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Lamm / Lamm Gottes

(erstellt: Juni 2011)

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1. Textbefund

Das griechische Wort für Lamm (ἁμνός, amnos) tritt nur vier Mal im Neuen Testament auf (Joh 1,29; Joh 1,36; Apg 8,32 (Zitat aus Jes 53,7); 1Petr 1,19). In allen Fällen wird die Bezeichnung auf Jesus bezogen, aber nur im Johannesevangelium ist der Ausdruck „Lamm Gottes“ (ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ, ho amnos tou theou) zu finden.

Mit dem Wort Paschalamm (πάσχα, pascha) verweist Paulus auf den Kreuzestod Jesu (1Kor 5,7).

Die Johannes-Apokalypse benutzt den Begriff Lamm (ἁρνίον, arnion) um den himmlischen Christus als ein geschlachtetes Lamm darzustellen (Apk 5,6; Apk 5,8; Apk 5,12; Apk 5,13; Apk 6,1; Apk 6,16; Apk 7,9-10; Apk 7,14; Apk 7,17; Apk 12,11; Apk 13,8; Apk 14,1; Apk 14,4; Apk 14,10; Apk 17,14; Apk 19,7; Apk 19,9; Apk 21,9; Apk 21,14; Apk 21,22; Apk 21,27; Apk 22,1; Apk 22,3). In Lk 10,3 und Joh 21,15 ist dasselbe Wort auf die Jünger bzw. die Gemeindeglieder bezogen und zwar synonym mit Schaf (προβάτον, probaton) (vgl. Mt 10,16; Joh 21,16-17). Nur ein einziges Mal im Neuen Testament ist das Wort nicht in einem übertragenden Sinn verwendet, dann allerdings im Rahmen eines Vergleichs (Apk 13,11).

Dieser Sachverhalt erfordert eine Darstellung des metaphorischen Wertes des Lammes in der antiken Welt, um seine Signifikanz in den neutestamentlichen Texten darzulegen. Von besonderem Interesse sind die Vorstellungen, die in der hebräischen Bibel, besonders in der LXX-Fassung, und in den hellenistisch-jüdischen Schriften zum Ausdruck kommen.

Die relevanten Motive können in folgende Abschnitte eingeteilt werden: Das Opferlamm (2.), das apokalyptische Lamm (3.), das Lamm als Symbol (4.), das Paschalamm (5.) und das Lamm Gottes (6.). Danach kann die Wirkungsgeschichte in den Blick genommen werden (7.).

2. Das Opferlamm

2.1. Frühes Judentum

In den Beschreibungen des jerusalemischen Opferkultes in der LXX wird der Begriff ἀμνός (amnos) durchgängig für die Opferlämmer verwendet. Das gilt sowohl für das tägliche Tamidopfer (Ex 29,38-42; Num 28,3-8; Ez 46,13-15) als auch für das Brandopfer (Lev 7,15), Schuldopfer (Lev 14,12) und Dankopfer (Lev 23,19). In allen Fällen muss das Lamm makellos (ἀμώμος, amomos) sein. In den alttestamentlichen Texten wird dieses Opfer nicht direkt als sühnend beschrieben, aber schon im → Jubiläenbuch 6,14 wird die Vorstellung ausgedrückt, dass das Tamidopfer dem Volk Vergebung schafft (vgl. Jub 50,11). Diese Auffassung des Tamidopfers wird in der rabbinischen Tradition weitergeführt.

2.2. 1. Petrusbrief

Im 1. Petrusbrief wird Christus als ein makelloses Opferlamm dargestellt. Er hat mit seinem Blut die Menschen von ihrer alten Existenz erlöst (1Petr 1,18-19). Die Verbindung zwischen ἀμνός (amnos) und ἀμώμος (amomos) (1Petr 1,19) und die Erwähnung des Blutes (1Petr 1,18) deuten darauf hin, dass die alttestamentliche Tradition vom Opferlamm hinter dieser Beschreibung der Erlösungstat Jesu stehen.

3. Das apokalyptische Lamm

3.1. Frühes Judentum

Einzelne frühjüdische Schriften enthalten eine Vorstellung von einem apokalyptischen Lamm, das in der Endzeit herrschen wird. Das Lamm ist in diesen Schriften eine messianische Figur.

Am Schluss der Tierapokalypse im → Ersten Buch Henoch (äthHen 83-90) werden die Schafe, die symbolisch das Volk Israel darstellen, in einem großen Haus versammelt. Dort werden ihre Geschlechter verwandelt, damit alle weiße Rinder werden. Nach einigen Übersetzungen des äthiopischen Textes wird das erste unter ihnen in ein Lamm verwandelt und bekommt große, schwarze Hörner auf seinen Kopf. Der Herr der Schafe freut sich über das Lamm (äthHen 90,38). Das Lamm ist in dieser Vision eine messianische Gestalt, die als ein endzeitlicher Führer des geheilten Volkes auftritt.

In der armenischen Version des Testaments Josephs (noch kein Artikel) schließt Joseph seine Darstellung mit einer Allegorie, die er in einer Vision von der Endzeit gesehen hat (TestJos 19). Er sah zwölf Hirsche, von denen zunächst nur drei in Lämmer verwandelt wurden, im folgenden wurden alle zwölf Tiere in Schafe verwandelt. In einer weiteren Vision sah er aber zwölf Stiere, in deren Mitte ein Lamm von einer Jungfrau fortgebracht wurde. Sämtliche Tiere und Reptilien der Erde griffen das Lamm an, aber es besiegte sie alle, und die Stiere jubelten wegen ihm (TestJos 19,7-9). Auch in diesem Text symbolisiert das Lamm eine messianische Figur, die einen endzeitlichen Widerstand zu Gunsten der zwölf Stämme niederkämpft. Ob hier – wie in der griechischen Version des Textes – eine christliche Interpolation vorliegt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wenn es sich um eine christliche Bearbeitung des jüdischen Originals handelt, so liegt ein Fall der Rezeptionsgeschichte der Johannes-Apokalypse vor.

3.2. Johannes-Apokalypse

In der Johannes-Apokalypse hat ein Lamm (ἀρνίον, arnion) eine hervorragende Platzierung in den eschatologischen Szenarien. Diese apokalyptische Figur ist als eine symbolische Darstellung des himmlischen Christus zu verstehen, weswegen das Lamm wie geschlachtet aussieht (Apk 5,6). Weil es geschlachtet ist, ist es würdig den Platz neben Gott einzunehmen und die sieben Siegel der Schriftrolle zu öffnen (Apk 5,9-14). Weiterhin haben die 144.000 Geheilten ihre Kleider in dem Blut des Lammes gewaschen und rein gemacht (Apk 7,14). Gerade die Tatsache, dass sie dem Lamm nachgefolgt sind, zeichnet sie aus (Apk 14,4). Ferner wird erzählt, dass der Teufel wegen des Bluts des Lammes besiegt worden ist (Apk 12,11). In der Beschreibung des endzeitlichen Kampfs gegen die große Hure Babylon heißt es von den zehn Königen, denen mit dem Tier die Macht für eine Stunde übergeben wird, dass sie gegen das Lamm kämpfen werden, das Lamm sie aber überwinden wird (Apk 17,12-14). Auch in den endzeitlichen Freudenszenen spielt das Lamm eine zentrale Rolle: nach dem Untergang Babylons wird seine Hochzeit gefeiert (Apk 19,1-10) und in dem neuen Jerusalem ist das Lamm das Licht (Apk 21,23). Gleichsam wie Gott hat es einen Thron (Apk 22,3). Die bedeutsame Rolle des Lammes wird ferner dadurch akzentuiert, dass das Buch des Lebens ebenfalls das Buch des Lammes heißt (Apk 21,27).

Auf der einen Seite bezieht sich das Lamm der Johannes-Apokalypse auf frühjüdische Vorstellungen, die nicht ausschließlich apokalyptisch sind, aber auch Vorstellungen vom Schlachten des Opferlamms umfassen. Auf der anderen Seite sind die Traditionen deutlich durch eine christologische Auffassung geprägt, daher besteht das grundlegende Erlösungsgeschehen der Johannes-Apokalypse weniger in dem künftigen endzeitlichen Krieg, sondern eher in dem schon stattgefundenen Schlachten des Lammes, das sowohl seine Rolle im Ablauf der eschatologischen Ereignisse erlaubt als auch das Heil der Menschen ermöglicht (vgl. Apk 5,9). Nichtsdestoweniger verkörpert das Lamm auch in dem endlichen apokalyptischen Kampf eine ausschlaggebende Rolle, welcher die frühjüdische Symbolik von einem messianischen Lamm entspricht. Daher ist es folgerichtig, dass auch die jüdischen Vorstellungen von einer endzeitlichen Hochzeit (vgl. Jes 61,10; Jes 62,5; Hos 2,21-22) auf das Lamm übertragen werden.

4. Das Lamm als Symbol

4.1. Frühes Judentum

Schon in der hebräischen Bibel hat das Lamm symbolischen Wert als ein Muster an Wehrlosigkeit und Verletzbarkeit (z.B. Jes 5,17; Jes 11,6; Jer 11,19; Hos 4,16). Das zeigt der für dieses Thema in vielerlei Hinsicht sehr bedeutsame Vers des Vierten Gottesknechtsliedes:

„Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm (LXX: ἀμνός, amnos), das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf“ (Jes 53,7).

Die gleiche Symbolik liegt der verbreiteten metaphorischen Vorstellung der Beziehung zwischen Gott und dem Volk zugrunde: Gott ist der Hirte Israels, und das Volk ist seine Herde. Die Symbolik der Wehrlosigkeit bedingt ferner, dass Israel ohne seinen Hirten schutzlos ist (z.B. Num 27,17; 1Kön 22,17; Ez 34). Als die Herde Gottes muss Israel seinem Hirten gehorchen, denn ohne ihn kann es sich möglicher Gefahren nicht erwehren.

In der Tierapokalypse im → Ersten Buch Henoch (äthHen 83-90) wird das Volk Israel symbolisch als eine Schafherde dargestellt (äthHen 89-90), hierbei wird vor allem die Wehrlosigkeit derselben betont. Die Schafe sind nicht in der Lage, sich gegen die wilden Tiere zu schützen bzw. zu Wehr zu setzen. Gleiches gilt auch für die Lämmer der Herde, welche von Raben zerrissen und zerschlagen werden (äthHen 90,6-9). Erst als der Herr der Schafe eingreift, werden die Schafe aus der Gewalt ihrer der wilden Tiere befreit (äthHen 90,18-19).

In der alttestamentlichen und frühjüdischen Literatur ist ein Lamm folglich besonders mit Konnotationen der Wehrlosigkeit und Verletzbarkeit belegt, aber auch mit Aspekten des Gehorsams verbunden, weil es sich führen lassen muss um sein Leben zu retten bzw. zu erhalten.

4.2. Evangelien

Diese Symbolik ist in die frühe christliche Literatur übernommen worden. Im Lukasevangelium beschreibt Jesus die Wehrlosigkeit der Jünger, wenn er sagt, dass er sie als Lämmer (ἄρνας, arnas) mitten unter Wölfe sendet (Lk 10,3; vgl. 2 Klem 5,2). Die Parallele im Matthäusevangelium verwendet das Wort Schaf (προβάτον, probaton) mit dem gleichen symbolischen Gehalt (Mt 10,16). Das Johannesevangelium bezieht sich auf die alttestamentliche Tradition, welche das Gottesvolk als Herde Gottes versteht, und überträgt diese Symbolik auf die Gemeinde, wobei selbsverstädnlich die Notwendigkeit eines Hirten impliziert wird (vgl. Joh 10,1-5; Joh 10,11-13; Joh 10,14-16; Joh 21,15-17). Das vierte Evangelium verwendet sowohl Lamm (ἀρνιον, arnion) (Joh 21,15) als auch Schaf (προβάτον, probaton) (Joh 10,1-16; Joh 21,16-17); in beiden Fällen wird die Wehrlosigkeit und Verletzbarkeit der Gemeinde symbolisch dargestellt.

5. Das Paschalamm

5.1. Frühes Judentum

Das Schlachten von Lämmern ist ein integrativer Teil des jüdischen Pascharituals. Im ätiologischen Bericht von der Einstiftung des Pascha (Ex 12; vgl. Num 9,1-4; Dtn 16,1-8) hat das Lamm (προβάτον, probaton) sowohl eine apotropäische als auch eine anamnetische Funktion. In der biblischen Erzählung nimmt das Lamm die Funktion eine Schutzes gegen den Tod ein; Gott geht an den Häusern der Israeliten vorbei, wenn er die Erstgeborenen der Ägypter tötet, weil er das Blut des Lammes auf den Türpfosten sieht (Ex 12,13). Während diese Erzählung ein ewiges Ritual einstiftet (Ex 12,14), erinnert das rituelle Schlachten des Lammes an die Befreiung aus der Gefangenschaft in Ägypten (Ex 12,24-26). In dieser Weise markiert das Paschalamm den grundlegenden Heilsakt der Geschichte Israels.

Andere alttestamentliche Texte sind auf die nötige Reinheit der Teilnehmer am Pascharitual fokussiert (Num 9,6-14; 2Chr 30,1-20; 2Chr 35,1-19; Esr 6,19-22; Ez 45,18-25), in allen Fällen aber hat das Lamm an sich nur die Funktion einer rituellen Erinnerung an die Befreiung aus dem ägyptischen Sklavenhaus.

Außerhalb des Alten Testaments findet man beide Funktionen wieder. Im → Jubiläenbuch werden sowohl die schützende Funktion des Blutes hervorgehoben (Jub 49,2f.) als auch die Erinnerung an dieses Heil, welche die Funktion des Pascharituals ist (Jub 49,7f.). Das Verbot gegen das Zerbrechen der Knochen des Lammes bekommt eine apotropäische Funktion: Die Knochen des Lammes dürfen nicht gebrochen werden und die Knochen der Israeliten werden nicht gebrochen (Jub 49,13). Obwohl das genaue Verhältnis zwischen dem Nichtzerbrechen der Knochen des Lammes und der Bewahrung Israels nicht ganz klar ist, erneuert das jährliche Pascharitual zweifelsohne den Schutz des Volkes.

In einer allegorischen Auslegung des Paschafestes versteht → Philo von Alexandrien zunächst die Feier als eine Erinnerung und Dankaussage für die Befreiung aus dem gottlosen und unmenschlichen Ägypten (Spec. 2.146). Sodann deutet er die Auswanderung aus Ägypten allegorisch als den Übergang der Seele von den körperlichen Leidenschaften zu einem Status der Reinheit (Spec. 2.147). Das Paschalamm (προβάτον, probaton) hängt nach Philo etymologisch mit προβαίνω (probaino, vorwärtsgehen) zusammen, deswegen kann es eine Allegorie für den Fortgang der Seele von den Leidenschaften zu einem tugendhaften und perfekten Zustand sein (Sacr. 112; Congr. 106; QE 1.7f.). Philo versteht in allen Fällen den Übergang von einer Situation zu einer besseren als die fundamentale Struktur des Pascha und legt diese Struktur seiner allegorischen Exegese zugrunde.

Der jüdische Schriftsteller Ezechiel Tragicus betont die apotropäische Funktion des Pascharituals in seiner Darstellung des Exodus. Wie das Blut des Paschalammes das Volk gegen den Tod beschützt hat (Exagoge 184-187), so wird in der Folge die jährliche Paschafeier die Israeliten beschützen (Exagoge 188-191).

In seiner Relektüre des Exodus nennt → Josephus zwar nicht die Besprengung des Blutes auf die Türpfosten, lässt dem Blut aber eine reinigende Funktion zukommen. Wegen des Blutes kommen die Israeliten von einer Situation der Unreinheit zu einem Status der Reinheit (Ant. 2.311-314) und aufgrund ihrer Reinheit können sie nicht vom Tod berührt werden.

In den frühjüdischen Auslegungen des Pascha treten zwei Motive hervor: es symbolisiert einerseits den Übergang aus der Sklaverei in die Freiheit und fungiert andererseits als Schutz gegen den Tod.

5.2. 1. Korintherbrief

Wenn Paulus die Korinther daran erinnert, dass das Paschalamm (πάσχα, pascha) schon geschlachtet ist (1Kor 5,7), versteht er in Übereinstimmung mit den frühjüdischen Traditionen das Lamm als die Markierung eines Übergangs. Die Korinther sollen nicht länger ihrer alten Lebensweise folgen, weil Christus als das Paschalamm den Übergang von ihrem ehemaligen unmoralischen Leben im Heidentum zu einem neuen, moralisch reinen Status veranlasst hat.

6. Das Lamm Gottes im Johannesevangelium

Der Terminus „Lamm Gottes“ begegnet nur im Johannesevangelium, wenn Johannes der Täufer Jesus als „das Lamm Gottes (ὁ ἀμνὸς τοῦ θεοῦ, ho amnos tu theou), das die Sünde der Welt wegträgt“ (Joh 1,29) präsentiert. Später wiederholt er die Benennung in Kurzform (Joh 1,36). Die johanneische Bezeichnung lässt sich nicht auf eine einzige alttestamentliche oder frühjüdische Vorstellung zurückführen, im Gegenteil bringt der Ausdruck mehrere Traditionen in einer innovativen Kombination zusammen, aus welcher ein neues Konzept entsteht.

6.1. Jes 53

Zunächst ist die Beschreibung des Knechtes Gottes im vierten Gottesknechtslied (Jes 52,13-53,12) die nächstliegendste Parallele zur johanneischen Vorstellung. Auch anderswo im Evangelium bringt der Verfasser die Vorstellungen des leidenden Gottesknechts mit Jesus in Verbindung (Joh 12,38). Wahrscheinlich ist der Ausdruck „Lamm Gottes“ in Analogie zu der jesajanischen Bezeichnung „Knecht Gottes“ (Jes 52,13: ὁ παίς μου, ho pais mu) unter Einfluss der bildlichen Beschreibung des Knechtes als ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird (Jes 53,7), konstruiert. Auch in der Apostelgeschichte wird genau diese Stelle auf Jesus bezogen (Apg 8,32-35). Auch die Funktion des Lammes Gottes kann vom jesajanischen Gottesknecht beeinflusst sein. Von ihm heißt es in der LXX-Fassung: „er trägt unsere Sünden“ (οὑτος τὰς ἁμαρτίας ἡμών φέρει, hutos tas hamartias hemon ferei) (Jes 53,4).

In Jes 53 findet man die Formulierung vom Knecht Gottes („mein Knecht“), das Motiv des Sündentragens und den Vergleich mit einem Lamm. Eine einzigartige Kombination dieser Bedeutungskomponenten bildet den Hintergrund für das johanneische Konstrukt „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt“ (Joh 1,29).

6.2. Das Paschalamm

Im Johannesevangelium hat das Lamm aber eine noch größere Rolle, denn in der johanneischen Darstellung der Kreuzigung spielt der Verfasser mehrmals auf Paschatraditionen an. Zunächst wird Jesus in Gegensatz zu den Synoptikern nicht am 15. Nisan gekreuzigt, sondern am Tag davor (Joh 19,31). Somit stirbt er zeitgleich mit der Schlachtung der Paschalämmer auf dem Tempelplatz. Am Kreuz wird Jesus ferner ein Schwamm mit Essig auf einem Hyssop-Stängel gebracht (Joh 19,29). Da Hyssop für diesen praktischen Zweck gar nicht tauglich ist, wird die Aufmerksamkeit auf die Pascharituale gelenkt, nach denen das Blut des Paschalammes mit Hyssop auf die Türpfosten gestrichen werden muss (Ex 12,22). Endlich betont das Johannesevangelium, dass die Beine Jesu nicht gebrochen werden (Joh 19,32-33), damit die Verordnung für das Paschalamm, dessen Knochen nicht zerbrochen werden dürfen (Ex 12,46), an Jesus verwirklicht wird (Joh 19,36). Diese Sachverhalte deuten an, dass das Lamm Gottes im Johannesevangelium auch das wahre Paschalamm ist.

6.3. Das Johannesevangelium

Die Kombination des Gottesknechtes aus Jes 53 mit dem Paschalamm resultiert in einem weiten semantischen Potential. Aus dem vierten Gottesknechtslied stammt u.a. die Vorstellung von einem Unschuldigen, der die Sünden auf sich lädt und nach seiner Erniedrigung erhöht und verherrlicht wird (Jes 52,13; Jes 53,13). Es gehört zu dieser Idee, dass er nach seiner Erhöhung die Erkenntnis hervorruft, dass er die Sünden der Anderen getragen und sie durch sein Leiden gerettet hat (Jes 53,4-7). Aus den Traditionen des Paschalamms hat das johanneische Lamm Gottes insbesondere die Idee des Schutzes gegen den Tod und die Vorstellung, das Lamm stelle einen Übergang dar, übernommen. Die Metapher „Lamm Gottes“ im Johannesevangelium enthält alle diese Bedeutungskomponenten.

Wenn Jesus im Johannesevangelium das Lamm Gottes genannt wird, werden Teile des semantischen Potentials der Metapher an ihm aktualisiert; er ist das Lamm Gottes, das nach seinem unschuldigen Leiden und Tod erhöht und verherrlicht wird. Damit begründet er einen Glauben an seine Identität. Dieser Glaube ist eine Tilgung der Sünde (vgl. Joh 16,9) und bewirkt sogleich einen Übergang vom Tod zum ewigen Leben (vgl. Joh 17,3). Wenn diese neue Konzeption, die aus der Kombination des Gottesknechtes mit dem Paschalamm entstanden ist, auf diese Weise am johanneischen Jesu verwirklicht wird, wird das Lamm Gottes zu einem zentralen Ausdruck der johanneischen Theologie.

7. Wirkungsgeschichte

Die johanneische Formulierung „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt“ (Joh 1,29) ist bereits ein fester Bestandteil in frühen Liturgien. Nach der Liturgie des heiligen Apostels Jakobus, deren Zentralelemente wahrscheinlich auf das vierte Jahrhundert zurückgehen, sagt der Priester vor der Kommunion, wenn er das Brot gebrochen und darüber das Kreuz geschlagen hat: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt, geschlachtet für das Leben und Heil der Welt“. Die Jakobusliturgie ist möglicherweise eine Inspirationsquelle für die Introduktion von „Agnus Dei“ in die römische Messe. Vor der Kommunion in Verbindung mit der symbolischen Brotbrechung betet der Priester zweimal: „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis“ und seit dem elften Jahrhundert einmal: „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem“. Auch in den östlichen Kommunionsritualen spielt der Ausdruck „Lamm Gottes“ eine wichtige Rolle in Verbindung mit der Brotbrechung. In der byzantinischen Liturgie kann das Brot sogar „das Lamm“ (ὁ ἀμνός, ho amnos) genannt werden, und das liturgische Messer wird „der Speer“ (ἡ λόγχη, he logche) genannt (vgl. Joh 19,33-35). Die ganze Vorbereitung der Kommunion heißt nach dem achten Jahrhundert regelmäßig „Schlachtung des Lammes“. Obgleich Unterschiede bestehen, wird die Brotbrechung sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Tradition als eine symbolische Darstellung der Opferung des Lammes aufgefasst, wobei man sich hauptsachlich auf die johanneische Vorstellungen bezieht, damit aber auch die alttestamentlichen Traditionen des Paschalamms einbezieht.

Obwohl sich die Interpretation des Abendmahles in der protestantischen Tradition von der katholischen und orthodoxen unterscheidet, hat das „Agnus Dei“ nichtsdestoweniger in deutscher Übersetzung („Christe, Du Lamm Gottes“) mit der Melodie von Martin Luther seinen Platz in der gottesdienstlichen Liturgie. Auch in vielen anderen liturgischen Formeln wird Christus als „das Lamm Gottes“ bezeichnet. Das früheste Beispiel stammt aus dem Gebet „Gloria in excelsis Deo“ aus den apostolischen Konstitutionen und Kanones aus dem 4. Jahrhundert. In diesem Gebet spricht der Beter Gott in folgender Weise an: „Herr, König des Himmels, Gott, allmächtiger Vater, Herr Gott, Vater Christi, des makellosen Lammes, welches die Sünden der Welt wegträgt“ (Apos. Cos. VII.47). Zu der in der östlichen und westlichen Liturgie weit verbreiteten Verwendung der Metapher kommt die allgemeine Aufnahme des Ausdrucks in die christlichen Hymnen hinzu. Insgesamt ist „das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegträgt“ eines der bekanntesten Bilder im christlichen Gottesdienst.

Aus seiner zentralen Position im Gottesdienst folgt fast zwangsläufig die Rezeption des „Lamm Gottes“ auch in der bildenden Kunst. Jedenfalls ab dem 6. Jahrhundert gehört das Lamm zu den zentralen Christussymbolen in der altkirchlichen Kunst des Westens. Ikonographisch dominieren die Motive der Johannes-Apokalypse. Das triumphierende Lamm stellt symbolisch den siegenden Christus dar.

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Gern wird das Lamm mit einem Kreuz oder einer Siegesfahne, die die Auferstehung symbolisiert, dargestellt

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In den Fällen, in denen das Motiv eher aus dem Johannesevangelium stammt, wird „das Lamm Gottes“ in Übereinstimmung mit der Einverleibung des Bildes in der kirchlichen Liturgie als Ursprung der Kommunion dargestellt. Typisch ist die Anschaulichkeit der Symbolik, denn das Blut des Lammes strömt direkt in einen Kelch.

Im Osten wurde die Lamm-Symbolik zunächst weniger ikonographisch rezipiert. Um 692 wird die Darstellung des Lammes Gottes auf dem Kreuz verboten, um die Menschlichkeit Christi nicht anzutasten. Erst im 17. Jahrhundert wird das Motiv wieder ikonographisch aufgenommen.

Auch musikalisch hat das liturgische „Agnus Dei“ eine breite Rezeption erlebt und ist fester Bestandteil der Messekompositionen von u.a. J.S. Bach, L. van Beethoven und J. Haydn, aber auch viele andere Kompositionen haben „das Lamm Gottes“ aufgenommen. Am bekanntesten ist wahrscheinlich G.F. Händels Interpretation von Joh 1,29, „Behold the Lamb of God“, in seinem Oratorium „Messias“.

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Literaturverzeichnis

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3. Weitere Literatur

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Abbildungsverzeichnis

  • „Die Verehrung des Lammes“, Detail aus dem Genter Altar von J. van Eyck (um 1432). Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei
  • Gemälde des Tonnengewölbes der St. Peter Kirche, Schönbrunn (um 1500). Foto: Nielsen
  • Detail aus dem Isenheimer Altar von M. Grünewald (1506-1515). Quelle: http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Gr%C3%BCnewald,+Mathis+Gothart%3A+Isenheimer+Altar%3A+Kreuzigung,+Detail+%5B5%5D, gemeinfrei

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