Lesen
Andere Schreibweise: Reading
(erstellt: August 2019)
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1. Einleitung
Das Phänomen „Lesen“ zu definieren ist angesichts dessen Komplexität und Multidimensionalität notorisch schwierig. Angesichts seiner u.a. physiologischen, kognitionspsychologischen, neurologischen, semiotischen, kulturellen, (kultur)historischen, sozialen, politischen, medien- und kommunikationstheoretischen Dimension ist es wohl berechtigt, wenn U. Saxer im Anschluss an M. Mauss von einem Totalphänomen spricht. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion wird unter „Lesen“ hier die individuelle oder kollektive Interaktion mit geschriebenen Texten verstanden.
1.1. Die traditionelle Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen
In der jüngeren Forschung ist die vermeintliche Interdependenz des vorrangig „lauten“ Lesens mit dem Schriftsystem problematisiert worden. In den Quellen werden besondere Schwierigkeiten beim Lesen von Texten, die in scriptio continua geschrieben waren, nicht thematisiert. Vor allem sprechen aber neuere Erkenntnisse der neueren kognitionswissenschaftlichen und kulturvergleichenden Forschung gegen die These, dass das Lesen von Texten ohne Wortzwischenräume auf die Dekodierung durch das Ohr angewiesen gewesen wäre. Die Blickbewegung beim Lesen ist in physiologischer Hinsicht kein kontinuierlicher Prozess, sondern eine in Sekundenbruchteilen ablaufende Abfolge von hochfrequenten Vorwärtsbewegungen (Sakkaden), Momenten des Anhaltens (Fixationen) an einem spezifischen Punkt, in der Regel links neben der Wortmitte (wobei nicht alle Wörter fixiert werden), und schnellen Rückwärtsbewegungen (Regressionen). Die Sakkaden werden durch die Wortgrenze gesteuert, wobei die Worterkennung ein komplexer Prozess ist. Nun wird aber die Worterkennung nicht zwingend durch Wortzwischenräume geleitet. Dies haben neuere kulturvergleichende Untersuchungen, insbesondere für das Thailändische, gezeigt, das eine Schrift ohne Wortzwischenräume nutzt. Die Blickbewegung von thailändischen Leserinnen und Lesern beim („leisen“) Lesen ihrer eigenen Schrift unterscheidet sich nicht von der Blickbewegung von englischsprachigen Leserinnen und Lesern. Fügt man thailändischen Leserinnen und Lesern hingegen Wortzwischenräume experimentell hinzu, wird deren automatisierter Lesefluss gestört. Für Leserinnen und Leser, die in Schriftsystemen mit scriptio continua sozialisiert wurden, sind keine besonderen kognitiven Herausforderungen beim Lesen dieser Schrift anzunehmen (vgl. Vatri 2012, Heilmann 2019a / b).
1.2. Neuere Forschungsperspektiven
In der neueren Forschung gibt es einerseits die Tendenz, die genaue Vortragsweise, die Stimmführung und Darstellung einzelner Sprecherrollen, Mimik und Gestik sowie die Reaktion des Publikums beim ursprünglichen Vortrag der biblischen Texte zu rekonstruieren (Rhoads, Botha u.a.). Diese Tendenz basiert auf der o.g. Mehrheitsmeinung und ist durch den sog. performative turn in den Kulturwissenschaften beeinflusst. Methodisch wird bei der Rekonstruktion auf Informationen zu antiken Dramenaufführungen und die antike Rhetoriktheorie zurückgegriffen. Diese Forschungsrichtung, die sich selbst als Biblical Performance Criticism bezeichnet, ist aus sachlichen und methodischen Gründen kritisiert worden (Hurtado, Heilmann). Zudem wird von dieser Forschungsrichtung die Existenz von „Lesen“ in der Antike in einem engeren Sinne negiert, da Texte nicht vorgelesen, sondern in der Regel aus dem Gedächtnis rezitiert worden seien (anders Nässelqvist, Wright). Andererseits ist die Fokussierung der Leseforschung zur Antike auf die Frage des Stimmeinsatzes beim Lesen als problematische Engführung erkannt worden. Dies hat dazu geführt, dass ein Großteil der Quellen, die das Phänomen „Lesen“ thematisieren, nicht erschlossen sind (vgl. Johnson 2010, Krasser 1996, Heilmann 2019a).
H. Krasser untersucht die literarische Reflexion von Lesern, Lesepraktiken und Lesetechniken sowie literarische Wahrnehmungsgewohnheiten in Rom vom ausgehenden 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. Dabei zeigt er, dass sich in der Kaiserzeit ein größer werdender literarischer Markt etablierte, der mit veränderten Distributionsformen (Bedeutungsgewinn des kommerziellen Buchhandels) und mit einer Steigerung der Verfügbarkeit von Lesestoffen einherging. Die Autoren dieser Zeit reflektieren verschieden Lese(r)erwartungen und richteten sich an ein anonymes, überregionales Lesepublikum, das über die Eliten hinausreichte. W.A. Johnson hat dagegen einen kultur- und sozialgeschichtlichen Ansatz der Erforschung antiker reading communities geprägt. Sein Forschungsfokus liegt dabei weniger auf dem Lesen selbst als auf den sozialen Implikationen, wobei Johnson dies exemplarisch an den Eliten in der Römischen Kaiserzeit aufzeigt. Die bei diesem Ansatz programmatisch vernachlässigte physiologische Dimension des Lesens sowie Fragen nach der Reflexion der kognitiven Prozesse ist in der Forschung des Vf. ins Zentrum gerückt worden.
2. Leseterminologie
Die Terminologie, mit der das Phänomen „Lesen“ in den antiken Quellen beschrieben wird, ist äußerst vielfältig und weitestgehend metaphorisch oder metonymisch konzeptualisiert. Besonders auffällig ist, dass sich das gängigste Verb, das im Griechischen „Lesen“ konzeptualisiert, ἀναγιγνώσκω / anagignōskō (wiedererkennen), in semantischer und etymologischer Sicht deutlich von den äquivalenten Begriffen im Lateinischen und den romanischen Sprachen (lego, leggere, lire usw. [lesen]) auf der einen Seite und von den semitischen Sprachen (קרא / ’rq [rufen]) auf der anderen Seite unterscheidet. Während dem lateinischen Begriff etymologisch das Konzept des (Auf)sammelns und dem hebräischen Begriff das Konzept lautlicher Äußerungen zugrunde liegt, handelt es sich bei dem griechischen Begriff um einen Kognitionsbegriff.
Das Verb ἀναγιγνώσκω / anagignōskō bezeichnet sowohl das Vorlesen vor einer oder mehreren Personen als auch die individuelle Lektüre eines Schriftmediums. Dabei ist eindeutig, dass der Begriff als umfassender terminus technicus verwendet wird und weder eine vermeintliche Re-Oralisierung des im Text festgehaltenen Klangs gemeint ist noch der Einsatz der physiologischen Stimme notwendigerweise impliziert ist. Dies wird besonders an den Stellen deutlich, an denen explizit die Lesesozialisation und die kognitiven Verarbeitungsprozesse reflektiert werden (vgl. z.B. Diod. 3,4
Darüber hinaus lassen sich im Griechischen und Lateinischen mehr als 50 weitere Begriffe finden, mit denen „Lesen“ bezeichnet wird. Diese können den folgenden metonymischen bzw. metaphorischen Konzepten zugeordnet werden: Lesen als auditive Rezeption (z.B. ἀκούω / akouō, audio [hören]), als haptischer Umgang mit dem Schriftmedium (z.B. ἀναπτύσσω / anaptyssō [ent-/auffalten], ἀνελίσσω / anelissō [ent- / aufrollen], evolvo [auseinanderrollen], pervolvo [durchrollen], verto [drehen]), als Begegnung und Kontakt mit dem Text (v.a. ἐντυγχάνω / entygchanō [auf etwas stoßen, aufeinandertreffen]), als Sammeln (z.B. ἀναλέγομαι / analegomai), als Suchen bzw. Fragen (ἐρευνάω / ereunaō [genau prüfen, ausforschen], εὑρίσκω / heuriskō [finden], ζητέω / zhteō [suchen, untersuchen], quaero [suchen]), als Bewegung (z.B. διέρχομαι / dierchomai [hindurchkommen, -gehen], ἐγκύπτω bzw. incumbo [hineinbeugen], percurro [hindurchrennen]), als Sehen (z.B. θεωρέω / thōreō, ὁράω / horaō), als Essen und Trinken des Textes (z.B. ἀνατρέφω / anatrephō, ἐσθίω / esthiō, consumo, degusto).
3. Vielfalt antiker Lesepraktiken
Diese Heterogenität der antiken Beschreibungssprache, in der sich die Selbstwahrnehmung antiker Leserinnen und Leser kondensiert hat, spiegelt die Vielfalt antiker Lesepraxis, von Lese- und Verstehensgewohnheiten bis hin zu Lesetechniken, wider. Es bietet sich dabei an, zwischen kollektiven und individuellen Formen der Rezeption zu unterscheiden, wobei das Verhältnis zum Schriftmedium jeweils direkt (d.h. ein direkter Zugriff mit den Augen auf den Text) oder indirekt (d.h. ein vorgelesener Text wird gehört)h.h sein kann. Methodisch verbietet es sich, aus einer vermeintlich sehr geringen Literalitätsrate in antiken Gesellschaften abzuleiten, dass Texte primär indirekt rezipiert wurden. Einerseits ist die Diskussion um die Höhe der Literalitätsrate in der Forschung offen. Insbesondere eine sehr pessimistische Sichtweise, geprägt von Harris’ einflussreicher Studie (Harris 1989), die auf einer sehr restriktiven Quellenauswertung basiert, wird von Teilen der Forschung und auch im Hinblick auf das frühe Christentum kritisch gesehen (vgl. z.B. Krasser 1996, Millard 2001, Milnor 2014, Schnelle 2015). Die Datengrundlage ist zu gering, um wirklich valide statistische Aussagen über die Literalitätsrate zu machen. Dies gilt auch für die noch pessimistischeren Schätzungen der Lesefähigkeit von Frauen. In den Quellen selbst sind lesende Frauen jedenfalls gut bezeugt (vgl. z.B. Mart. 3,68
3.1. Kollektive Formen der Rezeption
Die Vielfalt von Szenen kollektiv-indirekter Rezeption von Texten verbietet das Postulat einer einheitlichen griechisch-römischen Vorlesekultur. Bei der überwiegenden Mehrheit der in den Quellen bezeugten kollektiven Formen der Rezeption von Texten handelt es sich um funktionale und mit der jeweiligen Institution (politische Versammlung, Gericht, Bildungseinrichtung usw.) verbundene Formen des Verlesens von Dekreten, Beschlüssen, Gesetzen, Urteilen, Briefen, Texten aus dem Bildungskanon usw. Die in den Quellen sichtbare Institution der recitatio (Vorlesen literarischer Texte) ist kein verallgemeinerbarer Rahmen für die Rezeption von Literatur, sondern war an die Präsenz des Autors gebunden und fungierte als Probelauf vor ausgewähltem Publikum im Rahmen des redaktionellen Prozesses vor der eigentlichen Publikation (vgl. insb. Plin. ep. 5,12
3.2. Individuelle Formen der Lektüre
Während individuell-indirekte Formen der Rezeption durch einen Vorleser in den Quellen eher selten vorkommen und entweder der Unterhaltung oder der Effizienzsteigerung bei der Arbeitstätigkeit dienten (vgl. z.B. Suet. Aug. 78
Vielfältig waren auch die Lesesituationen. Die Lektüre konnte unterbrochen werden, z.B. für Denk-, Exzerpt- und Schreibpausen (vgl. insb. die ikonographischen Belege bei Birt 1907, 181-196; ferner auch das Papyrus-Lesezeichen P.Köln 2 114
Individuell-direkte Lektüre wurden dem auditiven Kanal in Bezug auf das Auswendiglernen von Texten vorgezogen (vgl. z.B. Xen. mem. 10
4. „Lesen“ in der Hebräischen Bibel
Lesen wird im Hebräischen üblicherweise mit dem Verb קרא / ’rq (rufen) angezeigt (in der LXX normalerweise übersetzt mit ἀναγιγνώσκω / anagignōskō). Bei den meisten mit diesem Verb gekennzeichneten Leseszenen handelt es sich um das Vorlesen eines Textes. Dies wird entweder durch den Kontext deutlich oder mit Formulierungen wie „vor den Ohren“ (Ex 24,7
Das Verb קרא / ’rq (rufen) bezeichnet in der Hebräischen Bibel aber auch individuell-direkte Lektüre (vgl. z.B. Dtn 17,18f
Im biblischen Hebräisch kann außerdem הגה / hgh (murmeln) individuell-direktes Lesen bezeichnen, bei dem die Stimme zum Einsatz kommt, der Text aber nicht nicht voll ausartikuliert wird. Während Ps 1,2
5. Lesepraktiken im hellenistischen Judentum und in Qumran
Während der Prolog der griechischen Übersetzung des Sirachbuches individuell-direkte Lektüre des publizierten Textes voraussetzt und 2Makk 2,23-24
Sabbatliche Lesepraxis mit einem deutlichen Lehr- und Lerncharakter ist darüber hinaus auch in den Texten vom Toten Meer bezeugt (vgl. z.B. 2Q251 1-2 5; 4Q264a I [Frg. 1] 4-5 par 4Q421 13+2+8 2-3 [?]), wobei diese Belegstellen mutmaßlich das Konzept individueller Studienlektüre am Sabbat implizieren. In 1QS 6,6-8 findet sich sodann die Bestimmung, dass in Gruppen von mehr als 10 Personen zu jeder Zeit abwechselnd mindestens einer die Tora studieren soll. Darüber hinaus findet sich die Bestimmung kollektiver Lese- und Studierpflicht in einem Drittel aller Nächte, wobei offenbleibt, ob קרא / ’rq hier lesen oder vorlesen meint, also ob die einzelnen Mitglieder der Gruppe selbst lesen oder einer den anderen vorliest. Andere Stellen in den → Qumran-Handschriften
6. „Lesen“ im Neuen Testament
Die meisten Belegstellen des griechischen Hauptleseverbs ἀναγιγνώσκω / anagignōskō entfallen auf die geprägte Wendung („habt ihr nicht gelesen“), mit der auf der Ebene der erzählten Welt in den Evangelien den mutmaßlich literarisch gebildeten Dialogpartnern in durchaus polemischer Weise Unkenntnis unterstellt wird und die in leserpragmatischer Hinsicht als Einleitung für Zitate aus der Schrift fungieren (Mk 2,25
6.1. Lesen der Tora und anderer Texte
Aus den wenigen Stellen in der Briefliteratur (Gal 4,21
In Apg 23,34
6.2. Selbstreferenzielle Verweise auf das Lesen der vorliegenden Schrift
Nur an wenigen Stellen bezieht sich das Verb ἀναγιγνώσκω / anagignōskō selbstreferenziell auf die Rezeption der vorliegenden Schrift. In den Protopaulinen fordert Paulus in 1Thess 5,27
Der parenthetische Erzählerkommentar „der Lesende bedenke“ in Mk 13,14
Der Makarismus „Selig [ist] der Lesende und die Hörenden die Worte der Prophetie und Bewahrenden das darin Geschriebene“ in Apk 1,3
7. Ausblick: Lesen in der frühen Kirche
In der Liturgiewissenschaft geht man heute davon aus, dass sich eine liturgische Lesepraxis im Christentum frühestens ab dem 3. Jh. entwickelte (Buchinger, Rouwhorst, Leonhard). Vor dieser Zeit muss man mit einer großen Vielfalt (meist nicht fest institutionalisierter) kollektiver, aber auch individueller Formen der Rezeption alt- und neutestamentlicher, vor allem aber auch der nicht kanonisch gewordenen Schriften im entstehenden Christentum rechnen. Bei der von Justin (1 apol. 67,3f
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
- Text in scriptio continua im Codex Sinaiticus (f. 268r) British Library, MS 43725, Digitised Manuscripts
- Grabrelief, gr.-attisch?, 5. Jh. v. Birt, Buchrolle, Abb. 90, S. 157
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