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Martyrium Jesajas (AT)

(erstellt: Mai 2011)

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1. Überlieferung, Entstehungszeit, Inhalt

Das Martyrium Jesajas (MartJes) ist ein Bestandteil der seit Hieronymus als Ascensio Jesaiae (AscJes) bezeichneten christlichen Schrift aus dem 3./4. Jh. n. Chr., die als Ganzschrift in einer äthiopischen Version überliefert ist (Text Frühjüdische Schriften). Die AscJes ist ein Beispiel dafür, „dass und wie ein jüdischer Text durch literarische Erweiterungen (…) christianisiert wurde“ (Vielhauer, 523). Diese apokryphe Schrift setzt sich aus jüdischen und christlichen Teilen zusammen. Die Schilderung des Martyriums des Propheten in Kap. AscJes 1-5 stammt vermutlich aus dem 1. Jh. v. Chr. von einem jüdischen Verfasser und war ursprünglich auf Hebräisch abgefasst. In dem Martyriumsbericht wird geschildert, wie Jesaja unter König → Manasse, dem Sohn des → Hiskia, sein Martyrium erlebt. Der Prophet wird aufgrund der Anklage des Lügenpropheten Belchira verfolgt und soll mit dem Tod durch die Säge bestraft werden. Jesaja flüchtet in einen Baum, wo er lebendig auf grausame Weise zersägt wird.

Die Schrift zeichnet Jesaja in erster Linie nicht als Seher und Prediger, sondern als vorbildlich lebenden Märtyrerpropheten, der seinen Tod schließlich allein auf sich nimmt und die anderen JHWH-Propheten vor seinem Tod noch zur Flucht auffordert, um sie zu schützen (vgl. AscJes 5,13). Wie in der jüdisch-christlichen Märtyrertheologie weit verbreitet, werden kontrastierend zu der Brutalität des Todes und zu der Verspottung durch den Lügenpropheten Belchira seine Standhaftigkeit und seine Unempfindlichkeit gegenüber den Folterqualen in nahezu idealer Weise geschildert:

“Jesaja aber schrie weder, noch weinte er, als er zersägt wurde, sondern sein Mund unterhielt sich mit dem Heiligen Geist, bis er entzwei gesägt war“ (AscJes 5,14)

Insgesamt nimmt die Schilderung des Todes in MartJes allerdings keinen großen Raum ein; der Erzählung geht es nämlich vor allem um drei Dinge: zunächst um die Schilderung von Manasses Abfall, der unter dem Einfluss des Teufels steht, sodann um die in Anklagen und Reden verfassten Denunziationen Belchiras und schließlich um die besondere Standhaftigkeit des Propheten während seines Martyriums. Ein wesentliches Anliegen der Schrift war es, die Hintergründe des Todes eines der wichtigsten biblischen Propheten in einem eigenständigen Werk zu schildern und dem Propheten Jesaja auch als Märtyrer ein besonderes Andenken zu bewahren.

In den Martyriumsbericht eingefügt wurde eine christliche Vision des Jesaja über die Ankunft Christi (AscJes 3,13 - AscJes 4,18). Später – ca. im 2. Jh. n. Chr. – entstanden Kap. AscJes 6-11, in denen die Schau des Jesaja über den Abstieg und den Aufstieg Christi beschrieben wird. Die christlichen Teile waren ursprünglich in Griechisch abgefasst. Im Folgenden konzentriert sich die Darstellung auf das Martyrium Jesajas in Kap. 1-5, die in großen Teilen jüdischen Ursprungs ist, allerdings von einem christlichen Verfasser interpoliert wurde (zu den Interpolationen vgl. Hammershaimb).

2. MartJes als Fortführung und „relecture“ der biblischen Jesaja-Tradition

Die Verfolgung und das gewaltsame Ende der Propheten gehören zum festen Bestandteil der prophetischen Rolle in der jüdisch-christlichen Überlieferung (vgl. Steck). Über Jesajas Ende und die genauen Hintergründe seines Todes ist in der Bibel allerdings nichts überliefert; möglicherweise hat man aus den Leidensschilderungen des 4. Gottesknechtslieds (vgl. Jes 52,13-53,12; → Gottesknecht) geschlossen, dass Jesaja qualvoll getötet worden ist (vgl. Schwemer). Hebr 11,37 spielt vermutlich auf die Zersägung Jesajas an, ohne jedoch den Namen des Propheten zu nennen.

Traditionsgeschichtlich gehört MartJes in die Reihe der prophetischen Märtyrergeschichten, die im Frühjudentum im Zuge der Religionsverfolgung unter Antiochos IV. und des daraus resultierenden Makkabäeraufstands entstanden sind. Da über Jesajas Tod und dessen Hintergründe in der ältesten Tradition nichts berichtet wird, lag es nahe, dem Tod eines der bedeutendsten biblischen Propheten eine eigene Schrift zu widmen und damit die „Lücke“ in der Vita des Propheten zu schließen. Die Schrift verbindet chronologisch das Ende des Propheten in Fortführung seines Auftretens unter Hiskia mit dessen Sohn und Nachfolger Manasse (696-642 v. Chr.), der bereits im → deuteronomistischen Geschichtswerk als gottlosester aller Könige Judas gekennzeichnet wird. Von ihm wird in 2Kön 21,16 auch die Verfolgung und Tötung der Propheten berichtet, womit möglicherweise bereits auf den Tod Jesajas angespielt wird.

Das Martyrium Jesajas ist somit als „relecture“ und Fortführung der biblischen Jesaja-Tradition in Kombination mit dem deuteronomistischen Geschichtswerk zu charakterisieren, wie es explizit in AscJes 2,6 zum Ausdruck kommt. Hier wird der Leser direkt auf die Bücher der Könige verwiesen, die über Manasses Wirken Aufschluss geben. Gerichts- und Umkehrpredigten sowie Visionen des Jesaja finden sich im MartJes nicht, da diese bereits hinlänglich bekannt waren. Die biblische Jesaja-Überlieferung wird vielmehr vorausgesetzt und entsprechend nicht weiter berichtet.

Ob essenische Kreise die Legende des Todes Jesaja tradiert haben, muss offen bleiben. Insgesamt ist seit hellenistischer Zeit eher ein allgemeines, weit verbreitetes biographisches Interesse an dem Geschick und dem Schicksal der Propheten zu konstatieren, wie auch die → Vitae Prophetarum zeigen.

3. Jesajas Tod – Die Zersägung

Die Hinrichtung Jesajas durch Zersägung ist seit dem 1. Jh. v. Chr. fest mit dem Namen des Propheten verbunden, geht aber vermutlich auf noch ältere, mündliche Tradition zurück. Hebr 11,37 spielt auf Jesajas brutalen Tod an; in den Vitae Prophetarum aus dem 1. Jh. v. Chr. findet sich ein weiterer, aber nur kurzer Beleg für Jesajas Hinrichtung durch die Säge unter Manasse (vgl. Jesaja-Vita 1,1).

Das Zersägen bzw. die „Zweiteilung“ galt in der Antike zunächst als seltene und äußerst brutale Form der Hinrichtung, insbesondere als rituelle Strafe für Gottesfeinde und Sakralfrevler (Belege für die rituelle Zweiteilung als Strafe für den Gottesfrevler in der Antike bei Speyer, 193ff). In der griechisch-römischen Antike wurde diese Hinrichtungsform dann politische Realität und ist seit hellenistischer Zeit historisch häufiger belegt.

Der gewaltsame Tod Jesajas durch Zersägung ist in der jüdischen und christlichen Tradition breit verankert. Die historische und traditionsgeschichtliche Bedeutung der brutalen Todesart Jesajas ist allerdings bisher ungeklärt und hat Anlass zu verschiedenen Theorien gegeben. Bereits früh gab es zwei unterschiedliche Erklärungen für die grausame Hinrichtung: erstens die falsche Anklage wegen „Blasphemie“ durch den Lügenpropheten Belchira und zweitens die besondere Grausamkeit des Manasse. Beide werden in dem Werk als „Gegenspieler“ Jesajas profiliert.

1. Da die Säge als Folterinstrument für Gottesfrevler galt, könnte hinter Jesajas Todesurteil die Anklage wegen „Blasphemie“ und „Gotteslästerung“ stehen. Genau dieser Vorwurf findet sich in AscJes 4,6-10 im Mund des Lügenpropheten Belchira (kursiv d. Verf.):

Nun verklagte Belchira den Isaias und die Propheten bei ihm, indem er sagte: „Isaias und seine Genossen weissagen gegen Jerusalem und die Städte Judas, sie sollen verwüstet werden, ebenso gegen die Kinder Judas und Benjamins, sie würden in die Gefangenschaft wandern, und auch gegen dich, Herr König, du würdest mit Haken und Eisenketten gebunden, dahinziehen.

Aber sie weissagen Lügenworte über Israel und Juda. Isaias selbst sagte: Ich sehe mehr als Moses, der Prophet. Moses sagte zwar: „Niemand kann Gott sehen und dabei am Leben bleiben“, aber Isaias sagte: „Ich sah Gott und fürwahr, ich lebe noch.“ Erkenne daraus, König, dass er ein Lügner ist!

Welcher Anklagepunkt letztlich zur Hinrichtung Jesajas geführt haben soll, lässt auch diese Schrift offen. Die traditionsgeschichtliche Herleitung des ungewöhnlichen Todes bleibt aufgrund der Quellenlage unklar. Der Fokus der Anklage gegen Jesaja liegt nämlich auch in MartJes nicht allein auf dem Vorwurf, ein „Lügenprophet“ und „Gotteslästerer“ zu sein, sondern umfasst Vorwürfe, die mit Jesajas Weissagungen gegen Jerusalem und den König zusammenhängen. Überhaupt zeigt das Werk kein Interesse an rechtlichen Fragen, vielmehr steht die dramatische Verfolgung und Denunzierung Belchiras im Vordergrund.

2. Der Tod Jesajas hat sein Grund auch darin, dass Manasse unter dem Einfluss des → Satans steht. In expliziter Anlehnung an das deuteronomistische Geschichtswerk betont MartJes die besondere Gottlosigkeit dieses Königs, die in Kap. AscJes 1-2 nochmals in Erinnerung gerufen wird. Unter Manasse, der politisch in Abhängigkeit von Assyrien geriet und den fremden Staatskult in Jerusalem tolerierte und förderte, lebte auch der von seinem Vater abgeschaffte Baals-Kult wieder auf. Politische und religiöse Oppositionelle wurden hart bestraft; die gegen sein Gewaltregime Widerstand leistenden Frommen endeten im Martyrium (vgl. 2Kön 21,16). Die in der biblischen Darstellung besondere Frevelhaftigkeit und Brutalität des Manasse sowie seine Verfolgung der Frommen bieten auch den Hintergrund für die Schilderung des Martyriums des Jesaja. Entsprechend schildert das Werk zu Beginn die Herrschaft Manasses, der sich von der Restitution des JHWH-Glaubens unter seinem Vater und Vorgänger abwendet und unter dem Ansturm der Assyrer den fremden Götterkult erneut in Juda einziehen lässt (vgl. AscJes 1-2). Jesaja und die anderen JHWH-Propheten fliehen darauf hin aus Jerusalem und ziehen sich asketisch lebend in die Wüste zurück (vgl. AscJes 2,7-16).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965

2. Weitere Literatur

  • Flusser, D., 1953, The Apocryphal Book of Ascensio Isaiae and the Dead Sea Sect, Israel Exploration Journal 3, 30-47
  • Hammershaimb, E., 1973, Das Martyrium Jesajas, JSHRZ 2, 15-34
  • Müller, C.D.G., 1989, Die Himmelfahrt des Jesaja, in: E. Hennecke / W. Schneemelcher (Hgg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 5. Aufl. Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, 547-562
  • Schwemer, A.M., 1995, Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden, Vitae Prophetarum I: Die Viten der großen Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel, Einleitung, Übersetzung und Kommentar (Texts and Studies in Ancient Judaism 49), Tübingen
  • Speyer, W., 2007, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld, in: V.C. Oberparleiter (Hg.), Kleine Schriften III, Tübingen, 193-320
  • Steck, O.H., 1967, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 23), Heidelberg
  • Vielhauer, Ph., 1975, Geschichte der urchristlichen Literatur, Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter (de-Gruyter-Lehrbuch), Berlin, 523-528

Abbildungsverzeichnis

  • Jesaja wird zersägt (Historienbibel, Wien um 1470).
  • Jesaja (links) hält als sein Zeichen eine Säge (Chorraum des Bamberger Doms, um 1220).

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