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(erstellt: August 2019)

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1. Einleitung

Das Phänomen „Lesen“ zu definieren ist angesichts dessen Komplexität und Multidimensionalität notorisch schwierig. Angesichts seiner u.a. physiologischen, kognitionspsychologischen, neurologischen, semiotischen, kulturellen, (kultur)historischen, sozialen, politischen, medien- und kommunikationstheoretischen Dimension ist es wohl berechtigt, wenn U. Saxer im Anschluss an M. Mauss von einem Totalphänomen spricht. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion wird unter „Lesen“ hier die individuelle oder kollektive Interaktion mit geschriebenen Texten verstanden.

1.1. Die traditionelle Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen

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Die Forschung zum „Lesen“ in der Antike ist im 20. Jh. von der Frage nach dem Einsatz der Stimme beim Lesen dominiert worden. Die These, dass antike Leserinnen und Leser generell „laut“ gelesen hätten geht auf eine romantisierende Perspektive auf antike Lesepraktiken im 19. Jh. zurück. Sie ist maßgeblich durch eine spezifische Deutung einer Stelle in Augustins Confessiones (6,3) bedingt und wurde einflussreich von J. Balogh vertreten. Zudem wird die These damit begründet, dass in scriptio continua (d.h. ohne Wortzwischenräume) geschriebene Texte auf einem Umweg über das Ohr dekodiert werden müssten. Diese Sicht hat sich zwar zur Mehrheitsmeinung entwickelt und liegt älteren Studien zum Lesen im frühen Christentum zugrunde (Gamble, Müller), ist aber mehrfach mit zahlreichen Gegenbelegen in den Quellen (insb. Aristoph. Eq. 117-128; Nub. 18-23; Ran. 52-54; Xen. symp. 4,27; top. 1,1; Dion. Hal. ant. 5,8,2; Plut. Cato min. 19, Brut. 5; Ant. 58; Caes. 11; de Alex. fort. 1,11 (mor. 332e / 333a); 2,7 (mor. 340a); Lys. 19,5-7; 20,1-4; s. aber z.B. auch Ios. vita 219-223) und mit einer alternativen Deutung der genannten Stelle bei Augustin in Frage gestellt worden (Knox, Gavrilov, Burnyeat, Svenbro, Burfeind).

In der jüngeren Forschung ist die vermeintliche Interdependenz des vorrangig „lauten“ Lesens mit dem Schriftsystem problematisiert worden. In den Quellen werden besondere Schwierigkeiten beim Lesen von Texten, die in scriptio continua geschrieben waren, nicht thematisiert. Vor allem sprechen aber neuere Erkenntnisse der neueren kognitionswissenschaftlichen und kulturvergleichenden Forschung gegen die These, dass das Lesen von Texten ohne Wortzwischenräume auf die Dekodierung durch das Ohr angewiesen gewesen wäre. Die Blickbewegung beim Lesen ist in physiologischer Hinsicht kein kontinuierlicher Prozess, sondern eine in Sekundenbruchteilen ablaufende Abfolge von hochfrequenten Vorwärtsbewegungen (Sakkaden), Momenten des Anhaltens (Fixationen) an einem spezifischen Punkt, in der Regel links neben der Wortmitte (wobei nicht alle Wörter fixiert werden), und schnellen Rückwärtsbewegungen (Regressionen). Die Sakkaden werden durch die Wortgrenze gesteuert, wobei die Worterkennung ein komplexer Prozess ist. Nun wird aber die Worterkennung nicht zwingend durch Wortzwischenräume geleitet. Dies haben neuere kulturvergleichende Untersuchungen, insbesondere für das Thailändische, gezeigt, das eine Schrift ohne Wortzwischenräume nutzt. Die Blickbewegung von thailändischen Leserinnen und Lesern beim („leisen“) Lesen ihrer eigenen Schrift unterscheidet sich nicht von der Blickbewegung von englischsprachigen Leserinnen und Lesern. Fügt man thailändischen Leserinnen und Lesern hingegen Wortzwischenräume experimentell hinzu, wird deren automatisierter Lesefluss gestört. Für Leserinnen und Leser, die in Schriftsystemen mit scriptio continua sozialisiert wurden, sind keine besonderen kognitiven Herausforderungen beim Lesen dieser Schrift anzunehmen (vgl. Vatri 2012, Heilmann 2019a / b).

1.2. Neuere Forschungsperspektiven

In der neueren Forschung gibt es einerseits die Tendenz, die genaue Vortragsweise, die Stimmführung und Darstellung einzelner Sprecherrollen, Mimik und Gestik sowie die Reaktion des Publikums beim ursprünglichen Vortrag der biblischen Texte zu rekonstruieren (Rhoads, Botha u.a.). Diese Tendenz basiert auf der o.g. Mehrheitsmeinung und ist durch den sog. performative turn in den Kulturwissenschaften beeinflusst. Methodisch wird bei der Rekonstruktion auf Informationen zu antiken Dramenaufführungen und die antike Rhetoriktheorie zurückgegriffen. Diese Forschungsrichtung, die sich selbst als Biblical Performance Criticism bezeichnet, ist aus sachlichen und methodischen Gründen kritisiert worden (Hurtado, Heilmann). Zudem wird von dieser Forschungsrichtung die Existenz von „Lesen“ in der Antike in einem engeren Sinne negiert, da Texte nicht vorgelesen, sondern in der Regel aus dem Gedächtnis rezitiert worden seien (anders Nässelqvist, Wright). Andererseits ist die Fokussierung der Leseforschung zur Antike auf die Frage des Stimmeinsatzes beim Lesen als problematische Engführung erkannt worden. Dies hat dazu geführt, dass ein Großteil der Quellen, die das Phänomen „Lesen“ thematisieren, nicht erschlossen sind (vgl. Johnson 2010, Krasser 1996, Heilmann 2019a).

H. Krasser untersucht die literarische Reflexion von Lesern, Lesepraktiken und Lesetechniken sowie literarische Wahrnehmungsgewohnheiten in Rom vom ausgehenden 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. Dabei zeigt er, dass sich in der Kaiserzeit ein größer werdender literarischer Markt etablierte, der mit veränderten Distributionsformen (Bedeutungsgewinn des kommerziellen Buchhandels) und mit einer Steigerung der Verfügbarkeit von Lesestoffen einherging. Die Autoren dieser Zeit reflektieren verschieden Lese(r)erwartungen und richteten sich an ein anonymes, überregionales Lesepublikum, das über die Eliten hinausreichte. W.A. Johnson hat dagegen einen kultur- und sozialgeschichtlichen Ansatz der Erforschung antiker reading communities geprägt. Sein Forschungsfokus liegt dabei weniger auf dem Lesen selbst als auf den sozialen Implikationen, wobei Johnson dies exemplarisch an den Eliten in der Römischen Kaiserzeit aufzeigt. Die bei diesem Ansatz programmatisch vernachlässigte physiologische Dimension des Lesens sowie Fragen nach der Reflexion der kognitiven Prozesse ist in der Forschung des Vf. ins Zentrum gerückt worden.

2. Leseterminologie

Die Terminologie, mit der das Phänomen „Lesen“ in den antiken Quellen beschrieben wird, ist äußerst vielfältig und weitestgehend metaphorisch oder metonymisch konzeptualisiert. Besonders auffällig ist, dass sich das gängigste Verb, das im Griechischen „Lesen“ konzeptualisiert, ἀναγιγνώσκω / anagignōskō (wiedererkennen), in semantischer und etymologischer Sicht deutlich von den äquivalenten Begriffen im Lateinischen und den romanischen Sprachen (lego, leggere, lire usw. [lesen]) auf der einen Seite und von den semitischen Sprachen (קרא / rq [rufen]) auf der anderen Seite unterscheidet. Während dem lateinischen Begriff etymologisch das Konzept des (Auf)sammelns und dem hebräischen Begriff das Konzept lautlicher Äußerungen zugrunde liegt, handelt es sich bei dem griechischen Begriff um einen Kognitionsbegriff.

Das Verb ἀναγιγνώσκω / anagignōskō bezeichnet sowohl das Vorlesen vor einer oder mehreren Personen als auch die individuelle Lektüre eines Schriftmediums. Dabei ist eindeutig, dass der Begriff als umfassender terminus technicus verwendet wird und weder eine vermeintliche Re-Oralisierung des im Text festgehaltenen Klangs gemeint ist noch der Einsatz der physiologischen Stimme notwendigerweise impliziert ist. Dies wird besonders an den Stellen deutlich, an denen explizit die Lesesozialisation und die kognitiven Verarbeitungsprozesse reflektiert werden (vgl. z.B. Diod. 3,4; Dion. Hal. comp. 25). Das durch einen hinzutretenden Artikel substantivierte Partizip wird zur Reflexion oder direkten Ansprache der Lesenden verwendet (auch in Inschriften). Das Verb bezeichnet dagegen gerade nicht die indirekte Rezeption eines vorgelesenen Textes mit dem Ohr. Durch Präfixe kann die Semantik des Verbes spezifiziert werden (z.B. διαναγιγνώσκω / dianagignōskō, durchlesen, hebt die Vollständigkeit hervor; συναναγιγνώσκω / synanagignōskō, mitlesen, kennzeichnet das gemeinsame Lesen einer Schrift; παραναγιγνώσκω / paranagignōskō das vergleichende / parallele Lesen von zwei Schriftmedien usw.). Das entsprechende Verbalabstraktum ἀνάγνωσις / anagnōsis bezeichnet, den Prozesscharakter hervorhebend, die individuelle Lektüre aber auch die Vorlesung und wird daneben als phonologischer Fachterminus verwendet. Das Substantiv ἀναγνώστης / anagnōstēs, das im spätantiken Christentum in der Spätantike als Amtsbezeichnung verwendet wurde, bezeichnet literarisch gebildete Spezialisten (Lese-Sekretär), in deren Aufgabenbereich auch, aber nicht ausschließlich, das Vorlesen von Texten lag (vgl. v.a. I.Smyrn. 609,13f; I.Priene 67,190-194; IG V / I, 209,28). Der Begriff kann zwar auch einen konkreten individuellen Leser aus der Außenperspektive bezeichnen (Vit. Arist. Marc. 42-44), er wird aber, anders als der lateinische Begriff lector, (vgl. z.B. Cic. fam. 5,12,4; Tusc. 1,6; Corn. Nep. Epamin. 1,1; Mart. 1,1 u.ö.), nicht zur Reflexion über einen anonymen, individuellen Leser im Text selbst verwendet.

Darüber hinaus lassen sich im Griechischen und Lateinischen mehr als 50 weitere Begriffe finden, mit denen „Lesen“ bezeichnet wird. Diese können den folgenden metonymischen bzw. metaphorischen Konzepten zugeordnet werden: Lesen als auditive Rezeption (z.B. ἀκούω / akouō, audio [hören]), als haptischer Umgang mit dem Schriftmedium (z.B. ἀναπτύσσω / anaptyssō [ent-/auffalten], ἀνελίσσω / anelissō [ent- / aufrollen], evolvo [auseinanderrollen], pervolvo [durchrollen], verto [drehen]), als Begegnung und Kontakt mit dem Text (v.a. ἐντυγχάνω / entygchanō [auf etwas stoßen, aufeinandertreffen]), als Sammeln (z.B. ἀναλέγομαι / analegomai), als Suchen bzw. Fragen (ἐρευνάω / ereunaō [genau prüfen, ausforschen], εὑρίσκω / heuriskō [finden], ζητέω / zhteō [suchen, untersuchen], quaero [suchen]), als Bewegung (z.B. διέρχομαι / dierchomai [hindurchkommen, -gehen], ἐγκύπτω bzw. incumbo [hineinbeugen], percurro [hindurchrennen]), als Sehen (z.B. θεωρέω / thōreō, ὁράω / horaō), als Essen und Trinken des Textes (z.B. ἀνατρέφω / anatrephō, ἐσθίω / esthiō, consumo, degusto).

3. Vielfalt antiker Lesepraktiken

Diese Heterogenität der antiken Beschreibungssprache, in der sich die Selbstwahrnehmung antiker Leserinnen und Leser kondensiert hat, spiegelt die Vielfalt antiker Lesepraxis, von Lese- und Verstehensgewohnheiten bis hin zu Lesetechniken, wider. Es bietet sich dabei an, zwischen kollektiven und individuellen Formen der Rezeption zu unterscheiden, wobei das Verhältnis zum Schriftmedium jeweils direkt (d.h. ein direkter Zugriff mit den Augen auf den Text) oder indirekt (d.h. ein vorgelesener Text wird gehört)h.h sein kann. Methodisch verbietet es sich, aus einer vermeintlich sehr geringen Literalitätsrate in antiken Gesellschaften abzuleiten, dass Texte primär indirekt rezipiert wurden. Einerseits ist die Diskussion um die Höhe der Literalitätsrate in der Forschung offen. Insbesondere eine sehr pessimistische Sichtweise, geprägt von Harris’ einflussreicher Studie (Harris 1989), die auf einer sehr restriktiven Quellenauswertung basiert, wird von Teilen der Forschung und auch im Hinblick auf das frühe Christentum kritisch gesehen (vgl. z.B. Krasser 1996, Millard 2001, Milnor 2014, Schnelle 2015). Die Datengrundlage ist zu gering, um wirklich valide statistische Aussagen über die Literalitätsrate zu machen. Dies gilt auch für die noch pessimistischeren Schätzungen der Lesefähigkeit von Frauen. In den Quellen selbst sind lesende Frauen jedenfalls gut bezeugt (vgl. z.B. Mart. 3,68.86; 5,2; 7,35 u.ö.; Ov. trist. 2,243-280; Lukian. im. 9; Kyr. Hier. Procatechesis 14; außerdem Glazebrook 2005). Andererseits wäre im Einzelfall nachzuweisen, dass nicht-literalisierte Personen zu den intendierten Rezipienten z.B. von literarischen Texten gehörten. In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Szenen indirekter Rezeption von Texten sind nämlich die Zuhörer selbst literalisiert.

3.1. Kollektive Formen der Rezeption

Die Vielfalt von Szenen kollektiv-indirekter Rezeption von Texten verbietet das Postulat einer einheitlichen griechisch-römischen Vorlesekultur. Bei der überwiegenden Mehrheit der in den Quellen bezeugten kollektiven Formen der Rezeption von Texten handelt es sich um funktionale und mit der jeweiligen Institution (politische Versammlung, Gericht, Bildungseinrichtung usw.) verbundene Formen des Verlesens von Dekreten, Beschlüssen, Gesetzen, Urteilen, Briefen, Texten aus dem Bildungskanon usw. Die in den Quellen sichtbare Institution der recitatio (Vorlesen literarischer Texte) ist kein verallgemeinerbarer Rahmen für die Rezeption von Literatur, sondern war an die Präsenz des Autors gebunden und fungierte als Probelauf vor ausgewähltem Publikum im Rahmen des redaktionellen Prozesses vor der eigentlichen Publikation (vgl. insb. Plin. ep. 5,12; 7,17,6f; Tac. dial. 2,). Bis auf Vorlesewettbewerbe von poetischen Texten (z.B. bei den kapitolinischen Spielen) war das performative Vorlesen von literarischen Texten durch professionelle Vorleser die absolute Ausnahme (vgl. Parker 2009, 201). Gelegentlich berichten die Quellen von Leseszenen beim Gemeinschaftsmahl. Allerdings hatte das Lesen im Vergleich etwa zu Musik, Tanz, Gespräch und Spielen nur eine Randstellung im Unterhaltungsprogramm des Symposions. Und wenn etwas vorgelesen wurde, dann beschränkten sich die Beiträge auf kurze poetische Formen oder Auszüge aus längeren Texten (vgl. z.B. Athen. deipn. 1,8 [5b-d]; Gell. 3,19; 2,22,1) und dienten insb. der Stimulation des Tischgesprächs (vgl. in normativer Hinsicht Plut. symp. 1,4,3 [mor. 621b-d]). Eine Besonderheit sind demgegenüber Formen der kollektiv-direkten Form der Lektüre, bei der zwei oder mehrere Personen gemeinsam in einem Schriftmedium (vgl. z.B. Xen. symp. 4,27; Plut. de Alex. fort. 1,11 [mor. 332e / 333a]) oder in Gemeinschaft in jeweils unterschiedlichen Schriftmedien (vgl. z.B. Cic. top. 1,1; Gell. 13,20,1; Kyr. Hier. Procatechesis 14) lesen.

3.2. Individuelle Formen der Lektüre

Während individuell-indirekte Formen der Rezeption durch einen Vorleser in den Quellen eher selten vorkommen und entweder der Unterhaltung oder der Effizienzsteigerung bei der Arbeitstätigkeit dienten (vgl. z.B. Suet. Aug. 78; Claud. 41; Plin. ep. 3,5,7; 7,4,3-5), ist individuell-direkte Lektüre sehr breit bezeugt und stellte eine gängige Form der Rezeption von Briefen, Texten im Alltag und literarischen Texten dar. Bei unmarkiertem Gebrauch der verschiedenen Leseverben kann nicht sicher geschlossen werden, ob mit Einsatz der Stimme, subvokalisierend (murmelnd) oder nicht-vokalisierend gelesen wurde. Der Einsatz der Stimme bei individueller Lektüre war mit spezifischen Funktionen verknüpft: Eine wichtige Rolle spielte das ästhetische Klangerlebnis. Es werden in den Quellen aber auch medizinische und andere therapeutische Funktionen mit dem vokalisierenden Lesen verbunden (z.B. Plut. mor. 130c / d; Hippokr. vict. 2,62 [ed. Littré p. 576]; Cels. med. 1,1,8; Plut. mor. 130a-c; Plin. ep. 9,36,3; Sen. de ira 3,9; Sen. ep. 78,18). Die Rollenform antiker Bücher und die weitgehend fehlenden Gliederungshilfen determinierten keine sequentielle (und vollständige) Lektüre, vielmehr konnten Bücher diskontinuierlich, also z.B. zu bestimmten Fragen selektiv konsultiert werden. Dies wird in den Quellen z.B. an der Terminologie deutlich, die „Lesen“ als Suchen und Finden konzeptualisiert, und an Begriffen, welche die Vollständigkeit eines Leseaktes hervorheben (διαναγιγνώσκω, ἐξαναγιγνώσκω, perlego, ad extremum / ad umblicium revolvo). Zudem finden sich eindeutige Belege, dass Texte nicht vollständig gelesen wurden (vgl. z.B. Mart. 2,6,1-4; Ov. met. 9,575; Plin. ep. 7,9,9; Dion. Hal. comp. 4), bzw. kommunizieren Autoren Warnungen oder Erwartungen, dass die Lesenden einzelne Passagen übersprängen (vgl. z.B. Diod. 1,3; Mart. 14,2; Gell. praef. 14).

Vielfältig waren auch die Lesesituationen. Die Lektüre konnte unterbrochen werden, z.B. für Denk-, Exzerpt- und Schreibpausen (vgl. insb. die ikonographischen Belege bei Birt 1907, 181-196; ferner auch das Papyrus-Lesezeichen P.Köln 2 114). Es ist darauf hinzuweisen, dass ein Bewusstsein für die aktive Beteiligung der Leser bei der Sinnkonstitution in den Quellen z.T. sogar explizit thematisiert wird (vgl. die Quellenhinweise bei Schmidt 1990; Bing 2009, außerdem Lukian. Alex. 1; Lukian. Demon. 67; Vett. Val. 7,3). Schriftliche Exzerpte (v.a. auf Wachstafeln) hatten die Funktion der Gedächtnisunterstützung (vgl. v.a. Cic. de orat. 2,86,354-88,360) oder dienten dem Festhalten von Textauszügen oder einzelnen Gedanken als Vorbereitung der eigenen Textproduktion (vgl. v.a. Gell. 17,2,1-2; 17,2,27; 18,4,11, weiterführend Dorandi 1991).

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Die bevorzugte Haltung beim Lesen war wohl die sitzende Position, wobei aber auch die liegende und stehende Position gut bezeugt sind. Gelesen wurde zu verschiedenen Tageszeiten. Nachtstudien (lucubratio) finden sich in den Quellen als Topos der gelehrten Existenz. Als Orte des Lesens gelten neben der Bibliothek, für die der Morgen als beliebte Lesezeit belegt ist, sowohl der private als auch der öffentliche Raum. Daneben finden sich in den Quellen auch das Motiv des Lesens in der Natur (Cic. Att. 12,15; äthHen 13,7; Iul. ep. 83) und vor allem das Motiv des Lesens auf der Reise, z.B. auf dem Schiff oder Wagen (vgl. z.B. Aristoph. Ran. 52-54; Sen. ep. 15,6; Plut. Pomp. 79,3; Mart. 1,2; 8,3; 14,188; Iuv. 3,241; Gell. 9,4; Iul. ep. 29; mJev 16,7).

Individuell-direkte Lektüre wurden dem auditiven Kanal in Bezug auf das Auswendiglernen von Texten vorgezogen (vgl. z.B. Xen. mem. 10; Cic. de orat. 1,33,149-34,159; Cic. fam. 3,7; Hor. ep. 1,19,34-40 Quint. inst. or. 11,2,34). Explizit reflektiert werden Defizite bzw. die geringe Behaltensleistung beim reinen Hörverstehen (vgl. z.B. Aischin. Tim. 72; Cic. fam. 3,7; Hor. ep. 1,19,34-40; Gell. 19,1,13) wie auch die Notwendigkeit der mehrfachen individuellen Lektüre z.B. für ein aussagekräftiges ästhetisches Urteil (vgl. z.B. Sen. ep. 46; Quint. inst. or. 10,1,17) oder als Notwendigkeit für das Verstehen eines Textes (vgl. z.B. Vett. Val. 8; 9 praef.; s. auch Sen. ep. 2,2-6). Daneben finden sich Formen individueller Lektüre mit dem Ziel der Evaluation, der Korrektur (vgl. z B. Cic. Att. 1,13,5; 2,16,4; Plin. ep. 1,8; 2,5,1-8; 7,20,1-3) oder der Feststellung von Pseudepigraphie (vgl. z.B Gal. lib. prop. ed. Kühn 19, p. 8f). Auch Formen der Lektüre zu Unterhaltungszwecken und zum Zeitvertreib (vgl. z.B. Aristoph. Ran. 52-54; Plut. Brut. 36,2; Caes. 11; Pomp. 37: Hor. sat. 1,6,122f; Ael. var. hist. 4,12; Charit. Cal. 8,1,4) oder als Möglichkeit, sich einer unangenehmen sozialen Situation emotional zu entziehen (Lukian. merc. cond. 26), sind belegt.

4. „Lesen“ in der Hebräischen Bibel

Lesen wird im Hebräischen üblicherweise mit dem Verb קרא / ’rq (rufen) angezeigt (in der LXX normalerweise übersetzt mit ἀναγιγνώσκω / anagignōskō). Bei den meisten mit diesem Verb gekennzeichneten Leseszenen handelt es sich um das Vorlesen eines Textes. Dies wird entweder durch den Kontext deutlich oder mit Formulierungen wie „vor den Ohren“ (Ex 24,7; 2Kön 23,2; 2Chr 34,30; Neh 13,1; Jer 29,29; Jer 36,Jer 15.21), „vor dem Angesicht“ (2Kön 22,10; 2Chr 34,18.24; Neh 8,3; Est 6,1) oder „in Gegenwart von“ (Dtn 31,11) angezeigt. Bei den meisten Situationen kollektiv-indirekter Rezeption in der Hebräischen Bibel handelt es sich um singuläre Lese- bzw. Kommunikationsakte auf der Ebene der erzählten Welt. Diese reflektieren keine dauerhaft institutionalisierten und ritualisierten Leseakte, sondern haben jeweils eine narrative Funktion im jeweiligen Erzählkonzept. Umstritten ist die These, dass das Vorlesen durch Esra in Neh 8 eine frühe Form des jüdischen „Wortgottesdienstes“ widerspiegelte. Wegen der Analogielosigkeit des geschilderten Geschehens und des Fehlens von Zeugnissen zu einem jüdischen „Wortgottesdienst“ zum mutmaßlichen Abfassungszeitpunkt in vorrabbinischer Zeit ist diese These eher als unwahrscheinlich anzusehen.

Das Verb קרא / ’rq (rufen) bezeichnet in der Hebräischen Bibel aber auch individuell-direkte Lektüre (vgl. z.B. Dtn 17,18f; 2Kön 5,7; 2Kön 19,14 [= Jes 37,14]; 2Kön 22,8). Dabei zeigt v.a. die Formulierung „damit derjenige rennt, wer sie [scil. die mit deutlicher Schrift beschriebenen Tafel] liest,“ in Hab 2,2, dass – ähnlich wie bei den äquivalenten Begriffen im Griechischen und Lateinischen – die ursprüngliche Verbsemantik verblasst ist und das Verb als konventionalisierter Leseterminus verwendet wird. Das Motiv des Laufens ist hier vor dem Hintergrund der in der Antike verbreiteten konzeptuellen Metapher LESEN IST BEWEGUNG zu verstehen.

Im biblischen Hebräisch kann außerdem הגה / hgh (murmeln) individuell-direktes Lesen bezeichnen, bei dem die Stimme zum Einsatz kommt, der Text aber nicht nicht voll ausartikuliert wird. Während Ps 1,2 recht sicher eine solche Lektürepraxis bezeichnet, ist umstritten, ob die Formulierung in Jos 1,8 das Rezitieren auswendig gelernter Toratexte meint oder schriftmediengestützt zu denken ist. Letztere Deutung ist rezeptionsgeschichtlich bei Hieronymus bezeugt (com. in Psal. 2,2).

5. Lesepraktiken im hellenistischen Judentum und in Qumran

Während der Prolog der griechischen Übersetzung des Sirachbuches individuell-direkte Lektüre des publizierten Textes voraussetzt und 2Makk 2,23-24 ein Bewusstsein für unterschiedliche Rezeptionsmodi erkennen lässt, beide Schriften also ein anonymes Lesepublikum adressieren, bietet vor allem das Werk Philos einen Einblick in die Vielfalt von Lesepraktiken im hellenistischen Judentum. Philo reflektiert z.B. den Stellenwert des Lesens und Schreiben Lernens als grundlegenden Bildungsschritt (agr. 18), verknüpft das Lesen mehrfach eindeutig mit dem Sehsinn (z.B. spec. 1,214; spec. 4,142; leg. 1,83; congr. 20), zeigt ein deutliches metakognitives Bewusstsein für die kognitiven Prozesse beim individuellen Lesen (vgl. z.B. Abr. 177; opif. 6; v.a. aber spec. 4,160-163) und hebt, wie auch oben schon bei anderen Autoren in der Antike zu sehen war, die mnemotechnischen Vorzüge der Konsultation von Lesemedien für das Auswendiglernen hervor (vgl. spec. 4,161f u. die Reflexion der Herausforderungen bei der rein auditiven Rezeption in cont. 76). Philo bietet bei seiner ausführlichen Beschreibung der Therapeuten außerdem einen aufschlussreichen Einblick in die Lesepraxis einer spezifischen Gruppe. Und zwar lesen die Mitglieder dieser Gruppe diese gerade nicht bei Ihren Versammlungen bzw. Mählern, sondern individuell und in Abgeschiedenheit von den anderen (vgl. cont. 27-37.75-79). Sowohl bei Philo als auch bei Josephus finden sich sodann Belege für regelmäßige sabbatliche Verlesungen der Tora (vgl. z.B. Philo prob. 75-82; somn. 2,127). Beide fassen dies als mosaische Weisung auf (Philo apol. 7,12f; Ios. c. Ap. 2,175). Allerdings lässt es der Befund nicht zu, Rückschlüsse auf einen besonderen liturgischen oder gottesdienstlichen Charakter dieser sabbatlichen Veranstaltung zu ziehen. Bei beiden Autoren ist die Veranstaltung vielmehr durch einen eindeutigen Lehr- / Lerncharakter gekennzeichnet (s. auch die sog. Theodotos-Inschrift CIJ 2 1404 → Synagoge [NT]), wobei nicht das Vorlesen an sich, sondern die Vermittlung im Vordergrund steht. Kollektiv-direkte Vorleseszenen als gängiger Rezeptionsmodus anderer literarischer Texte als der Tora (und der Propheten) sind für das hellenistische Judentum nicht bezeugt.

Sabbatliche Lesepraxis mit einem deutlichen Lehr- und Lerncharakter ist darüber hinaus auch in den Texten vom Toten Meer bezeugt (vgl. z.B. 2Q251 1-2 5; 4Q264a I [Frg. 1] 4-5 par 4Q421 13+2+8 2-3 [?]), wobei diese Belegstellen mutmaßlich das Konzept individueller Studienlektüre am Sabbat implizieren. In 1QS 6,6-8 findet sich sodann die Bestimmung, dass in Gruppen von mehr als 10 Personen zu jeder Zeit abwechselnd mindestens einer die Tora studieren soll. Darüber hinaus findet sich die Bestimmung kollektiver Lese- und Studierpflicht in einem Drittel aller Nächte, wobei offenbleibt, ob קרא / ’rq hier lesen oder vorlesen meint, also ob die einzelnen Mitglieder der Gruppe selbst lesen oder einer den anderen vorliest. Andere Stellen in den → Qumran-Handschriften, an denen mutmaßlich Lesen thematisiert oder Lesepraktiken reflektiert werden (z.B. 1QS 6,27-7,3; 4Q266; 4Q265 Fr. 4 2,1f; 4Q203), sind zu fragmentarisch, als dass sie sich sinnvoll auswerten lassen.

6. „Lesen“ im Neuen Testament

Die meisten Belegstellen des griechischen Hauptleseverbs ἀναγιγνώσκω / anagignōskō entfallen auf die geprägte Wendung („habt ihr nicht gelesen“), mit der auf der Ebene der erzählten Welt in den Evangelien den mutmaßlich literarisch gebildeten Dialogpartnern in durchaus polemischer Weise Unkenntnis unterstellt wird und die in leserpragmatischer Hinsicht als Einleitung für Zitate aus der Schrift fungieren (Mk 2,25; Mk 12,10.26; Mt 12,3.5; Mt 19,4f; Mt 21,16; Mt 21,42; Mt 22,31; Lk 6,3). Auf welche Form von Rezeption sich die Wendung bezieht, ist nicht bestimmbar. Die abweichende Formulierung in Lk 10,26, die man mit „Was liest du [in der Tora]?“ oder „Wie liest du [die Tora]?“ übersetzen kann, bezieht sich nicht auf die tägliche Rezitation des Sch’ma Jisrael, sondern verweist auf das Verstehen der Tora im Hinblick auf die vom Schriftgelehrten gestellte Frage nach dem Tun zum Erreichen des ewigen Lebens (Lk 10,25).

6.1. Lesen der Tora und anderer Texte

Aus den wenigen Stellen in der Briefliteratur (Gal 4,21; 2Kor 3,14f; Jak 1,25), die auf das Lesen der Tora rekurrieren, lässt sich nur wenig Genaues über die Form der Rezeption der Tora ableiten, die Paulus vor Augen hatte. „Hören“ meint im Rahmen der rhetorischen Frage in Gal 4,21 mutmaßlich nicht den physiologischen Vorgang, sondern, wie etwa in Röm 10,18f, das (aus seiner Sicht richtige) Verstehen. Das Motiv in 2Kor 3,14f, dass eine Decke ἐπὶ τῇ ἀναγνώσει / epi tē anagnōsei sei, lässt offen, ob die Decke „auf der Lesung“ oder „auf der Lektüre“ liegt. An dieser Stelle geht es Paulus nicht darum, auf eine konkrete Rezeptionssituation zu rekurrieren, vielmehr bringt er in diesem Vers variantenreich die hermeneutischen Defizite zum Ausdruck, welche „die Söhne Israels“ aus seiner Sicht in Bezug auf das Verstehen der Tora haben. Das Motiv des Hineinbeugens in die Tora in Jak 1,25 kann als Metapher für individuell-direkte Lektüre verstanden werden. Ausführlich wird das Lesen der Tora im NT nur im lukanischen Doppelwerk thematisiert. Allerdings stellen sowohl die Verlesung einer kurzen Passage aus Jesaja durch Jesus in der Synagoge in Nazareth in Lk 4,16-20 als auch die individuell-direkte Reiselektüre des äthiopischen Hofbeamten auf seinem Rückweg von Jerusalem in Apg 8 vor allem durch kompositionelle und lesepragmatische Erwägungen geprägte, inszenierte Leseszenen dar. Die literarische Inszenierung zielt vorrangig auf Illustration christologischer Schriftauslegung ab und lässt nur schwer weiterführende sozialgeschichtliche Schlussfolgerungen zu. Auch aus den kurzen Hinweisen auf synagogale Lesepraxis von Texten aus der Tora und den Propheten in Apg 13,15.27 lassen sich keine Rückschlüsse auf einen besonderen gottesdienstlichen Charakter bzw. die genaue Form der Institutionalisiertheit der Lesung in der Synagoge ziehen.

In Apg 23,34 bezeichnet das Verb ἀναγιγνώσκω / anagignōskō in Analogie zum Lesen von Briefen durch höhergestellte Beamte oder Herrscher (vgl. z.B. Diod. 15,8,5; Ios. ant. 7,7,1 [137]; Ios. bell. Iud. 2,16,1 [333f]) die individuell-direkte Lektüre des Begleitschreibens zur Überstellung von Paulus durch den Prokurator Felix. In Joh 19,20 wird erzählt, dass viele der Ioudaioi den Kreuzestitulus lasen, den sich die Erstrezipienten des Johannesevangeliums entsprechend der antiken Praxis als beschriftete Tafel aus geweißtem Holz mit schwarzer Tinte vorstellen konnten. Diese Stelle ist ein sicherer Beleg dafür, dass ἀναγιγνώσκω / anagignōskō im NT gerade nicht immer mit „vorlesen“ zu übersetzen ist, sondern auch in einer aktivischen Pluralform individuell-direkte (und hier sogar visuell konzeptualisierte) Lektüre bezeichnen kann. Visuell konzeptualisiertes Lesen eines kurzen Textes ist sodann implizit auch in Lk 1,62 und Mk 12,16 vorauszusetzen.

6.2. Selbstreferenzielle Verweise auf das Lesen der vorliegenden Schrift

Nur an wenigen Stellen bezieht sich das Verb ἀναγιγνώσκω / anagignōskō selbstreferenziell auf die Rezeption der vorliegenden Schrift. In den Protopaulinen fordert Paulus in 1Thess 5,27 mit deutlichem Nachdruck, dass sein Brief allen Brüdern vorzulesen ist. Die Formulierung impliziert, dass Paulus gerade nicht von einem kulturell vorgegebenen Automatismus des Verlesens von Briefen in der Gemeindeversammlung ausgehen konnte, sondern davon, dass der Brief zuallererst von Gemeindeleitenden gelesen wurde. Eine solche stellvertretende Lektüre von einzelnen Verantwortlichen für ein Kollektiv ist auch sonst in der Antike bezeugt (vgl. z.B. Plut. Lys. 20,1-4; Caes. gall. 5,48,8; Ps.-Clem. Cont. 1,1 [GCS 42, p. 2,27f]). Die Aufforderung des (fingierten) Paulus in Kol 4,16, der vorliegende Brief möge auch in der Gemeinde der Laodikener gelesen werden, ist im Rahmen der Authentifizierungsstrategie des Pseudepigraphons zu verstehen und bezieht sich nicht auf eine reale Rezeptionssituation. Eph 3,3f rekurriert auf den Zusammenhang von Lesen und Verstehen und lässt sich als latente Aufforderung zum wiederholten (mutmaßlich individuell-direkten) Lesen des ebenfalls pseudepigraphen Briefes verstehen.

Der parenthetische Erzählerkommentar „der Lesende bedenke“ in Mk 13,14 wird häufig als Anweisung an den Vorleser verstanden, innezuhalten und das Vorhergehende zu erklären. Diese Interpretation, die eine kollektiv-indirekte Rezeptionsweise des Markusevangeliums thetisch voraussetzt, ist auch aus sprachlich-syntaktischer und semantischer Sicht zu hinterfragen. So ist das Partizip Präsens von ἀναγιγνώσκω / anagignōskō in der griechischen Literatur üblicherweise die Bezeichnung eines individuell-direkt Lesenden (Personen, die vorlesen, werden sonst namentlich oder mit ihrer Amtsbezeichnung benannt). Zudem enthält das Verb νοέω / noeō, das semantisch auf ein kognitives Verstehen bzw. Verarbeiten hindeutet, nicht die Bedeutungsdimension erklären / erläutern / auslegen (hier würde man im NT Verben wie διερμηνεύω / diermēneuō [1Kor 12,30; 1Kor 14,5.13.27 v.a. Lk 24,47] oder ἐπιλύω / epilyō [Mk 4,34, ferner auch 2Petr 1,20] erwarten). Darüber hinaus verweist der Befund des gemeinsamen Auftretens (= Kookkurrenz) von νοέω und ἀναγιγνώσκω / anagignōskō im Thesaurus Linguae Graecae eindeutig auf ein Verstehen im Kontext individuell-direkter Lektüre und bezieht sich häufig auf das mehrfache Lesen ein und desselben Textes (vgl. v.a. Gal. HVA, ed. Kühn 15, p. 791,4-6).

Der Makarismus „Selig [ist] der Lesende und die Hörenden die Worte der Prophetie und Bewahrenden das darin Geschriebene“ in Apk 1,3 lässt sich plausibel vor dem Hintergrund einer kollektiv-indirekten Rezeptionssituation verstehen. Das Partizip von ἀναγιγνώσκω / anagignōskō kann hier allerdings nicht als Beleg für das Amt eines Vorlesers herangezogen werden. Dieses ist erst sehr viel später in der Alten Kirche bezeugt. Die textkritisch gut bezeugte Variante „Selig [ist] der Lesende und Hörende die Worte dieser Prophetie“ bezieht sich hingegen tautologisch auf ein und dieselbe Person und setzt eine individuell-direkte Rezeptionssituation voraus, wobei das „Hören“ sich hier durchaus auf das Verstehen des Textes beziehen lässt. Die unklare textkritische Bezeugungssituation führt dazu, dass sich die ursprünglich anvisierte Rezeptionssituation der Offenbarung nicht sicher bestimmen lässt.

7. Ausblick: Lesen in der frühen Kirche

In der Liturgiewissenschaft geht man heute davon aus, dass sich eine liturgische Lesepraxis im Christentum frühestens ab dem 3. Jh. entwickelte (Buchinger, Rouwhorst, Leonhard). Vor dieser Zeit muss man mit einer großen Vielfalt (meist nicht fest institutionalisierter) kollektiver, aber auch individueller Formen der Rezeption alt- und neutestamentlicher, vor allem aber auch der nicht kanonisch gewordenen Schriften im entstehenden Christentum rechnen. Bei der von Justin (1 apol. 67,3f) beschriebenen Lesepraxis handelt es sich nicht um liturgische, gottesdienstliche Lesungen, sondern um die nicht-normierte Lesepraxis einer philosophischen Gruppierung, die nicht generalisierend auf das Christentum des 2. Jh. übertragbar ist. Bei Tertullian ist z.B. eindeutig belegt, dass das Vorlesen aus den biblischen Schriften in Nordafrika am Ende des 2. bzw. am Beginn des 3. Jh. nicht institutionalisiert war, sondern situationsbezogen durchgeführt wurde (vgl. Tert. apol. 39). In zahlreichen Quellen werden außerdem individuelle Formen der Lektüre reflektiert, die in der frühen Kirche durchaus verbreitet gewesen sein müssen (vgl. z.B. 1Clem 45,2; 53,1; Arist. apol. 16,4f [SC 470]; Polyk. 3,2; Iust. Mart. 1 apol 1,28; Theophilus Ad Autol. 2,34,1f; Clem. Al. paid. 2,96,2; 3,78,2; strom. 6,131,3; Didasc. syr. 2; CA 1,5).

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Text in scriptio continua im Codex Sinaiticus (f. 268r) British Library, MS 43725, Digitised Manuscripts
  • Grabrelief, gr.-attisch?, 5. Jh. v. Birt, Buchrolle, Abb. 90, S. 157

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