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Lüge / Lügen

(erstellt: März 2013)

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1. Lüge und Trug

Lüge im engeren Sinne liegt vor, wenn sich Personen wissentlich im Gegensatz zur „Wahrheit“ oder sie bewusst verschleiernd äußern. Die Lüge wird also meist als sprachliches Phänomen verstanden. Diese enger gefasste Bedeutung des Begriffs im deutschen Sprachgebrauch ist eingebunden in eine vorausgesetzte Hochschätzung von Wahrheit als Wert an sich. Dagegen zeigt sich im alttestamentlichen Befund, dass die Lüge vor allem dann verurteilt wird, wenn durch sie das gemeinschaftliche Leben beschädigt oder Gottes Willen falsch dargestellt wird, wohingegen Lügen, die der Gemeinschaft des Volkes dienen oder der Durchsetzung des JHWH-Glaubens, nicht problematisiert werden (vgl. dazu die Beispiele unter 4. Lügende Helden). Forschungsgeschichtlich wurde „Die Lüge nach dem Alten Testament“ erstmals ausführlich 1964 von M.A. Klopfenstein in seiner Dissertation behandelt.

Im Folgenden werden zunächst die häufigsten hebräischen Äquivalente für „Lüge / Lügen“ aufgenommen und differenziert. In einem zweiten Abschnitt werden exemplarisch die Zusammenhänge genannt, in denen vor Lügen gewarnt wird. Zuletzt werden Texte berücksichtigt, die nicht explizit von „Lüge“ reden, aber nach dem oben umrissenen Verständnis durchaus von Lügen berichten.

2. Terminologie

2.1. כזב kzb „lügen“. Die Wurzel, die mit ihren Belegen der Rede von der „Lüge“ am nächsten kommt, ist die Wurzel כזב kzb. Sie bezeichnet vornehmlich ein Sprechen wider die Wahrheit; vgl. etwa die Lüge → Simsons gegenüber Delila (Ri 16) oder die Sorge der Schunammitin, → Elisas Rede über den bald zu erwartenden Sohn entspreche nicht der Wahrheit (2Kön 4,16). Die Wurzel ist jedoch nicht auf Wortlügen beschränkt, sondern kann darüber hinaus das Unzuverlässige (vgl. אַכְזָב ’akzāv in Jer 15,18, der trockene Bach) oder die trügerische Hoffnung (Hi 41,1) bezeichnen. Die Wurzel wird in allen westsemitischen Sprachen in vergleichbarer Weise verwendet (Mosis, 111).

2.2. כחשׁ kḥš „leugnen“. Die Wurzel כחשׁ kḥš bezeichnet das dem Lügen verwandte „Leugnen“. Zu unterscheiden ist die gleichlautende Wurzel mit der Bedeutung „Abmagern“. Die „Leugnung“ beinhaltet Schmeichelei als selbstverleugnende Rede sowie Lüge und → Betrug. Die Verwendung der Wurzel umfasst von der ihr Lachen leugnenden → Sara (Gen 18,15) über die Leugnung JHWHs (Jos 24,27; Hi 31,28; Spr 30,9) von der Verheimlichung (Jos 7,11) bis zur Schmeichelei (Dtn 33,29; 2Sam 22,45; Ps 18,45) zur handfesten Lüge (1Kön 13,18) und Falschprophetie (Sach 13,4) alle möglichen Varianten der Wahrheitsverbergung. In Lev 19,11 wird die Warnung vor der Leugnung (כחשׁ kḥš) zusammen mit dem Diebstahl (גנב gnb) und dem Betrug (שׁקר šqr) genannt. Auch in Hos 4,2 gehört die Leugnung (כחשׁ kḥš) in eine Reihe von zu vermeidenden Taten (neben dem Fluchen [אלה ’lh], → Morden [רצח rṣḥ], → Stehlen [גנב gnb] und → Ehebruch Treiben [נאף n’p]). Diesen beiden Katalogen entsprechend wird angenommen, dass die Wurzel כחשׁ kḥš ursprünglich im sakralen und profanen Strafrecht beheimatet gewesen sei (Klopfenstein, 321).

2.3. רמה rmh „betrügen“. Der häufig die Lüge beinhaltende Vorwurf des Betrugs wird mit der Wurzel רמה rmh und ihren Derivaten formuliert (Gen 29,25; Jos 9,22; 1Sam 19,17; 1Sam 28,12; 2Sam 19,27; Spr 26,19). Dabei stehen allerdings weniger die Unwahrheit oder Lüge im Zentrum der Aufmerksamkeit, als vielmehr das mit dem Betrug beabsichtigte Handeln zum eigenen Vorteil bzw. zur Schädigung eines anderen (Klopfenstein, 311). Gerade in den prophetischen Scheltreden wird mit מִרְמָה mirmāh der Betrug im Bereich des Handels beschrieben (vgl. Hos 12,8; Am 8,5; Mi 6,11; vgl. auch Spr 11,1).

2.4. שׁקר šqr „betrügen“. Umfassend wird betrügerisches, unlauteres Verhalten mit der Wurzel שׁקר šqr wiedergegeben. Spezifischer von „Lüge“ mag an den Stellen die Rede sein, an denen die → Zunge (Spr 6,11) oder die → Lippen (Ps 120,2) des Trugs bezichtigt werden. Das Verb findet sich nur an sechs Belegstellen (im Qal Gen 21,23; im Piel Lev 19,11; 1Sam 15,29; Jes 63,8; Ps 44,18; Ps 89,34). Häufiger wird das mit der Wurzel gebildete Nomen verwendet (insgesamt 113-mal). Besonders oft kommt es in → Jeremia (37-mal), den → Psalmen (24-mal) und im → Sprüchebuch (20-mal) vor. Der Hintergrund für die ursprüngliche Bedeutung der Wurzel wird im Bereich des Vertragsrechts vermutet (Klopfenstein, 321). Im Zusammenhang von → Dekalog und weisheitlicher Rede bezeichnet das Wort den „Lügenzeugen“ vor Gericht (Ex 20,16; Spr 6,19 und öfter). Neben den Falschzeugen werden auch Falscheid, Götzendienst und falsche → Prophetie mit diesem Begriff bezeichnet.

2.5. שָׁוְא šāw’ „trügerisch“. Ebenfalls eine gewisse Nähe zur „Lüge“ hat der Begriff שָׁוְא šāw’, der vornehmlich das „Leere / Trügerische“ bezeichnet. Klopfenstein nimmt an, dass die Wurzel שָׁוְא šāw ursprünglich im „Bereich der primitiven Magie“ beheimatet gewesen sei (Klopfenstein, 321) – anders Reiterer, der mit guten Gründen die Wirkungslosigkeit eines Handelns (und damit auch magischen Handelns) als Grundbedeutung favorisiert (Reiterer, 1115). Die Verwendung des Begriffs für den Lügenzeugen (vgl. Dtn 5,20) würde sich entsprechend auf die Nichtigkeit der gerügten Zeugenaussage beziehen. Auch die Leere falscher Prophetie wird mit diesem Ausdruck beschrieben (vgl. Ez 12,24; Ez 13,6-9 und vor allem Ez 22,25-30, wo der Begriff der „markanteste Terminus“ ist, „um das JHWH-Ferne, in sich Verdorbene, Verlogene und Irreführende, das zur Vernichtung drängt, zu verbalisieren.“; Reiterer, 1110).

2.6. אָוֶן ’āwæn „Schlechtigkeit“. Das allgemeiner Unheil und Schlechtigkeit bezeichnende Wort אָוֶן ’āwæn wird teilweise auf Wortäußerungen bezogen und in Übersetzungen entsprechend auch als Lüge wiedergegeben (vgl. etwa Sach 10,2; Ps 36,4; Ps 41,7; Spr 19,28; Jes 58,9). Eine eindeutige Zuordnung zur Lüge im engeren Sinne gelingt allerdings an keiner Stelle. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff בַּד bad, der eher das Geschwätz denn die Lüge bezeichnet, und mit der Wurzel רגל rgl, die den Verleumder kennzeichnet (Ps 15,3).

2.7. Aus den Belegen zeigt sich, dass ein von „Gemeinheit“ oder „Verbrechen“ zu abstrahierender Begriff der Lüge kaum nachzuweisen ist. In der → Septuaginta werden als Äquivalent für „Lüge / Lügen“ am häufigsten Wortbildungen des Stammes ψεύδ- pseud- verwendet.

3. Warnung vor und Verurteilung der Lüge

Eine eindringliche Warnung vor der Lüge ertönt im Bereich der Rechtsprechung (→ Recht). Die bekannteste Erwähnung ist das Verbot falscher Zeugnisse im → Dekalog in Ex 20,16 und Dtn 5,20. Ihre prominente Stellung entspricht §3 im Codex → Hammurabi, der ausdrücklich für einen Zeugen in einem Prozess auf Leben und Tod, dessen Anschuldigung sich als falsch herausstellen, die Todesstrafe vorsieht. Diese harte Strafe trägt dem Umstand Rechnung, dass in altorientalischen Gerichtsverfahren der Zeuge über eine enorme Macht verfügt.

Auffällig ist, dass der Lügenzeuge in Ex 20,16 als עֵד שָׁקֶר ‘ed šāqær bezeichnet wird, in Dtn 5,20 dagegen als עֵד שָׁוְא ‘ed šāw. Der in Ex 20,16 erwähnte Lügenzeuge begegnet auch in Dtn 19,18; Ps 27,12 und an etlichen Stellen im → Sprüchebuch (Spr 6,19; Spr 12,17; Spr 12,19; Spr 14,5; Spr 19,5; Spr 19,9; Spr 25,18). Die Formulierung in Dtn 5,20 beschreibt eher den falschen oder nichtigen Zeugen und findet sich so nur an dieser Stelle. Die Formulierung geht über das Verbot des falschen Zeugnisses hinaus und stellt zudem einen Bezug zum Verbot des Gebrauchs des Gottesnamens „zu Nichtigem“ (Dtn 5,11) her.

Die wiederholte Rede vom Lügenzeugen im Buch der Sprüche (Spr 6,19; Spr 12,17; Spr 12,19; Spr 14,5; Spr 19,5; Spr 19,9; Spr 25,18) leuchtet das Phänomen der Lüge und des falschen Zeugen in unterschiedlichen Zusammenhängen aus. Die Gefährlichkeit von falschem Zeugnis erläutert der Spruch in Spr 25,18, der betont, der falsche Zeuge sei tödlich und zerstörerisch wie Hammer, Schwert und Pfeil. In Spr 12 werden der Lügenzeuge (Spr 12,17) und die falsche Zunge (Spr 12,19) verbunden mit den lügnerischen Lippen (Spr 12,22) und finden sich insgesamt im Themenfeld „Reden und Schweigen“, das in den Versen Spr 12,13-23 traktiert wird (vgl. Scherer, 103-107). Die Lüge erscheint hier als Variante närrischer Geschwätzigkeit, die ihre Strafe in sich selbst trägt. Sie wird ausdrücklich als Abscheu JHWHs dargestellt; vgl. dazu die Klimax in Spr 12,22 sowie Spr 6,16-19, wo die lügnerische Zunge (Spr 6,16) und die falsche Zeugenaussage (Spr 6,19) zu den von JHWH verhassten Verhaltensweisen neben der Blutschuld, tückischen Plänen, Bosheit und dem Säen von Zwietracht gehören. Andernorts, in Spr 19, wird der Kauf eines falschen Leumunds oder Anklägers mit der Attraktivität von Reichen für mannigfache Freunde parallelisiert (vgl. Spr 19,5 und Spr 19,9 in ihrem Kontext mit Scherer, 271).

Nicht nur der falsche Zeuge vor Gericht ist nach Aussage der hebräischen Bibel eine tödliche Bedrohung. → Propheten, die Lügen prophezeien, sind eine Gefahr für alle, die ihnen zuhören. Dtn 13; Jer 23; Jer 27-29 und Ez 13 sowie weitere Stellen unterscheiden die Propheten JHWHs von Propheten, die nicht im Namen JHWHs sprechen und eigene Gedanken für Gotteswort ausgeben (vgl. mit Bons auch Am 2,4-5). Sie werden der Lüge bezichtigt (Jer 5,12; Jer 5,31; Jer 14,14; Jer 20,6; Jer 23,5-6; Jes 9,14; Ez 13,6 und öfter). Die Rede vom Lügenpropheten oder der Vorwurf, Lüge zu prophezeien, wird in der Entwicklung der prophetischen Literatur immer wieder aufgenommen (vgl. Sach 13,4).

4. Lügende Helden

Will man die Rede von der „Lüge“ verstehen, muss man zugleich die ihr entgegengesetzte „Wahrheit“ untersuchen. Dabei zeigt sich, was auch die Untersuchung der Äquivalente für „Lüge / Lügen“ nahelegt: Bei der Entgegensetzung von „Wahrheit“ und „Lüge“ geht es wesentlich um die Verlässlichkeit und Dauer, um die Auswirkung auf das Gemeinschaftsleben des Beschriebenen (vgl. etwa der Gegensatz von שֶׁקֶר šæqær und אֱמוּנָה ’ämûnāh in Jer 9,2). Die „Lüge“ wird in der Regel aus der Perspektive ihrer Folgen in den Blick genommen und nicht vorrangig als Gegensatz zur Wahrheit.

Einen eigenen Aufschluss auf die Wertung von Lüge und Wahrheit erlauben Erzählungen, in denen von Lügen berichtet wird, ohne dass die einschlägigen Begrifflichkeiten verwendet werden. Dort wird die Lüge nicht benannt und nicht verdammt. So ist das in Gen 12 formulierte Problem, dass durch die Angabe → Abrahams entsteht, Sara sei seine Schwester, nicht etwa die Lüge an sich, sondern, dass er mit dieser Behauptung den Pharao und sein Volk der Gefahr der Sünde und der Rache JHWHs aussetzt (→ Preisgabeerzählung). Vermittelt mag zudem problematisiert werden, dass der so agierende Abraham nicht auf die Bewahrung durch JHWH allein vertraut und deshalb zu einer eigenen List Zuflucht nimmt.

Nicht gerügt wird beispielsweise die List → Jehus in 2Kön 10,18-27, die Baalsverehrer (→ Baal) mit einem angeblich veranstalteten Fest in die Falle zu locken. Die Arglist (2Kön 10,19 עָקְבָּה ‘āqbāh) Jehus wird sogar zum guten Wandel Jehus gezählt (2Kön 10,30). Auch in diesem Fall ist also nicht das Verhältnis zur Wahrheit entscheidend, sondern Absicht und Wirkung des Handelns.

Unbedingte Verpflichtung zur Ehrlichkeit kann entsprechend kaum als höchster Wert beschrieben werden. Vielmehr wird die Lüge da verurteilt, wo sie das Verhältnis zu Gott und anderen belastet, wo sie hingegen dem reinen Gottesglauben oder der Gemeinschaft dient, ist sie legitimes Mittel zum Zweck. In diesem Sinne ist das Fazit Klopfensteins (353) abzuändern: Nicht „Lüge ist gemeinschaftswidrig“, sondern Lüge wird dort geahndet, wo sie gemeinschaftswidrige Ziele verfolgt und das Miteinander von Menschen untereinander oder Mensch und Gott zerstört.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006

2. Weitere Literatur

  • Blum, E., 2000, Die Lüge des Propheten. Ein Lesevorschlag zu einer befremdlichen Geschichte (I Reg 13), in: E. Blum (Hg.), Mincha (FS R. Rendtorff), 27-46
  • Bons, E., 1996, Das Denotat von KZBYHM „ihre Lügen“ im Judaspruch Am 2,4-5, ZAW 108, 201-213
  • Klopfenstein, M.A., 1964, Die Lüge nach dem Alten Testament. Ihr Begriff, ihre Bedeutung und ihre Beurteilung, Zürich / Frankfurt a. M.
  • Köckert, M., 2007, Die zehn Gebote, München
  • Lohfink, N., 1990, Zur Dekalogfassung von Dtn 5, in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur I, 193-209
  • Mosis, R., Art. כזב kzb, in: ThWAT IV, Stuttgart u.a. 1984, 111-130
  • Reiterer, F.V., Art. שָׁוְא šāw, in: ThWAT VII, Stuttgart u.a. 1993, 1104-1117
  • Scherer, A., 1999, Das weise Wort und seine Wirkung. Eine Untersuchung zur Komposition und Redaktion von Proverbia 10,1-22,16 (WMANT 83), Neukirchen-Vluyn

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