer reinen guten, weiblichen Welt reproduzieren. Bezweifelt wird auch das emanzipatorische Potential einer auf Mütterlichkeit und Fruchtbarkeit konzentrierten Vorstellung des Frauseins. Darüber hinaus werden die religionsgeschichtlichen und ethnologischen Grundlagen der Matriarchatsforschung infrage gestellt bzw. anderes interpretiert. Hier hat die Matriarchatsforschung Kritiker und Kritikerinnen zu differenzierten Forschungen angeregt, die die Frage von Macht und Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter jenseits einer überholten Dichotomie von Matriarchat und Patriarchat in unterschiedlicher Weise beschreiben.

2. Religionsgeschichtlich

2.1. Alter Orient

Charakteristisch für die Matriarchat-Forschung ist, dass sie den Mythos als Zeitzeugnis liest, indem sich reale geschichtliche Ereignisse spiegeln. Doch lassen sich die seit Bachofen und von anderen Religionsforschern übernommenen (vgl. z.B. Heiler) immer wieder zitierten Kernthesen, wie beispielsweise die vom (unselbstständigen) „Sohngeliebten“ in den Armen der Mutter oder vom geopferten „Heros“ kaum belegen. Vielmehr beschreiben schon die ältesten schriftlichen Quellen eine beeindruckende Vielfalt von großen Göttinnen, von denen die berühmtesten Kampf- und Liebesgöttinnen (Innana / Ischtar, Astarte, Anat) Mutter- oder Weisheitsgöttinnen sind. Dabei haben sich im Mittelmeerraum berühmte Götterpaare gebildet: Inanna / Dumuzi, Ischtar / Tammuz, Aprodite / Adonis und Isis / Osiris (vgl. Zingsem, Matriarchat).

2.2. Altes Testament

Im biblischen Zusammenhang konnte die in Jer 7,17.18 und Jer 44,15-25 erwähnte Himmelskönigin als Repräsentantin des Matriarchats erscheinen, das Frieden, Sattwerden, Glück verheißt. Ihr wird JHWH, der Gott Israels, gegenübergestellt, der für Patriarchat, Krieg, Hunger, Unglück im Alten Testament gesehen wird (Sorge, 52). Der häufig mit der Suche nach einem verlorenen Matriarchat im Alten Testament verbundene Antijudaismus hat zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb feministischer Theologien geführt (Wacker), die einige ihre Positionen korrigieren ließen (Weiler).

Unter anderem in kritischer Auseinandersetzung mit Matriarchat-Hypothesen entstanden umfangreiche Studien, die die Vielfalt der altorientalischen Göttinnen zeigen, ihrer Verehrung durch Frauen und Männer neben JHWH und anderen männlichen Göttern in biblischen Texten nachgehen und ihre Kulte auf dem Hintergrund archäologischer Befunde für unterschiedliche Phasen der Geschichte Israels wahrscheinlich machen (Winter, Jost, Schroer). Der polytheistische Kontext des alten Orients ermöglichte Frauen die Entwicklung eines eigenständigen Priestertums, indem sie u.a. auch die jeweilige Göttin im Kult repräsentierten. Allerdings war das Priestertum von Frauen nicht auf den Kult von Göttinnen beschränkt, jedoch in den oberen Rängen der Hierarchie nur wenigen Ausnahmefrauen der Oberschicht zugänglich. Dies ist auch für Israel, z.B. im Zusammenhang der Verehrung der Himmelskönigin, wahrscheinlich (Jost 1995, 72-96).

2.3. Christentum

Das Christentum konnte auf Verbreitung und Symbolik der schon erwähnten Götterpaare, vor allem des Isis- und Osiris-Kultes zurückgreifen. Anders als Jesus ist Osiris keine historische Gestalt, sondern bleibt Teil des Naturzyklus, und Maria, die an die Stelle von Isis trat, ist keine eigenständige Göttin oder Erlöserin.

Ungeklärt ist nach wie vor die Entstehung der Göttinnensymbolik, die zwar keinen einfachen Rückschluss auf den sozialen Status von Frauen erlaubt, aber auch nicht unabhängig von sozialen und historischen Bezügen beantwortet werden kann (Zingsem 2002).

3. Soziologisch / Ethnologisch / Sozialgeschichtlich

3.1. Differenzierungen

Statt von Matriarchat (Bachofen / Morgan) wird in der neueren Ethnologie zwischen Matrifokalität (weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens werden durch die Mutter bestimmt), Matrilinearität (die Vererbungslinie läuft über die Mutter), Matrilokalität (der Wohnsitz ist bei der Mutter) und Geschlechtssymmetrie unterschieden (vgl. Wesel, 71-73). Lenz / Luig sehen Geschlechtssymmetrie dort, wo Frauen Kontrolle über die eigenen Produktionsprozesse, die Reproduktion der Nachkommen, eine eigenständige Bestimmung über die Sexualität und über den Körper, (proto-)politische Autorität sowie kreative und sozial hoch bewertete Positionen in der symbolischen Ordnung und den rituellen und religiösen Aktivitäten zu ihrer Aufrechterhaltung haben. Dies trifft vor allem auf vorstaatliche bzw. staatenlose Gesellschaften zu, die aber durch politische und wirtschaftliche Kolonisierung stark zurückgedrängt bzw. in ihrer Existenz bedroht sind. Dabei bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern (Partikularismus).

3.2. Alttestamentliche Wissenschaft und Anthropologie

Innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft lassen sich, ähnlich wie in der Anthropologie, zwei Richtungen unterscheiden. Eine ältere, die die universale Unterordnung der Frau auch in den Texten des Ersten Testaments bestätigt und Israel als patriarchale und vor allem patrilineare (Utzschneider, 60-97; Stager, 24ff; Gerstenberger 1988, 22) Gesellschaft sieht, und eine jüngere, die stärker differenziert. Beispielsweise lassen Verbote, mit der Schwiegermutter (Lev 18,17; Dtn 27,23) oder der Tante mütterlicherseits (Lev 18,18; Lev 20,14) sexuell zu verkehren, erkennen, dass Matrilokalität neben Patrilokalität praktiziert werden konnte (Schäfer-Lichtenberger, 101).

3.3. Vorstaatliches Israel

Aufgrund anthropologischer und archäologischer Erkenntnisse in der Beschreibung der Geschlechterverhältnisse sowie auf dem Hintergrund von Pioniergesellschaften bzw. ethnologischen Modellen dezentraler, nicht hierarchischer staatenloser Gesellschaften, kann auch die dem Staat Israel vorangegangene Gesellschaftsform als geschlechtssymmetrisch beschrieben werden (Jost 2005). Viele Texte aus → Genesis, → Richterbuch und 1. Samuelbuch (→ Samuelbücher), die sich auf die staatenlose Zeit beziehen, bestätigen diese Hypothese, auch wenn sie erst in der Königs- bzw. exilisch-nachexilischen Zeit entstanden sind (Schroer 1995, 107-113). Sie lassen große Bewegungsfreiheit und eine breit gestreute Teilnahme von Frauen am religiösen und sozialen Leben erkennen. Eine Analyse der Texte aus dem Richterbuch auf dem Hintergrund des von Lenz / Luig entwickelten Modells lässt, je nach rhetorischer Absicht, Geschlechtsasymmetrie zugunsten der Frauen (Ri 5,13) bzw. Geschlechtssymmetrie (Ri 4; Ri 11) bis hin zur extremen Asymmetrie zugunsten der Männer (Ri 19) erkennen. Die Texte, die die mit der Richterzeit verbundene Sozialstruktur positiv darstellen, beschreiben das Bild einer weniger differenzierten Gesellschaft mit stärkerer Geschlechtssymmetrie und dadurch mehr Einflussmöglichkeiten von Frauen. Im Unterschied dazu werden die Frauen (wie auch die Männer) in den königsfreundlichen Texten Ri 17-19 ambivalent bis kritisch oder völlig machtlos dargestellt (Jost 2005).

3.4. Nachexilisches Israel

Da Frauen in der nachexilischen Zeit in ähnlichen Umständen lebten wie in der vorstaatlichen Zeit, in der die Familie zentral war (Cohn Eskenazi 1992, 118), profitierten sie auch von einer ähnlichen Verteilung der Machtverhältnisse.

Fechter (1998, 316) kommt in seiner Untersuchung über die Familie in nachexilischer Zeit, für die er u.a. Lev 18 zugrunde legt, zu dem Ergebnis, dass die Position der Mutter in nachexilischer Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen habe. Erstmals komme nun auch die matrilaterale Linie der Ehefrau in den Blick. Dies führt ihn zu der Vermutung, dass auch die gesellschaftliche Rolle der Frau eine Verbesserung erfahren habe (Fechter 1998, 316-317). Ob hier zum ersten Mal die matrilaterale Linie der Ehefrau in den Blick kommt oder ob dies nicht auch schon zu anderen Zeiten möglich war, hängt neben dem eigenen Modell für eine Geschichte Israels und der Frage, wie patriarchal bzw. patrilinear diese gewesen war, auch von Datierungsfragen ab.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.

2. Weitere Literatur

  • Bachofen, Johann Jakob, Das Mutterrecht (Stuttgart 1861), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2 und 3, Basel 3. Aufl. 1948
  • Bachofen, Johann Jakob, Mutterrecht und Urreligion (1927), Stuttgart 6. Aufl. 1984
  • Cohn Eskenazi, Tamara, Art. Ezra-Nehemia, in: Carol A. Newsome / Sharon A. Ringe (Hgg.), The Women’s Bible Commentary, Louisville 1992, 116-123
  • Cross, Frank M., Canaanite Myth and Hebrew Epic. Essays in the History of the Religion of Israel, Cambridge/MA 1973
  • Fechter, Friedrich, Die Familie in der Nachexilszeit – Untersuchungen zur Bedeutung der Verwandtschaft in ausgewählten Texten des Alten Testaments (BZAW 264), Berlin 1998
  • Gerstenberger, Erhard, S., Herrschen oder Lieben, in: Jörg Jeremias / Lothar Perlitt (Hg.), Die Botschaft und die der Boten (FS Hans Walter Wolff), Neukirchen-Vluyn 1981, 335-347
  • Göttner-Abendroth, Heide, Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchale Religion in Mythos und Märchen 1980
  • Göttner-Abendroth, Heide, Das Matriarchat, 3 Bde., Stuttgart u.a. 1988-1991
  • Heiler, Friedrich, Die Frau in den Religionen der Menschheit, Berlin 1977
  • Jost, Renate, Frauen, Männer und die Himmelskönigin, Gütersloh 1995
  • Jost, Renate, Freundin in der Fremde. Ruth und Noomi, Stuttgart 1992
  • Jost, Renate, Gender, Sexualität und Macht in der Anthropologie des Richterbuches, Stuttgart 2005
  • Lenz, Ilse / Luig, Ute, Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1995
  • Morgan, Lewis Henry, Ancient Society, New York 1963 (Nachdruck der Ausgabe von 1977)
  • Schäfer-Lichtenberger, Christa, Beobachtungen zur Rechtsstellung der Frau in der alttestamentlichen Überlieferung, in: Wort und Dienst, Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel 24 (1997), 95-120
  • Schroer, Sylvia, Auf dem Weg zu einer feministischen Rekonstruktion der Geschichte Israels, in: Luise Schottroff / Silvia Schroer / Marie Theres Wacker, Feministische Exegese (Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen), Darmstadt 1995, 83-141
  • Schroer, Sylvia, In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament (OBO 74), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1987
  • Sorge, Helga, Religion und Frau. Weibliche Spiritualität im Christentum, Stuttgart u.a. 1995
  • Stager, Lawrence E., The Archaeology of the Family in Ancient Israel, BASOR 260 (1985), 1-36
  • Utzschneider, Helmut, Patrilinearität im alten Israel – eine Studie zur Familie und ihrer Religion BN 56 (1991), 60-97
  • Wacker, Marie Theres, Die Göttin kehrt zurück. Kritische Sichtung neuerer Entwürfe, in: dies. (Hg.), Der Gott der Männer und die Frauen, Düsseldorf 1987, 11-37
  • Wagner-Hasel, B. (Hg.), Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft, Darmstadt 1992
  • Weiler, Gerda, Ich verwerfe im Lande die Kriege. Das verborgene Matriarchat im Alten Testament, München 1984
  • Wesel, Uwe, Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1980
  • Winter, Urs, Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und dessen Umwelt (OBO 53), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1983
  • Zingsem, Vera, Der Himmel ist mein, die Erde ist mein, 1995, Neuausg.: Göttinnen großer Kulturen, 1999

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