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Kynismus

Andere Schreibweise: Kynismos; Cynismus (engl. Cynicism)

(erstellt: September 2015)

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Der Kynismus ist eine prominente philosophische Richtung der antiken hellenistisch-römischen Welt. Ihre wichtigsten Vertreter wirken im 4. / 3. Jh. v. Chr. und im 1. / 2. Jh. n. Chr. Ein gewisser kynischer Einfluss auf die Entstehung von biblischen und insbesondere neutestamentlichen Aussagen ist durchaus wahrscheinlich.

1. Die kynische Philosophie

Insgesamt stellt sich das Phänomen des antiken Kynismus zu disparat dar, um als philosophische „Schule“ bezeichnet zu werden. Dennoch verbinden die relevanten Quellen einige charakteristische Merkmale mit den kynischen Philosophen, die im Folgenden kurz umrissen werden sollen.

1.1. Quellen

Erschwert wird die Beschäftigung mit den Kynikern durch die Tatsache, dass Quellen aus erster Hand allenfalls fragmentarisch erhalten sind. Daher orientiert sich die Rekonstruktion kynischen Denkens hauptsächlich an den Schilderungen Dritter. Umfangreichere antike Darstellungen der kynischen Philosophie finden sich in den Dissertationes des Epiktet (Epict., Diss. 3,22) aus dem frühen 2. Jh. n. Chr. und bei Diogenes Laertios (Diog. L. 6) im 3. Jh. Zu den einzelnen Vertretern des Kynismus bietet Diogenes Laertios teils umfangreiche Listen von Werktiteln. Von all diesen Schriften sind jedoch nur Teile aus dem Opus des Teles von Megara, welcher ein weniger bedeutsamer Repräsentant der kynischen Philosophie war, durch Stobaios überliefert worden.

Eine recht frühe Quelle zu den Wurzeln kynischen Denkens stellt das Symposium des Xenophon dar. Neben anderen antiken Philosophen lässt Xenophon bereits im 4. Jh. v. Chr. auch den Sokratiker Antisthenes zu Wort kommen, welcher später von Diogenes Laertios als Begründer des Kynismus angesehen wird. Auch die Sammlung von pseudepigraphen Kynikerbriefen, deren Textgeschichte schwer zu rekonstruieren ist, enthält zwar keine authentischen Worte der Autoren, denen die Briefe zugeschrieben werden, dokumentiert in Teilen aber dennoch kynisches Denken während einer frühen Phase dieser philosophischen Richtung.

Im 1. und 2. Jh. n. Chr. hegen dann Dion von Prusa und Lukian von Samosata deutliche Sympathien für die Kyniker. In mehreren seiner Orationes nimmt Dion Bezug auf kynische Gedanken, die für ihn insbesondere die Figur des Diogenes von Sinope verkörpert. Lukian beschreibt in seinen Schriften Demonax und De Morte Peregrini nicht nur das Wirken kynischer Philosophen seiner Zeit, sondern rezipiert in anderen Texten auch stark das Werk des Menippos von Gadara, des Urhebers der sog. „menippeischen Satire“ (Helm 1906).

Stilistisch fällt auf, dass die Kyniker-Überlieferung sich stark aus Chrien speist, aus kurzen, pointierten Aussprüchen also, die teilweise zu einer kleinen Szene ausgestaltet werden. Die pointierte, teilweise derbe und häufig provokative Ausdrucksweise ist typisch für die Lehre der Kyniker. Wo sie mehrere solcher unterhaltsamen Elemente zu einer längeren Rede – der Diatribe – ausarbeiten, gelingt es den kynischen Philosophen häufig, mit ihrem öffentlichen Auftreten die Aufmerksamkeit ihrer Zeitgenossen zu erregen. Mit dem schon in der Antike gebräuchlichen Kunstwort σπουδογέλοιον / spoudogeloion lässt sich das Wesen der kynischen Lehre gut erfassen: Die Kyniker vermitteln durchaus ernste Inhalte (σπουδαῖον / spoudaion), kleiden sie aber in eine zum Lachen anregende Form (γέλοιον / geloion).

1.2. Entwicklung

Die Ursprünge der kynischen Philosophie liegen im 4. Jh. v. Chr. Bei Diogenes Laertios gilt der Sokrates-Schüler Antisthenes mit seiner an der Mäßigung orientierten Ethik als erster Vertreter des Kynismus (Diog. L. 6,2). Zur idealtypischen Figur der kynischen Philosophie avanciert dann aber Diogenes von Sinope, der ethische Grundlagen von seinem Lehrer Antisthenes übernimmt, diese dann aber rigoros weiterführt. Dem schamlosen Auftreten des Diogenes verdankt die philosophische Richtung auch ihre Bezeichnung. Denn als seine Mitmenschen ihn wegen seines Verhaltens als „Hund“ (κύων / kyōn) schmähten, soll Diogenes diesen Namen stolz übernommen haben (Diog. L. 6,40.61). Die Genügsamkeit und Bissigkeit der Hunde sehen die Kyniker als nachahmenswert an (s.u.). Zu den prominenten Kynikern des 4. Jh. zählt ferner Krates von Theben, ein Schüler des Diogenes. Er soll im Moment seiner Hinwendung zum Kynismus seinen gesamten Besitz veräußert und sich für das vagabundierende Leben eines Philosophen entschieden haben (Diog. L. 6,87). Als sich die Ehe mit Hipparchia anbahnt, einer Tochter aus vornehmen Hause, soll er sich nackt vor ihr aufgebaut haben, um sie so auf seine Besitzlosigkeit hinzuweisen (Diog. L. 6,96).

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Ins 3. Jh. v. Chr. fällt die Schaffenszeit des Kynikers Menippos, der als Bewohner von Gadara in räumlicher Nähe zur späteren Heimat Jesu wirkt. Menippos ist der Urheber eines literarischen Genres, in dem versförmige und prosaische Abschnitte sich ständig abwechseln. Inhaltlich erzählt die sog. „menippeische Satire“ oftmals von Reisen zwischen Diesseits und → Jenseits, durch welche die Bedeutung irdischen Besitzes und Ansehens relativiert wird (Helm 1906; Neumann 2008). Etwa zeitgleich mit den Satiren des Menippos entstehen die Schriften des Teles.

In der Folgezeit verliert die kynische Philosophie an Einfluss, bis sie dann im 1. und 2. Jh. n. Chr. wieder stärker in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rückt (Dudley 1937). Epiktet, Lukian und Dion von Prusa greifen in ihren Schriften kynische Gedanken auf und dokumentieren damit das neu belebte Interesse. Gleichzeitig illustrieren ihre Texte aber auch, dass in ihrer Zeit kynische und stoische Motive nicht mehr scharf voneinander abgegrenzt werden, wenngleich Lukian von einzelnen Zeitgenossen berichtet, die sich dezidiert als Kyniker begreifen. Die scharfen Pointen und das provokative Auftreten seiner Vertreter lassen den Kynismus zu einem bekannten Teil antiker Popularphilosophie werden. Mit Kaiser Julian findet die kynische Philosophie im 4. Jh. noch einmal einen bedeutsamen Befürworter. Über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis hinein in die Moderne werden antike kynische Impulse im philosophischen Diskurs rezipiert.

1.3. Hauptgedanken

Nachdrücklich betont Diogenes Laertios, dass es sich beim Kynismus nicht einfach um einen Lebensstil handelt, sondern um eine veritable Philosophie (Diog. L. 6,103). Der Widerspruch zeigt natürlich, dass die von Diogenes bestrittene Ansicht bereits in der Antike häufig vertreten worden ist. Tatsächlich liegt der Hauptakzent kynischen Denkens auf Fragen der Ethik.

1.3.1. Tugend

So spielt der Begriff der Tugend (ἀρετή / aretē) eine wichtige Rolle in den kynischen Quellen. Allerdings wollen die Kyniker sich nicht rein kognitiv mit der Tugend befassen, sondern vielmehr die Beschäftigung mit der Tugend von allem überflüssigen philosophischen Ballast befreien, um ihre Überzeugungen möglichst direkt lebenspraktisch zur Anwendung bringen zu können. In diesem Sinne wird der Kynismus als „Abkürzung zur Tugend“ (Diog. L. 6,104) beschrieben.

Der gesunde Menschenverstand reicht nach kynischer Auffassung dazu aus, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Wo Menschen einander Gewalt antun und betrügen, ist die → Bosheit anstelle der Tugend am Werk. Die Ursache für untugendhaftes Verhalten sehen die Kyniker in der menschlichen → Gier. Sie ist die sprichwörtliche „Mutterstadt alles Schlechten“ (Diog. L. 6,50; Dio Chrys., Or. 17,6; vgl. auch Ps-Luc., Kyn. 15; Teles 35-36H).

1.3.2. Genügsamkeit

Gemäß ihrer Auffassung von Tugend bemühen die Kyniker sich darum, ein Leben zu führen, das nicht von der Gier bestimmt wird. Stattdessen orientieren sie sich am Ideal der „Selbstgenügsamkeit“ (αὐτάρκεια / autarkeia). Da → Reichtum vergänglich ist und dem Reichen nur Sorgen beschert (Dio Chrys., Or. 6,35-36; Teles 33-44H), halten die Kyniker ihn ohnehin für nicht erstrebenswert. Tugendhaft zu leben bedeutet, sich den jeweiligen Gegebenheiten anpassen zu können. Die Grundbedürfnisse des Menschen lassen sich dabei mit sehr einfachen Mitteln stillen (Dio Chrys., Or. 6; Teles 7-8H). Hinsichtlich der Genügsamkeit nehmen die Kyniker sich ein Beispiel am Leben der Tiere (Diog. L. 6,22). Auch sie finden alles, was sie brauchen, ohne dafür zu arbeiten und ohne Besitztümer anzuhäufen.

Stellenweise verbindet sich diese Sichtweise mit religiösen Auffassungen. So kann Gott als der Versorger betrachtet werden, der dem Menschen das zum Leben Notwendige zur Verfügung stellt (Ps-Luc., Kyn. 7). Die kynischen Philosophen können sogar für sich in Anspruch nehmen, im göttlichen Auftrag zu handeln (Epict., Diss. 3,22,56.69). Bei aller Reserviertheit gegenüber Elementen traditioneller Frömmigkeit fehlt somit doch auch ein theologisches Moment nicht gänzlich in der kynischen Philosophie (Rahn 1960; Goulet-Cazé 1996).

Die Genügsamkeit spiegelt sich auch im Äußeren der Kyniker. Sie sind an ihrer Tracht zu erkennen, die aus Mantel, Stab und Ranzen besteht (Diog. L. 6,13; Epict., Diss. 3,22,9-10). Mit diesen wenigen Gegenständen sehen sie sich als für das Leben des Wanderphilosophen gut gerüstet an. Von Diogenes wird erzählt, dass er auch diese bescheidene Ausstattung noch zu reduzieren versucht habe (Diog. L. 6,37).

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Spätestens im 2. Jh. n. Chr. muss es dann aber auch Männer gegeben haben, die sich selbst als Kyniker verstanden, ihre Anpassungsfähigkeit an die äußeren Umstände jedoch – im Gegensatz zu den streng asketischen Kynikern – so ausgestalteten, dass sie auch die Einladung zu einem Festessen angenommen haben, wenn sich ihnen die Gelegenheit bot (z.B. Luc., Demon. 52). Von den Anhängern des strikteren Kynismus ziehen diese sich allerdings den Vorwurf zu, sie seien Heuchler und hätten es unter dem Deckmantel der Philosophie nur darauf abgesehen, sich selbst zu bereichern (Luc., Pisc. 48).

In der Bedürfnislosigkeit erblicken die Kyniker den Weg zur Freiheit. Epiktet sieht in der ultimativen Unabhängigkeit der Philosophen sogar den Grund, sie als wahre Könige zu bezeichnen (Epict., Diss. 3,22,45-49). So kommt es im Kynismus zu einer Umwertung der Werte: Reichtum und Ansehen bringen die Kyniker keine Wertschätzung entgegen; vielmehr sehen sie die Tugend und Weisheit als wahren Reichtum an (Diog. L. 6,14; ähnlich Xenoph., Symp. 4, 34-44). Da gesellschaftliche Herkunft und sozialer Stand ihnen somit unbedeutend sind, nivellieren die Kyniker geltende Normen. Um dies auszudrücken, wurde schon früh die Redensart vom „Umprägen der Werte“ prominent. Sie brachte Diogenes in späteren Legenden den Ruf ein, er habe sich im Jugendalter als Münzfälscher seinen Lebensunterhalt ergaunert (Diog. L. 6,20).

1.3.3. Freimut

Dass die kynischen Philosophen nicht bereit sind, geltende soziale Normen unreflektiert zu befolgen, stellen sie auch in ihrem öffentlichen Auftreten unter Beweis. Ihre Überzeugung, derzufolge grundlegende menschliche Bedürfnisse sich mit einfachen Mitteln befriedigen lassen, setzen sie publikumswirksam in Szene. So soll Diogenes auf dem Marktplatz sowohl seinen Hunger als auch seinen Sexualtrieb befriedigt haben (Diog. L. 6,46.58.69). Weil die Mitmenschen dies als schamlos erachten, verleihen sie Diogenes den Spitznamen „Hund“ (Diog. L. 6,61). Schließlich wird dieser Name von den Kynikern als Selbstbezeichnung übernommen.

Vornehme Zurückhaltung ist für die kynischen Philosophen ein Fremdwort. Diesbezüglich verhalten sich ihr Reden und ihr Handeln kongruent zueinander (Vaage 1992). So machen sie reichlich Gebrauch von der freimütigen Rede (παρρησία / parrēsia), die in diesem Kontext nicht etwa die vertraute Unterredung zwischen Freunden bezeichnet, sondern einen Akt der verbalen Konfrontation. Diogenes von Sinope soll die παρρησία als „beste Sache der Welt“ bezeichnet haben (Diog. L. 6,69). Die schon in der Antike verbreitete Anekdote von der Begegnung zwischen Diogenes und → Alexander dem Großen bietet ein anschauliches Beispiel für die freimütige Rede der Kyniker: Als Alexander dem Philosophen einen beliegbigen Wunsch gewähren will, antwortet dieser frech „Geh mir aus der Sonne“ (Diog. L. 6,38). So provozieren die Kyniker mit ihrem Reden und ihrem Tun und versichern sich so der Aufmerksamkeit ihrer Zeitgenossen.

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2. Kynische Gedanken im Neuen Testament

Die Diskussion darüber, ob bestimmte Aussagen der Schriften durch den Einfluss von kynischen Gedanken mitbestimmt sind, findet Anknüpfungspunkte an mehreren Stellen der biblischen Überlieferung. So ist beispielsweise bemerkt worden, dass die Weltsicht, die sich im Kohelet-Buch artikuliert, insgesamt durchaus kynisch anmutet. Wenn der Prediger konstatiert „alles ist doch nur ein Lufthauch“ (Koh 1,14.17 u.ö.) und angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge dazu anrät, das Leben zu genießen (Koh 2,24; Koh 3,12f u.ö.), dann erinnert dies stark an die Haltung derjenigen Kyniker, die nicht permanent strikt asketisch leben, sondern ihre Anpassungsfähigkeit an die äußeren Umstände so ausgestalten, dass sie auch eine gute Mahlzeit dankbar annehmen, wo sich die Gelegenheit dazu bietet.

Angesichts der Entstehungszeit des → Kohelet-Buchs während der ersten Blütezeit des Kynismus im 3. Jh. v. Chr. und angesichts des gedanklichen Austausches im östlichen Mittelmeerraum unter dem Einfluss des → Hellenismus besitzt die These von kynischen Motiven bei Kohelet durchaus Plausibilität. Die neutestamentlichen Texte entstehen dann während der zweiten Blütezeit der kynischen Philosophie im 1. / 2. Jh. n. Chr. Ihre hellenistische Prägung wird bereits an der Verwendung der griechischen Sprache deutlich. Daher muss hier umso mehr die Frage gestellt werden, ob und inwieweit kynische Impulse auf die Entstehung der Texte eingewirkt haben.

2.1. Kynische Argumentation bei Paulus und in der Paulusschule

Schon → R. Bultmann ist aufgefallen, dass der Schreibstil der → Paulusbriefe zahlreiche Übereinstimmungen mit der Diatribe aufweist, wie sie in kynischen bzw. → stoischen Texten seiner Zeit greifbar wird: → Paulus benutzt rhetorische Fragen, mit denen er einen imaginierten Gesprächspartner anredet, Bilder und Vergleiche, Aufzählungen, prägnante Slogans, Übertreibungen. Er greift bekannte Zitate aus der – bei Paulus: biblischen – Literatur auf. All dies erinnert stark an die volksnahe Predigt der Philosophen, wie sie etwa in den Reden des Dion von Prusa dokumentiert ist. Die Diatribe unterhält und belehrt ihr Publikum gleichzeitig. Bultmann erklärt den Befund unter Hinweis auf die Verwurzelung des Paulus im hellenistischen Kontext. Als Autor, der an der Welt der hellenistischen Bildung teilhat, kann Paulus sich geläufiger Ausdrucksformen seiner Zeit bedienen.

Auch hinsichtlich des Inhalts gibt es Parallelen zwischen Paulus und den Kynikern. Wenn der Apostel in 1Thess 2,7 betont, er habe „wie eine Amme“ mit der Gemeinde gesprochen, könnte er sich damit gegen den Verdacht einer derben Redeweise zur Wehr setzen. Auffälligerweise spielt der Vergleich mit der Amme auch in zeitgenössischen philosophischen Debatten eine Rolle. Einige Philosophen halten es für erforderlich, ihr eigenes Profil gegen solche Leute abzugrenzen, die zwar als Kyniker auftreten, in den Augen ihrer Kritiker aber nichts als Scharlatane sind. Diese Leute gebrauchen ihre freimütige Rede (παρρησία) misanthropisch, um ihre Mitmenschen zu beschimpfen. Der wahre Kyniker muss nach Dio Chrys., Or. 32 jedoch freimütig und dennoch freundlich zu den Menschen sprechen. Er handelt also letztlich aus einer philanthropischen Überzeugung heraus. Dasselbe Bedürfnis der Distanzierung, das sich bei Dion findet, könnte auch die paulinische Bemerkung motivieren (Malherbe 1989). Ebenfalls kynisch wirkt die bekannte Aussage von der Unterschiedslosigkeit zwischen Juden und Griechen, → Sklaven und Freien, Männern und Frauen (Gal 3,28). Sofern Paulus damit rechnet, dass seine galatischen Gemeinden kynische Grundgedanken kennen, kann er darauf hoffen, dass sie dadurch vorbereitet und somit geneigt sind, seine Aussage zu bejahen (Downing 1996).

In den → Pastoralbriefen fallen eine Reihe von polemischen Aussagen durch ihre inhaltliche Nähe zu kynischen Texten auf. Wie bei den Kynikern gilt auch in den Briefen an → Timotheus und → Titus die Verkündigung der Gegner als krankhaft und schädlich. Die Texte beschreiben die eigene Botschaft dagegen als „gesunde Lehre“ (Tit 2,1) u.ä. (Malherbe 1989). Besonders dicht durchziehen kynische Motive die Textpassage 1Tim 6,3-12. Dort zitiert der Verfasser nicht nur das berühmte kynische Diktum von der Besitzgier (φιλαργυρία / philargyria) als Ursprung allen Übels (1Tim 6,10; vgl. Diog. L. 6,50), sondern verwendet wie die kynische Diatribe auch Tugend- und Lasterkataloge und bekennt sich zum Ideal der Genügsamkeit (αὐτάρκεια; Neumann 2009).

2.2. Kynismus in der Jesus-Überlieferung

Nicht nur zur neutestamentlichen → Briefliteratur, sondern auch zur Jesusüberlieferung sind verschiedentlich Berührungspunkte mit der kynischen Philosophie beobachtet worden. Solche Thesen knüpfen zumeist entweder bei der → Redenquelle Q oder beim → Lukasevangelium an. Anhand der Anweisungen Jesu zur Aussendung der 72 Jünger nach Q 10,2-16 hat L.E. Vaage darauf hingewiesen, dass manches hier dem gleicht, was die Quellen über kynische Wanderprediger erzählen. Nicht nur die sog. „Aussendungsregel“, derzufolge die Anhänger Jesu auf Geld, Ranzen und Schuhe verzichten sollen, hat Parallelen im kynischen Bereich, sondern auch die bildhafte Rede von den Schafen unter den Wölfen sowie die Auffassung, dass ein Wanderprediger als Gegenleistung für seine Tätigkeit die → Gastfreundschaft von Mitmenschen in Anspruch nehmen kann (Vaage 1987; vgl. auch Mack 1997; kritisch Ebner 1996). Vaage zieht aus der Beobachtung dieses Clusters von motivischen Übereinstimmungen die vorsichtige Schlussfolgerung, dass die Trägergemeinschaft von Q zwar nicht als kynische Gruppe bezeichnet werden kann, dass sie den Kynikern aber stärker ähnelt als irgendeiner anderen antiken Gruppierung. Downing unterstützt die Nähe zwischen Q und dem Kynismus durch ein gattungskritisches Argument: Als Sammlung von Apophthegmata sei die Redenquelle literarisch ganz ähnlich beschaffen wie die Überlieferung, auf die beispielsweise die Darstellung der Kyniker bei Diogenes Laertios gründet (Downing 1988).

Weitere besonders ausgeprägte Parallelen zur kynischen Tradition weist im Neuen Testament das Lukasevangelium auf, insbesondere das lukanische Sondergut. So erzählt Lukian von Samosata in den Schriften, die vom Schaffen des Kynikers Menippos beeinflusst sind, mehrfach vom armen Schuster Mikyllos. Dieser führt aufgrund seiner Armut ein bescheidenes und damit tugendhaftes Leben. Die Texte thematisieren dann ausführlich den Tod des Schusters und sein Ergehen im → Jenseits. Dort nämlich vollzieht sich ein Umschwung seines Schicksals: Nun ergeht es ihm gut, während diejenigen, die im irdischen Leben Reichtum genossen haben, gepeinigt werden (Luc., Cat.; Gall.). Der beschriebene Handlungsverlauf findet sich in nahezu identischer Form auch im lukanischen → Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19-31; Hock 1987), wenngleich das Setting dabei natürlich an den Kontext jüdischer Religiosität angeglichen wird. Ähnlich nahe an den menippeischen Schriften Lukians bewegt sich das Handlungsschema des lukanischen Gleichnisses vom reichen Kornbauern (Lk 12,13-21; vgl. Luc., D. Mort. 357.359.377f.; Neumann 2010). Neben diesen inhaltlichen Parallelen fallen auch stilistische Ähnlichkeiten auf, die das Lukasevangelium mit der kynischen Literatur verbinden, die auf Menippos von Gadara zurückgeht: Wie Menippos (vgl. Luc., Bis Acc. 33) verwendet auch der Evangelist Lukas im Anfangsteil seiner Schrift (Lk 1-2) ein ständiges Wechselspiel zwischen Vers und Prosa (Neumann 2008). Die Kritik an geltenden Konventionen, die die Texte inhaltlich prägt, findet somit auch in ihrer literarischen Beschaffenheit ein probates Ausdrucksmittel.

2.3. Der historische Jesus

Einige Elemente der Jesus-Tradition, etwa aus Q und aus dem Sondergut des Lukasevangeliums, die sich überlieferungsgeschichtlich bis in das Stadium der mündlichen Tradition zurückverfolgen lassen, weisen damit beachtliche Parallelen zur kynischen Philosophie auf. Angesichts dieser Beobachtung verwundert es kaum, dass auch in der → historischen Jesusforschung darüber diskutiert wird, ob nicht Jesus selbst mit seiner Lehre auch vom Kynismus beeinflusst gewesen sein mag.

Bekanntheit erlangt hat hier insbesondere die These von J.D. Crossan, der Jesus als „peasant Jewish Cynic“ bezeichnet. Mit der sog. „dritten Fragerunde“ nach dem historischen Jesus entwirft Crossan das Bild von einem soziokulturellen Milieu, in das der historische Jesus sich plausibel einzeichnen lässt. Drei Faktoren bestimmen dieses Bild: Jesus ist erstens Teil eines → Judentums, das sich nicht abkapselt, sondern aufgeschlossen nach außen blickt und so auch Impulse aus dem Hellenismus bezieht (→ hellenistisches Judentum). Insofern lässt Jesus sich zweitens als Befürworter des Kynismus begreifen. Die geographische Nähe zu Sepphoris macht es wahrscheinlich, dass Jesus in seiner galiläischen Heimat mit kynischen Gedanken in Berührung gekommen ist. Gerade Jesu Seligpreisung an die Armen (Q 6,20), die Kontrastierung von Reichtum und → Gottesreich (Mk 10,23-27) und die Umwertung von Klein und Groß (Q 13,18-19; Mk 4,30-32) erklären sich Crossan zufolge daraus, dass Jesus sich gleichzeitig als Jude und als Kyniker begriffen hat. Zudem erkennt er in Jesus aber auch drittens den Bewohner einer ländlichen Region. Während die kynischen Philosophen den Quellen zufolge primär im städtischen Kontext auftreten, sei Jesus ein Beispiel für die Adaption kynischer Auffassungen innerhalb der jüdischen Landbevölkerung. Auch im deutschen Sprachraum ist die These vom kynischen Juden Jesus vertreten worden (Lang 2010; kritisch Söding 2014).

Literaturverzeichnis

1. Quellen

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Abbildungsverzeichnis

  • Krates von Theben und Hipparchia. Fresko aus der Villa Farnesina, Rom (1. Jh. v. Chr.). aus: H. Fuhrmann, Gespräche über Liebe und Ehe auf Bildern des Altertums, MDAI.R 55 (1940) 78-91, Taf. 9.
  • Der nackte Diogenes von Sinope. Statue (2. Jh. n. Chr.). aus: W. Amelung, Notes on Representations of Socrates and of Diogenes and Other Cynics, AJA 31 (1927) 281-296, hier 287.
  • Diogenes und Alexander der Große; Relief in der Villa Albani, Rom (1. Jh. n. Chr.). aus: G.M.A. Richter, The Portraits of the Greeks, Bd. 2, London 1965, Abb. 1067.

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