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Klagelieder Jeremias

(erstellt: November 2010; letzte Änderung: Februar 2015)

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Das Buch der Klagelieder Jeremias – auch Threni genannt – enthält fünf Lieder, die in ergreifender Klage die Frage behandeln: Wie konnte es zur → Zerstörung Jerusalems durch die → Babylonier 587 v. Chr. kommen? Wie ist all das Leid – und auf einer grundsätzlichen Ebene: alles → Leid – zu erklären? Wie soll man sich in der Not verhalten? Was darf man noch hoffen? Mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels war die → Zionstheologie, die Stadt als uneinnehmbaren Wohnort Gottes gepriesen hatte, eigentlich gescheitert. Doch in Threni ringen die Dichter um eine von der Gerichtsprophetie, vor allem → Jesaja, vorbereitete Modifizierung, ja Transformation dieser traditionellen Theologie: Gegenüber der naheliegenden Auffassung, dass Jahwe ein machtloser und ohnmächtiger Gott ist, verkünden sie offensiv, der Schutzgott Jerusalems habe die Fronten gewechselt und auf Seiten der Feinde gegen seine Stadt gekämpft. Den Grund für Jahwes gewalttätiges Einschreiten sehen die Dichter in der Schuld der Menschen. Somit erweist sich Jahwe in der Zerstörung Jerusalems als mächtig, vor allem aber als gerecht (Klgl 1,18). Deswegen kann und soll man auf seine immerwährende Gnade vertrauen und das Leid in der Hoffnung auf dessen Ende geduldig auf sich nehmen (Klgl 3,21-33). Mit dieser Perspektive will das Buch den Menschen ihr Leid erträglich machen.

1. Namen des Buches

1.1. Echa

In der jüdischen Tradition wird das Buch nach dem Ausruf, der Lied I, II und IV eröffnet, Echa (אֵיכָה ’êkhāh „Ach!“) genannt. Er ist der → Totenklage entnommen und charakterisiert zunächst die Einzeltexte, die er eröffnet, als Titel des Buches dann aber auch die ganze Komposition als eine Leichenklage, wie man sie bei der Bestattung eines Verstorbenen anzustimmen pflegte.

1.2. Qinot, Threni, Klagelieder

Was der Ruf impliziert, macht der Name Qinot (קִינוֹת qînôt) „Leichenklagelieder“ deutlich. Er ist im Talmud mehrfach belegt (Baba Batra 15a; Berakhot 57b; Text Talmud 2), aber ausweislich der antiken Übersetzungen schon älter. Da der Begriff im Text nicht vorkommt, beruht er vielleicht darauf, dass man → Jeremia für den Verfasser des Buches hielt und er nach 2Chr 35,25 קִינוֹת qînôt „Leichenklagelieder“ angestimmt hat, die allerdings nicht der Zerstörung Jerusalems, sondern dem Tod → Josias gelten.

Die → Septuaginta nimmt den Namen in dem Titel θρήνοι thrēnoi „Klagelieder“ auf. Er geht auf den von ihr zugefügten Einleitungsvers zurück, nach dem Jeremia „dieses Klagelied angestimmt“ haben soll. Der griechische Name ist im Lateinischen und von dort im Deutschen als „Threni“ übernommen worden. Die Vulgata hat den Begriff jedoch mit Lamentationes „Klagelieder“ übersetzt, und davon leitet sich der Name des Buches im Englischen sowie in den romanischen und slawischen Sprachen ab (engl. Lamentations; franz. Lamentations; ital. Lamentazioni; span. Lamentaciones; poln. Lamentacje etc.). Gegenüber dem hebräischen Begriff bieten all diese Begriffe jedoch eine Sinnverschiebung. Während die Wurzel קין qjn die rituelle → Totenklage im Blick hat, bezeichnen die Wurzeln Threni und Lamentationes in einem allgemeinen Sinn die Klage über ein wie auch immer geartetes Leid. Die Vorstellung vom Tod Jerusalems, der personifizierten → Tochter Zion, spiegelt sich damit im Namen des Buches nicht mehr wider.

2. Stellung im Kanon

2.1. Jüdische Tradition

1. In der jüdischen Tradition gehört das Buch Threni zu den „Schriften“ (→ Kanon). Dort kann Threni in unterschiedlichen Kontexten stehen. Der Talmud-Traktat Baba Batra (14b; Text Talmud) belegt eine Tradition, die die Schriften chronologisch ordnet. Threni steht hinter → Sprüche, → Prediger und → Hohem Lied – den Schriften der Königszeit, die hier nicht Salomo, sondern Hiskia zugeschrieben werden – und vor Daniel und Ester, die in exilischer bzw. nachexilischer Zeit spielen.

2. Erst seit dem 11. Jh. ist die Zusammenstellung der fünf Megillot („Festrollen“) belegt. Innerhalb der Megillot konnten die Bücher einerseits nach der vermeintlichen Entstehungszeit geordnet werden: Rut (Vorfahrin Davids) – Hohes Lied (junger Salomo) – Prediger (alter Salomo) – Threni (Exilszeit) – Ester (persische Zeit). Diese Abfolge findet sich in den meisten sephardischen Bibelhandschriften, so auch im Kodex von St. Petersburg (= Codex Leningradensis) und auf ihm beruhend in den modernen Standardausgaben der hebräischen Bibel.

3. Neben dieser chronologischen Reihenfolge gibt es eine, die der jüdischen Liturgie entspricht. Sie basiert auf der Abfolge der Feste, an denen eine der Megillot verlesen wurde, und setzt – jedenfalls in den meisten Handschriften – nach dem liturgischen Jahr ein, das nicht mit dem Neujahrsfest am 1. Tischri (Sept./Okt.), sondern nach der Aufforderung in Ex 12,2, dass der Monat des Auszugs als erster Monat gezählt werden soll, am 1. Nissan (März/April) beginnt. Die Reihenfolge lautet dann: Hohes Lied (Passah) – Rut (Wochenfest) – Threni (9. Av) – Prediger (Laubhüttenfest) – Ester (Purim). Diese Reihenfolge findet man ab dem 12. Jh. in Bibelhandschriften aus Deutschland. In liturgischen Handschriften gewinnt sie an Bedeutung und gelangt von dort in die zweite Ausgabe der Rabbinerbibel des Jakob ben Chajim, die sog. Bombergiana (1524/25), und von ihr aus in viele Druckausgaben der hebräischen Bibel, auch noch in die 1. und 2. Aufl. der Biblia Hebraica Kittel (1906 bzw. 1913).

2.2. Christliche Tradition

In der christlichen Tradition gehört das Buch Threni nicht zu den „Schriften“, sondern zum Kanonteil „Propheten“. Es steht hinter dem → Jeremiabuch, weil man glaubte, dass es von diesem Propheten geschrieben worden sei. Diese Zusammenstellung dürfte, auch wenn sie in hebräischen Bibelhandschriften keine Rolle spielt, ihre Wurzel im Judentum haben. Josephus (1. Jh. n. Chr.) setzt sie nämlich vermutlich voraus, wenn er nur vier Bücher zu den „Schriften“ rechnet (Contra Apionem I,8; Text gr. und lat. Autoren). Im Christentum hat sich die Verbindung Jeremia / Klagelieder durchgesetzt. Erstmals ist sie hier vielleicht bei Melito von Sardes (2. Jh.) belegt. In seiner bei → Euseb zitierten Liste der kanonischen Bücher des Alten Testaments fehlt Klagelieder nämlich wie bei Josephus, vermutlich weil er es Jeremia zugerechnet hat. Expressis verbis wird Klagelieder erst in der ebenfalls von Euseb (Kirchengeschichte VI 25,2; Bibliothek der Kirchenväter) zitierten Kanonliste des → Origenes (3. Jh.) mit Jeremia als nur ein Buch gezählt. Threni wird also sehr eng mit Jeremia verbunden und steht deswegen in christlichen Bibelausgaben wie schon in den Handschriften der LXX, Vulgata und Peschitta mit → Baruch hinter dem Prophetenbuch. Sofern Baruch nicht dazwischentritt, schließt Threni direkt an den Bericht von der Zerstörung Jerusalems in Jer 52 an. Durch die Zusammenstellung erscheint Jeremia als einer der Sprecher, die in Threni zu Wort kommen. Zudem wird die im Jeremiabuch vertretene deuteronomistische Deutung (→ Deuteronomismus) der Zerstörung Jerusalems als Folge des Bundesbruchs in Threni eintragen. Leserinnen und Leser können sich am Jeremiabuch klar machen, worin die Schuld besteht, die Threni für das Leid Jerusalems verantwortlich macht, aber nicht näher beschreibt. Zugleich erscheint das Leid jetzt als Erfüllung der Unheilsankündigungen Jeremias, so dass Threni umgekehrt Jeremia als wahren Propheten ausweist. Ferner werden durch die Verbindung mit dem Jeremiabuch auch dessen Heilsverheißungen an Threni herangetragen und sie können die Hoffnungsfunken der Klagelieder zum Leuchten bringen.

3. Textüberlieferung

Die ältesten erhaltenen hebräischen Threni-Handschriften stammen aus Qumran (1. Jh. v. - 1. Jh. n. Chr.; → Qumran-Texte), doch sind nur geringe Fragmente von vier Abschriften des Buches erhalten (3QLam mit Klgl 1,10-12 und Klgl 3,53-62; 4QLam mit Klgl 1,1-18 und Klgl 2,5; 5QLama mit Klgl 4,5-8.11-16.19-22; Klgl 5,1-13.16-17; 5QLamb mit Klgl 4,17-20). Von ihnen belegt 4QLam durch Differenzen gegenüber dem masoretischen Text, dass das Buch in der frühen Überlieferung durchaus in abweichenden Fassungen existierte; in Klgl 1,7 bewahrt 4QLam vermutlich eine wichtige ältere Lesart (vgl. BHQ). Die Abweichungen sind aufs Ganze gesehen gering, in einzelnen Versen können sie jedoch gewichtig sein. Auffällig ist, dass in 3QLam jede Strophe in eine eigene Zeile geschrieben wurde, so dass die Alphabet-Akrostichie deutlich sichtbar wird (→ Akrostichie).

Die 1009 n. Chr. geschriebene masoretische Handschrift, die modernen Druckausgaben zugrunde liegt, der Codex Petropolitanus (früher Leningradiensis genannt), bietet den Text der Threni in drei Kolumnen, die so schmal sind, dass sie je Zeile nur ca. vier Wörter enthalten. Die Akrostichie wird hier optisch dadurch hervorgehoben, dass die Strophenanfänge durch einen weiten Einzug oder ein breites Spatium abgesetzt sind.

Die griechische Septuaginta bietet eine extrem wörtliche Übersetzung, die wohl der sog. Kaige-Rezension zuzurechnen ist, die aus dem 1. Jh. v. Chr. stammt. Es handelt sich bei ihr um eine Überarbeitung der relativ freien Übersetzung der → Septuaginta, die Griechisch sprechenden Juden eine wörtliche Bibelauslegung ermöglichen sollte. Sie wird Kaige-Rezension genannt, weil sie גַּם gam („auch“) anders als die übrige Septuaginta konsequent mit καί γε kai gē (eigentlich „wenigstens“) wiedergibt (in Threni Klgl 1,8; Klgl 2,9; Klgl 3,8; Klgl 4,3.15.21). Ihr Übersetzungsstil entspricht dem der Texte, die traditionell Theodotion zugeschrieben werden, der jedoch erst im 2. Jh. n. Chr. lebte. Man spricht deswegen auch von der Kaige-Theodotion-Rezension, die sich in der Septuaginta vor allem in Teilen der Samuel- und Königsbücher findet, doch wohl auch in Threni vorliegt.

Der aramäische Klagelieder-Targum, von dem es neben der älteren westlichen als Überarbeitung eine jüngere jemenitische Fassung gibt, ist zwischen dem 4. und 7. Jh. n. Chr. entstanden, als Konstantinopel schon eine bedeutende Stadt und Persien noch ein militärisch wichtiges Reich war. Die Unheilsankündigung in Klgl 4,21f, die ursprünglich → Edom galt, kündigt im Targum nämlich die Zerstörung Konstantinopels durch die Perser an. Die paraphrasierende Übersetzung gibt die Gedichte als Prosa wieder und ist aufgrund vieler erläuternder Zusätze deutlich länger. Als theologische Kernaussage des Buches hebt sie hervor, dass das Volk gesündigt und damit das Unheil Jerusalems verschuldet hat. So bekommt das Buch, das ein Zeugnis ergreifender Klage bietet, in der Übersetzung einen didaktischen Charakter: Es lehrt am Beispiel Jerusalems, Leid als Folge eigener Schuld zu verstehen.

In der lateinischen Vulgata sind, um die Akrostichie hervorzuheben, schon in antiken Handschriften die hebräischen Anfangsbuchstaben der einzelnen Strophen an den Rand geschrieben. Dies führt bis in die aktuellen Druckausgaben zu einem besonderen Schriftbild.

4. Poetische Gestalt

Neben dem Parallelismus membrorum (→ Poesie) ist in Threni die → Akrostichie das wichtigste poetische Merkmal. Lied I-IV sind Alphabetgedichte, d.h. die Anfangsbuchstaben der dreizeiligen (Lied I-III) bzw. zweizeiligen (Lied IV) Strophen bilden jeweils das Alphabet (mit פ vor ע in Lied II-IV), in Lied III sogar die Anfangsbuchstaben aller drei Zeilen jeder Strophe. Lied V ist nicht mehr akrostichisch, sondern nur alphabetisierend, d.h. die Zahl von 22 Versen entspricht der Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets.

Qina-Metrum. Nach einer verbreiteten, erstmals 1883 von Karl Budde vertretenen These gab es in Israel für Leichenklagelieder, die bei der Trauer um Verstorbene insbesondere von Klagefrauen angestimmt wurden, ein spezielles Metrum, das „Qina“-Metrum, das seinen Namen dem hebräischen Begriff für „Leichenklage“ (קִינָה qînāh) verdankt (→ Qina). Es besteht aus 3 + 2 (seltener 4 + 2 oder 4 + 3) Hebungen, also aus einem längeren ersten und einem kürzeren zweiten Stichos. In der Verkürzung des zweiten Teils sah man ein Abwürgen, Schluchzen oder Dahinsiechen zum Ausdruck gebracht. Als Beleg für diese These diente z.B. die in Jer 9,20 zitierte Totenklage, die in dem beschriebenen Metrum formuliert ist. In Klgl 1-4 glaubte Budde das Qina-Metrum nicht nur in den meisten, sondern sogar in allen Versen finden zu können. Seine These war so einflussreich, dass sie das Druckbild der hebräischer Bibelausgaben bis zur Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS 1975) in der Setzung von Spatien prägte (vgl. z.B. Klgl 1,10c). Die These ist jedoch alles andere als unproblematisch. Sie beruht erstens auf einer Fülle von Textänderungen, zweitens auf der schwierigen Annahme, dass Anfangsstichen mit nur zwei Worten drei Hebungen tragen können, und drittens auf der ebenfalls schwierigen These, dass 2 + 3 Hebungen gegen den Sinn als 3 + 2 Hebungen zu lesen sind. Passagen mit eindeutig 3 + 2 Hebungen sind nie besonders lang. Außerdem lässt sich nicht zeigen, dass dieses Metrum zur Totenklage gehört (in den Leichenklageliedern 2Sam 1,17-27 und 2Sam 3,33f fehlt es), noch dass es für diese spezifisch ist (vgl. z.B. Ps 19,8-10). Das Qina-Metrum hat also keinesfalls das Gewicht, das ihm vielfach beigemessen wurde (vgl. de Hoop, 80-104).

5. Inhalt

KlageliederJeremias

Das Buch Threni besteht aus fünf Liedern, die sich auf die Not während und nach der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. beziehen.

In Lied I wird das Leid Jerusalems zunächst ganz unpersönlich von einem objektiv wirkenden Berichterstatter aus unbetroffener Distanz geschildert (Klgl 1,1-11), dann jedoch von der authentisch wirkenden Betroffenen, der als Frau personifizierten Stadt (Klgl 1,12-19), die sich schließlich im Gebet an Gott wendet (Klgl 1,20-22). Der Text hat die Form eines Trostgesprächs: Zwei Stimmen kommen zu Wort (auch wenn sie sich nicht anreden), der Erzähler leidet nicht selbst, stellt Jerusalems Leid jedoch einfühlsam dar und bietet der Leidenden mit dem Verweis auf ihre Schuld eine Erklärung ihres Leids. Dann ergreift die Leidende klagend das Wort (vgl. Klgl 4,17-20), findet am Ende aber – vom Sprecher angeregt – den Weg zum Gebet. In klaren Strichen zeichnet das Lied – allerdings weniger drastisch als Klgl 2 – die Verhältnisse in Jerusalem in den Jahren nach der Zerstörung. Die Exulanten sind abgezogen (Klgl 1,3), Kinder wurden verschleppt und getötet (Klgl 1,5.20), junge Frauen gepeinigt (Klgl 1,4), die Fürsten sind geschwächt (Klgl 1,6) und das Volk ist ausgehungert (Klgl 1,11.19). Die Stadt ist menschenleer (Klgl 1,4), der Tempel geschändet (Klgl 1,10), Feste werden dort nicht mehr gefeiert (Klgl 1,4), Feinde haben das Sagen (Klgl 1,5.7), und es gibt niemanden, der Trost spendet (Klgl 1,2.9.16.17.21). Im Zentrum der Klage steht Frau Jerusalem. Ihr unendliches Leid wird in immer neuen Facetten und Details bildreich beschrieben. Sie erscheint als versklavte Fürstin, verlassene Geliebte, vereinsamte Witwe (Klgl 1,1), ihrer Kinder beraubte Mutter (Klgl 1,5.16), als nackte (Klgl 1,8), vielleicht auch als menstruierende Frau (Klgl 1,9), aber auch als gejagtes Wildtier (Klgl 1,13) und als Rind unter einem Joch (Klgl 1,14).

Diese geschundene Frau beklagt im zweiten Teil des Liedes ihr Leid, zunächst gegenüber allen Menschen (Klgl 1,12-16.18-19), dann gegenüber Gott (Klgl 1,20-22), also dem, der ihr all dies angetan hat – freilich zu Recht wegen all ihrer Sünden. Der Dichter will das ganze Elend nicht in erster Linie beschreiben, sondern erklären: Äußerlich haben Feinde das Unheil gebracht (Klgl 1,5a.7c.10.21a), doch letztlich war es niemand anders als Jahwe, der Schutzgott Jerusalems, der die Feinde gegen seine Stadt aufgeboten und damit das ganze Leid herbeigeführt hat (bes. Klgl 1,5b.17b). Er hat sich gerade in der Zerstörung seiner Stadt als machtvoller Gott erwiesen, aber – und das ist neu gegenüber dem älteren Lied II – auch als gerechter Gott (Klgl 1,18). Denn Jerusalem hat gesündigt und sich gegen ihn aufgelehnt (Klgl 1,5.8.9.14.18.20.22). In dieser Situation will der Dichter seine Gemeinde zum Gebet führen. Sie scheint ihr Leid und damit verbunden die Distanz zu Gott als so groß zu empfinden, dass sie sich nicht mehr an ihn wenden kann. Klgl 1 zeigt, wie Jerusalem langsam den Weg zu einem ersten zaghaften Gebet und damit zur Wiederherstellung des Gottesverhältnisses findet – ein Schritt, der für die Gemeinde, aber auch für alle späteren Leserinnen und Leser paradigmatische Bedeutung hat.

In Lied II schildert ein Sprecher das Leid Jerusalems zunächst wie in Lied I unpersönlich und aus unbetroffener Distanz (Klgl 2,1-10), dann jedoch ergriffen im Ich-Stil und die personifizierte Stadt als Betroffene anredend (Klgl 2,11-19), die sich schließlich seiner Aufforderung folgend im Gebet an Jahwe wendet (Klgl 2,20-22). Der Text lässt sich wie Lied I als Trostgespräch charakterisieren, denn der Sprecher ist nicht von dem eigentlichen Leid, sondern nur von Mitleid ergriffen und die Elendsschilderung richtet sich auch an die Betroffene, um ihr Solidarität auszudrücken und sie zumindest dadurch zu trösten. Das Lied bietet eine weitaus drastischere Beschreibung der Verhältnisse unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalems als Klgl 1. Mauern wie Tore und vor allem der Tempel sind zerstört (Klgl 2,6-9.13). Das ganze Land ist verwüstet (Klgl 2,2.5), die Führungsschicht verschleppt, wenn nicht getötet (Klgl 2,9.20). Viele Menschen fielen dem Schwert zum Opfer (Klgl 2,21), und die Überlebenden leiden schrecklichen → Hunger. Der besonders ergreifende Abschnitt Klgl 2,11f schildert, wie Kleinkinder grausam im Schoß ihrer Mütter verrecken, und Klgl 2,20 spielt wie Klgl 4,10 auf ein noch viel brutaleres Geschehen an: Frauen (und Männer) haben in ihrem Hunger sogar ihre eigenen Kinder gegessen. Der Dichter dieses Liedes, das relativ kurz nach 587 geschrieben sein dürfte, erklärt das Leid noch nicht mit der Sünde, sondern will den Verzweifelten viel elementarer klar machen, geradezu einhämmern, dass niemand anders als Jahwe, der Schutzgott Jerusalems, seine Stadt als Feind angegriffen und all das Leid über die Menschen gebracht hat. Dieser Gedanke war in der damaligen Situation wichtig, denn er zeigt, dass sich Jahwe gerade in der Niederlage seiner Stadt als machtvoller Gott erwiesen hat, und erlaubte es damit, auch in der Katastrophe an ihm festzuhalten. Wie Klgl 1 zielt Klgl 2 darauf, die Menschen wieder zum Gebet zu führen, sie ein erstes Gebet nach der Katastrophe sprechen zu lassen. Dieses Gebet bietet keine Klage, sondern eine scharfe Anklage gegen Gott und ist noch weit entfernt von dem Gebet in Klgl 3,40-47 und seinem Sündenbekenntnis. Der Dichter leitet seine Landsleute nur an, erste tastende Schritte zur Wiederherstellung des Gottesverhältnisses zu gehen.

In Lied III schildert nicht ein Erzähler wie ein Außenstehender die Katastrophe Jerusalems, sondern ein einzelner Betroffener im Ich-Stil sein Leid. Dieser Mann ist keine Personifikation des Volkes oder Jerusalems und keine bestimmte Persönlichkeit (→ Jeremia; → Jojachin; → Zedekia), sondern ein „Jedermann“, in dem sich alle Leidenden wiederfinden können und sollen. Zunächst schildert er sein Schicksal in einer Flut von Bildern, die Geschehenes jedoch nicht präzise beschreiben, sondern in ihrer Offenheit zur Identifikation einladen. Jahwe, z.B. als Löwe und als Bogenschütze gezeichnet, hat diesem Mann unendliches Leid zugefügt (Klgl 3,1-20). Trotzdem vertraut er – allen Lesern zum Vorbild – wieder auf Jahwe, gewinnt neue Hoffnung, ja doziert über die Unendlichkeit göttlicher Gnade und mahnt, Leid geduldig zu ertragen, bis Jahwes Hilfe kommt (Klgl 3,21-39). Da Gott seinem Herzen nach kein Leid zufügt, kann dieses nur im Fehlverhalten der Menschen begründet sein. Deswegen ruft der Sprecher alle auf, in ein gemeinsames, im Wir-Stil formuliertes Sündenbekenntnis einzustimmen (Klgl 3,40-47). In den Ich-Stil zurückgekehrt beschreibt er dann an Klgl 1 und 2 anknüpfend seine unendliche Trauer um Jerusalem (Klgl 3,48-51). Doch die in einem Dankgebet formulierte Erinnerung an eine frühere Rettung ermutigt ihn, Jahwe auch jetzt um Rettung zu bitten (Klgl 3,52-66). Damit zeigt sich in Klgl 3 eine Bewegung: Zunächst wird das Leid Gott angelastet, aber dann führt das Vertrauen auf die immer währende Gnade eben dieses Gottes den Sprecher zur Buße und zum Gebet mit der auf frühere Rettung aufbauenden Bitte um Gottes Hilfe. Alle Leser sind aufgefordert, dieser Bewegung zu folgen, und insofern hat der Text auch eine paränetisch-didaktische Spitze: Man soll Leid – anders als der Sprecher von Klgl 2 – geduldig ertragen sowie Gott im Gebet seine Sünden bekennen und ihn um Hilfe bitten. Sachlich entspricht dem die Botschaft, die Jes 50,10 dem 3. Gottesknechtslied entnimmt: „Wer im Dunkel lebt und wem kein Licht leuchtet, der vertraue auf den Namen des Herrn und verlasse sich auf seinen Gott.“

In Lied IV haben wir es erneut mit einem Trostgespräch zu tun. Das Leid Jerusalems wird wie in Lied I und II zunächst unpersönlich – nur wenige Ich-Sätze unterbrechen diesen Stil – von einem selbst nicht betroffenen Erzähler geschildert (Klgl 4,1-16), dann im Wir-Stil von den Betroffenen selbst (Klgl 4,17-20; vgl. Klgl 1,12-19). Der Text gipfelt in einer Heilsankündigung (Klgl 4,20-21), die zeigt, dass der Dichter den Leidenden vor allem neue Hoffnung schenken will. Zunächst schildert das Lied aber erschütternd die Zustände und Ereignisse während der Belagerung und Eroberung Jerusalems, doch geht es weniger um die Zerstörung der Bauten (so Klgl 2), sondern um die verzweifelte Lage der Menschen. Eine schreckliche, nur mit Grauen beschreibbare Hungersnot hat die Bevölkerung völlig zermürbt. Besonders betroffen sind die Kinder. Bis zuletzt hatte man gehofft, der ägyptische Pharao werde zur Hilfe eilen. Der judäische König, den der Verfasser – wohl ein Mitglied der Führungsschicht – nach wie vor als Gesalbten Jahwes (→ Messias) tituliert, war im letzten Moment geflohen, doch haben ihn die Babylonier schnell eingeholt. Damit war das Ende gekommen. Erklärt wird die verheerende Katastrophe mit der Schuld der Jerusalemer, insbesondere der Priester und Propheten (Klgl 4,3.6.13.22). Diese Schuld muss – das zeigt das Ausmaß des Grauens – größer gewesen sein als die → Sodoms. Deswegen ist Jahwes → Zorn entbrannt. Für den Verfasser und seine Gemeinde scheint die Distanz zu Gott so groß geworden zu sein, dass Jahwe nicht mehr angeredet und damit nicht mehr gebetet werden kann (vgl. Klgl 2). Trotzdem oder vielleicht auch gerade angesichts dieser gedrückten Lage lässt der Verfasser, um in seiner Gemeinde Hoffnung zu wecken, den Text mit einer – wenn auch bescheidenen – Heilszusage enden: Die schlimmste Not soll ein Ende haben, und es soll keine weiteren Deportationen geben, vielmehr wird Jahwes Zorn jetzt über den Erzfeind → Edom kommen und dessen Schuld ahnden (Klgl 4,21f).

In Lied V, das deutlich kürzer ist und weder Akrostichie noch Sprecherwechsel aufweist, kommt eine Wir-Gruppe zu Wort (sonst nur Klgl 3,40-47 und Klgl 4,17-20). Das Volksklagelied, das die Not wie Klgl 1 mit der Schuld des Volkes erklärt (Klgl 5,6f.16), beginnt mit einer Anrufung Jahwes und einer einleitenden Bitte um Gottes Hinwendung (Klgl 5,1). In Klgl 5,2-18 folgt eine ausführliche Schilderung der Not mit einem kurzen Sündenbekenntnis (Klgl 5,6f.16). Beklagt werden die Unterdrückung durch die Besatzungsmacht (Klgl 5,5.8) und die Versorgungslage, konkret die Konfiszierung von Immobilien (Klgl 5,2), der Verlust der Väter (Klgl 5,3), die Besteuerung von Wasser und Holz (Klgl 5,4) und der Mangel an Lebensmitteln. Weil Sklaven herrschen (Klgl 5,8), fehlt es an äußerer Sicherheit (Klgl 5,9) und deswegen müssen die Menschen hungern (Klgl 5,10). Am Ende präzisiert die eindringliche Bitte um Wiederherstellung (Klgl 5,21f) die einleitende Bitte um Hinwendung (Klgl 5,1) und gibt dem Text einen Rahmen.

6. Verfasser

Jeremia gilt im Judentum und Christentum traditionell als der Verfasser der Threni, vielleicht weil 2Chr 35,25 ihm – wenn auch im Zusammenhang mit dem Tod Josias – „Leichenklagelieder“ zuschreibt und er selbst – ob authentisch oder nicht – in Jer 8,18-23 in einer Weise über den Untergang Jerusalems klagt, die inhaltlich Threni entspricht. Zudem verwendet Jer 8,11.21 mit „Zusammenbruch der Tochter meines Volkes“ eine Formulierung, die sich sonst nur in Threni findet (Klgl 2,11; Klgl 3,48; Klgl 4,10).

Die Überschrift „Klagelieder Jeremias“, die sich z.B. schon im Sinaiticus und Vaticanus findet, geht auf die Situationsangabe zurück, die in der Septuaginta dem Buch voransteht (vgl. die Situationsangaben mancher Psalmen; z.B. Ps 51,1f; Ps 52,1f; → Psalmen; → Psalter) und ausweislich der hebräischen Syntax (Voranstellung der Verben) vielleicht auf einer hebräischen Vorlage basiert: „Nachdem Israel in Gefangenschaft und Jerusalem verwüstet worden war, setzte sich Jeremia weinend nieder und stimmte dieses Klagelied auf Jerusalem an und sagte“. In die Vulgata ist diese Einleitung über den Codex Legionensis (10. Jh.) erst im 16. Jh. durch Aufnahme in die Editio Clementina gelangt.

Im Talmud schreibt Baba Batra 15a Jeremia außer seinem Buch die → Königsbücher und Threni zu (Text Talmud). Unter den Rabbinen gab es – die Jeremianische Verfasserschaft selbstverständlich voraussetzend – eine Diskussion, ob es sich bei Threni um die Zusätze in jener neuen Rolle handelt, die Jeremia seinem Schreiber → Baruch diktiert hat, nachdem König → Jojakim eine erste Rolle verbrannt hatte (Jer 36,32; Midrasch Threni zu Klgl 3,1), oder ob Threni zumindest zum Teil schon auf der ersten Rolle gestanden habe (z.B. → Raschi). In der wissenschaftlichen Diskussion wurden für die Jeremianische Verfasserschaft 1) sprachliche Gemeinsamkeiten (s.o.) und 2) sachliche Übereinstimmungen (z.B. zwischen der individuellen Klage in Klgl 3 und den → Konfessionen) angeführt. Erstere können jedoch auf literarischer Abhängigkeit beruhen, Letztere sind kaum signifikant.

Zweifel an der Jeremianischen Verfasserschaft wurden schon im 18. Jh. laut. Erstmals abgelehnt hat sie 1712 Hermann von der Hardt (1660-1746), der zunächst dem lutherischen Pietismus, später jedoch einer radikalen Aufklärung verpflichtet war. Unter den Kommentatoren bestritt als erster Otto Thenius 1855 die Jeremianische Verfasserschaft von Klgl 1; 3 und 5. Gegen sie spricht z.B., dass der Gottestitel „Herr“ im Jeremiabuch immer mit dem Tetragramm (14-mal) erscheint, in Threni dagegen nie (ebenfalls 14-mal), und inhaltlich, dass Jeremia den letzten König Judas, → Zedekia, vehement kritisiert und ihm Unheil ankündigt (Jer 21,1f; Jer 37,1ff), während Klgl 4,20 – freilich ohne Namensnennung – sehr positiv von ihm spricht, ja ihn als „Lebensodem“ und „Gesalbten Jahwes“ bezeichnet.

Angesichts der Akrostichie sowie der Vertrautheit mit Psalmensprache und → Zionstheologie kann man die Dichter sicher als poetisch veranlagte und theologisch gebildete Menschen bezeichnen und vermuten, dass sie aus der Jerusalemer Oberschicht (vgl. die positive Sicht des Königs in Klgl 4,17-20) und dem Umfeld des Tempels stammen (vgl. vgl. Renkema, 1998, 44f.52f; Berges 35f). Dabei spiegeln die Lieder in ihrem unterschiedlichen Profil (s.u.) wohl den Diskurs verschiedener Schulgruppen im Umfeld des Tempels, die sich an der Bewältigung der Katastrophe abarbeiten.

Nach Westermann (82-84.92-95) steckt hinter den einzelnen Klageliedern nicht die Persönlichkeit eines oder mehrerer Verfasser. Vielmehr hätten sich die Lieder nach der Zerstörung Jerusalems noch ganz unter dem Eindruck unmittelbarer Betroffenheit aus den aktuellen Klagen der Menschen langsam gebildet. Erst nach einer gewissen Zeit der mündlichen Überlieferung habe jemand sie verschriftlicht, der jedoch nicht als Autor oder Dichter gelten könne. Erst sekundär seien die Texte zu Akrosticha überarbeitet worden. Die Lieder I, II und IV, die jeweils mit einem Klageruf beginnen und Elemente der Leichenklage aufnehmen, seien zu einer ersten kleinen Sammlung zusammengestellt worden, die man dann um Lied V und später Lied III erweitert habe.

7. Einheitlichkeit

Für die einheitliche Verfasserschaft (s.u. zu Rudolph) führt man Übereinstimmungen an: Alle Kapitel bestehen aus 22 Strophen, werden vom Alphabet bestimmt und beziehen sich – Lied III zumindest in einigen Versen – auf das Leid während und nach der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr.; mehrere beginnen mit אֵיכָה ’êkhāh „Ach!“, dem Ruf der → Totenklage. Ferner gibt es zwischen einzelnen Liedern signifikante Verbindungen, z.B. zwischen den beiden ersten den Ausdruck „Eingeweide glühen“, der sich im Alten Testament nur in Klgl 1,20 und Klgl 2,11 findet. Da die Übereinstimmungen jedoch auch auf literarischer Abhängigkeit beruhen können, fallen Differenzen, die für unterschiedliche Verfasser sprechen, stärker ins Gewicht: Nur Lied I kennt eine etwas andere Buchstabenfolge des Alphabets, nur in II wird die Schuld der Betroffenen nicht thematisiert, nur III bietet eine dreifache Akrostichie und über weite Strecken ein Klagelied des Einzelnen ohne Bezug auf die Zerstörung Jerusalems; zudem ist nur hier von der Gnade Gottes die Rede, und das ausführlich. Nur Lied IV hat zweizeilige Strophen und nur hier weckt ein abschließendes Heilswort Hoffnung. Lied V hebt sich durch einzeilige Strophen, das Fehlen der Akrostichie und als reines Volksklagelied von den andern Liedern ab und bezieht sich zudem auf das Leid der Generation nach der Zerstörung. Demnach ist mit mehreren Verfassern zu rechnen.

8. Entstehung und Komposition

Nach verbreiteter Ansicht haben wir es in Threni, wie schon der Plural im Titel „Klagelieder“ voraussetzt, mit einer lockeren Sammlung ursprünglich selbstständiger Lieder zu tun. Demgegenüber wird in der neueren Forschung – meist verbunden mit der Annahme der Einheitlichkeit – die These vertreten, es handele sich um eine wohldurchdachte Komposition.

Johan Renkema ist in seinem großen Kommentar (zusammenfassend 38-40.72-79.636-641) der Frage nach der Komposition intensiv nachgegangen. Seiner Ansicht nach soll die Alphabet-Akrostichie einen externen Parallelismus augenfällig machen, nämlich die Verbindung, die zwischen den Strophen mit gleichen Anfangsbuchstaben sowie dem entsprechenden Vers von Kap. 5 bestehe. Das bedeutet am Beispiel der Eingangsverse: Dem Bild von der Witwenschaft Jerusalems in Klgl 1,1 sollen die Aussagen vom Ende der Pracht (= Tempel) durch den Ehemann in Klgl 2,1, von der Not des Mannes in Klgl 3,1 und von der Schmach in Klgl 5,1 entsprechen. Eine Anspielung auf die Zerstörung des Tempels verbinde Klgl 2,1 mit Klgl 4,1 und der Bezug auf den Tag Jahwes Klgl 2,1 mit Klgl 3,1. Ferner gehöre Lied IV eng mit Lied V zusammen: Lied I-III enden jeweils mit einem an Jahwe gerichteten Gebet. In IV fehlt ein solches Schlussgebet, jedoch biete V ein Gebet, das im Anschluss an IV gelesen den Schlussgebeten von I-III entspreche. Auch in der Länge kommen IV und V zusammen jedem der drei ersten Lieder gleich. Die Verbindungen, die Renkema zwischen den entsprechenden Abschnitten sieht, sind jedoch zu unspezifisch – man beachte die geringe Zahl an markanten Wortwiederholungen –, um das Buch als einheitliche Komposition auszuweisen. Würde man aus jedem Kapitel einen beliebigen Vers auswählen, könnte man angesichts der thematischen Geschlossenheit des Buches zwischen diesen Versen vergleichbare Linien ziehen.

Renate Brandscheidt (Gotteszorn) betrachtet Threni erst auf der redaktionellen Ebene als Komposition. Die Lieder II, I und V seien in dieser Reihenfolge unabhängig voneinander von drei Verfassern geschrieben worden. Ein Bearbeiter habe sie gesammelt, aus eigener Feder die Lieder III und IV hinzugefügt und das Ganze als planvolle Komposition angelegt. Dem zweiten Lied habe er das vierte bewusst entgegengestellt, um Zion Hoffnung zu vermitteln, und das 3. Lied mit seinen Belehrungen zum rechten Umgang mit Leid habe er ins Zentrum der Komposition gestellt.

Berücksichtigt man sowohl die deutlichen Differenzen als auch die zum Teil sehr signifikanten Übereinstimmungen zwischen einzelnen, aber nicht allen Liedern (s.o. 7.; ausführlicher: Koenen, Kommentar), ergibt sich für die Entstehung des Buches folgendes Bild:

1. Klgl 2 ist als ältestes Lied die Keimzelle des Buches. Schon bald nach der Katastrophe von 587 will dieses Lied den verzweifelten Menschen, vermutlich um dem Verdacht der Ohnmacht Jahwes entgegenzutreten, klar machen, dass es niemand anders als Jahwe, der Schutzgott Jerusalems, war, der seine Stadt als Feind machtvoll angegriffen und all das Leid über sie gebracht hat. Um das Leid zu bewältigen, wird hier ganz massiv und in geradezu anstößiger Weise Gott angeklagt. Das musste Kritiker auf den Plan rufen.

2. Indem Klgl 1 und 4 einen Rahmen um Klgl 2 legen, entsteht die „Ach“-Komposition. Lied I und IV weisen gegenüber Lied II einerseits Unterschiede, andererseits signifikante Übereinstimmungen auf. Deswegen dürfte es sich um zwei Fortschreibungen von Klgl 2 handeln. Ob sie von demselben Verfasser stammen, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls liegt mit diesen drei Liedern eine erste Komposition vor, die – weil alle drei Lieder mit אֵיכָה ’êkhāh „Ach!“ beginnen – als „Ach“-Komposition bezeichnet werden soll. Sie zielt darauf, Gott durch die Erklärung des Leids mit der Schuld Jerusalems zu entlasteten: Sein gewalttätiges Eingreifen war kein Akt der Willkür, sondern eine notwendige und vor allem gerechte (Klgl 1,18) Reaktion auf die Schuld Jerusalems (Klgl 1,5b.8a.9a.14a.b.18a.20b.22b), die größer war als die Sodoms (Klgl 4,6). Diese Erklärung des Leids hat in der Komposition als Rahmen um Lied II zentrale Bedeutung – sowie später auf der Ebene der Endgestalt des Buches, da Klgl 1 exponiert an dessen Anfang steht und von dort aus dem Leser auch einen Verständnisschlüssel für sein eigenes Leid anbietet. Da Lied I mit einem Verweis auf den → Tag Jahwes endet (Klgl 1,21) und Klgl 2 von Erwähnungen dieses Tages gerahmt ist, liest sich Kap. 2 im Anschluss an Kap. 1 auch wie eine Explikation eben dieses Tages. Die „Ach“-Komposition endet in Lied IV mit einem Heilswort, das eine Antwort auf die Bitten am Ende von Lied I und II bietet – auf der Ebene des Endtextes auch auf die Bitten am Ende von Lied III; zudem ist das Heilswort auf dieser Ebene als aktuelle Konkretion der grundsätzlichen Ausführungen zur Gnade Gottes in Klgl 3,21-39 zu verstehen.

3. Obwohl die „Ach“-Komposition mit dem Heilswort von Klgl 4 einen guten Abschluss gefunden hatte, wurde in Klgl 5 ein ursprünglich wohl selbstständiges Volksklagelied angehängt. Es soll die ältere Komposition aktualisieren, indem es die Nöte der folgenden Generation (Klgl 5,7) einbringt. Die Komposition endet jetzt wie schon Lied I und II mit einem Gebet. Dadurch erscheinen die Gebete dieser beiden Lieder als Prolepsen, die auf Klgl 5 verweisen. Umgekehrt erhält Klgl 5 durch die Prolepsen größeres Gewicht, denn das akrostichielose Gedicht erscheint jetzt nicht nur als Anhang, sondern als integraler Bestandteil, ja sogar als Zielpunkt der Komposition, die dann darauf zielt, einen Weg zum Gebet zu führen. Auch nach dem Untergang Jerusalems kann man noch beten! Das Gebet hat gerade in seiner exponierten Stellung am Ende der Komposition – sowie in der Endgestalt am Ende des Buches – eine paradigmatische Funktion. Es soll Leserinnen und Lesern nahelegen, in allen Nöten und Krisen, selbst im Gefühl größter Gottverlassenheit und Verzweiflung zu beten und zu bitten.

4. Klgl 3 bildet den Schlussstein des Buches (falls das Lied nicht – was nicht ganz auszuschließen ist – schon vor Lied V hinzukam). Die Unterschiede und signifikanten Verbindungen mit Lied I und II – z.B. die Aufnahme des Tag-Jahwes-Motivs – weisen das Lied als Fortschreibung speziell dieser beiden voranstehenden Texte aus. In der neuen Komposition, der Endgestalt des Buches, bildet Lied III das Zentrum und angesichts der dreifachen Akrostichie auch den Höhepunkt. Es zielt darauf, seine Vorlagen in mehreren Punkten zu korrigieren und weiterzuführen: 1) Lied II klagt Gott an: „Du hast getötet!“ (Klgl 2,21). Klgl 1 entlastet Gott mit dem Verweis auf die Schuld des Volkes. Klgl 3 geht weiter: Gott war gewalttätig, aber er hat dabei nicht nach seinem Herzen gehandelt. Die Hoffnungslosigkeit von Klgl 1 und 2 wird aufgenommen, aber ihr wird die Gnade Gottes als Quelle der Hoffnung entgegenstellt. 2) Gegenüber dem anklagenden Ton von Klgl 2 wird dazu aufgefordert, Leid geduldig und still zu ertragen. 3) Vor allem zielt Klgl 3 mit seinen weisheitlich allgemeinen Ausführungen darauf, die Komposition von ihrem ursprünglichen historischen Bezug auf die Zerstörung Jerusalems zu lösen, und diese Enthistorisierung bietet den hermeneutischen Schlüssel für die Übertragung auf neue Situationen. Das Leid von 587 wird jetzt nur noch als Beispiel gesehen und der Blick auf die grundsätzliche Frage nach dem Verhalten im Leid gelenkt. Das Buch gipfelt jetzt in der zeitlos gültigen und auf neue Situationen applizierbaren Aussage: Wer auch im Leid auf Gott vertraut, darf hoffen!

9. Ort und Zeit

Das Buch Threni wurde wohl in Jerusalem geschrieben. Es geht um das unendliche Leid der Menschen dort, nicht aber um das der Exulanten.

Den terminus a quo bildet die Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. Sind die Lieder unmittelbar nach dem beklagten Ereignis oder erst aus der zeitlichen Distanz geschrieben worden? Für die zeitliche Nähe wird die Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit der Schilderung angeführt, die noch ganz unter dem schockartigen Eindruck der Zerstörung stehe. Auf eine gewisse Distanz zu den Ereignissen deutet dagegen die Akrostichie, die so gar nicht zur unmittelbaren Betroffenheit und Leidenschaftlichkeit der Klage zu passen scheint. In der Regel werden die Lieder wohl zu Recht in die Jahre bald nach 587 datiert. Die Frage „Warum vergisst du uns für immer?“ (Klgl 5,20) setzt zwar schon eine – zumindest gefühlte – längere Zeit der Not voraus, doch fehlt in Threni die Frage „Wie lange noch?“ (vgl. Ps 74,9f; Ps 79,5). Die Zusage „nicht will er fortfahren, dich in Verbannung zu führen“ (Klgl 4,22) setzt voraus, dass es schon mehrere Gefangenentransporte gegeben hat, dass man aber noch mit weiteren rechnet, also Verhältnisse wenige Jahre nach 587. Der terminus ad quem dürfte um 540 v. Chr. anzusetzen sein, da von den weltpolitischen Erneuerungen des → Kyros, von Rückführung, Heimkehr und Wiederaufbau, den zentralen Verheißungsaussagen in spätexilischer und nachexilischer Zeit, keine Rede ist und vom Neubau des Tempels schon gar nichts zu spüren ist, im Gegenteil: Auf dem Zionsberg liegt alles zerstört darnieder (Klgl 5,18). Verheißen wird nur sehr bescheiden ein Ende der schlimmsten Not und des Wegführens (Klgl 4,21f). Innerhalb des Zeitfensters 585-540 v. Chr. dürfte Lied II, das älteste Lied der Komposition, schon bald nach der Katastrophe anzusetzen sein, Lied IV etwas später, aber noch in dem Jahrzehnt nach der Zerstörung und Lied I möglicherweise noch etwas später, zwischen 580 und 550 v. Chr. Lied V und III wurden wohl erst einige Jahrzehnte nach 587 verfasst.

Rudolph, der alle Lieder demselben Verfasser zuschreibt, setzt Lied I schon kurz nach der ersten Deportation 597 v. Chr. an, die Lieder II und IV unmittelbar nach der Eroberung 587 und die Lieder III und V etwas später.

Geistesgeschichtliche Erwägungen haben Kaiser zu einer späteren Ansetzung der Klagelieder geführt. Lied II sei von spätdeuteronomistischer Propheten- und Gesetzestheologie abhängig und stamme erst aus dem letzten Drittel des 6. Jh.s. Lied I sei von II abhängig und müsse deswegen später entstanden sein. IV beziehe sich auf I und II und gehöre bereits dem 5. Jh. an. Lied V setze schon die jüngste Ausgestaltung spätdeuteronomistischer Umkehrtheologie voraus. Erst im 4. Jh. sei schließlich Lied III geschrieben worden, das in den Umkreis der späten Psalmenfrömmigkeit gehöre.

10. Rezeption

10.1. Judentum

Das Buch der Klagelieder wird – wie der Traktat Soferim (8. Jh. n. Chr.) erstmals belegt (14,3.18; 18,4) – am 9. Av rezitiert, der neben dem → Jom Kippur der wichtigste Fastentag ist. Nach dem Babylonischen Talmud (Traktat Ta‛anit 26b und 29a; Text Talmud 2) gilt dieser Tag dem Gedenken an fünf Katastrophen der Geschichte Israels: An ihm wurde 1. der Wüstengeneration verboten, das Heilige Land zu betreten, 2. haben die Babylonier 587 v. Chr. den Ersten Tempel und 3. die Römer 70 n. Chr. den Zweiten Tempel zerstört sowie 4. 135 n. Chr. mit Bet-Ter eine Hochburg des Bar Kochba Aufstands erobert und 5. ebenfalls 135 n. Chr. Jerusalem in eine heidnische Stadt verwandelt. Der dem 9. Av folgende Sabbat ist der „Sabbat Nachamu“ („Tröstet!“), benannt nach Jes 40,1: „Tröstet, tröstet mein Volk!“. Mit ihm beginnt eine siebenwöchige Trostzeit, die bis zum Jahresende andauert, und die Sabbate dieser Zeit, an denen alle Prophetenlesungen Jes 40-66 entnommen sind, werden als „die Sieben des Trostes“ bezeichnet. So will die Liturgie der Klage eine Ende bereiten und den Juden in aller Welt Heil zusichern.

10.2. Christentum

Klgl 2,19 fordert auf, über Nacht zu klagen. In der katholischen Kirche haben die Klagelieder Jeremias in den nächtlichen Stundengebeten (Matutin) bzw. Trauermetten (Tenebrae) der letzten drei Tage der Karwoche traditionell ihren festen liturgischen Ort. Die Trauer gilt dabei im Kontext der Passionszeit nicht mehr Jerusalem als dem Ort der Gegenwart Gottes, allenfalls als dem Ort der Verwerfung des Messias („Jerusalem …, quia in te occisus est Salvator Israel“; 2. Lesung auf Karsamstag), sondern vor allem Jesus Christus als dem neuen „Ort“ der Gegenwart Gottes auf Erden.

Die Liturgie des Festes der Sieben Schmerzen Mariens (15. Sept.) hat dem vierten Schmerz (Maria begegnet Jesus auf dem Kreuzweg) Klgl 1,12 und dem sechsten Schmerz (Kreuzabnahme) Klgl 2,13 zugeordnet. In Klgl 2,13 wird filia Hierusalem als „Tochter Jerusalems“ verstanden und mit Maria identifiziert: „Wem soll ich dich vergleichen oder wem soll ich dich gleichsetzen, Tochter Jerusalems? … Groß wie das Meer ist dein Leid.“

Die Liturgiereform des 2. Vatikanischen Konzils hat die Matutin als offizielles Stundengebet abgeschafft. Damit haben die Klagelieder Jeremias den festen liturgischen Ort ihrer Verlesung und ihre einstige Bedeutung verloren. Da die musikalische Rezitation der Texte in der Karliturgie jedoch sehr eindrucksvoll und recht beliebt ist, werden sie in manchen Kirchen und Klöstern nach wie vor mit gregorianischen Melodien gesungen, z.T. in deutscher Übersetzung.

Wie im liturgischen Kalender des Judentums ist auch im traditionellen Kalender der katholischen Kirche mit der Rezitation der Klagelieder ein emotionaler Tiefpunkt erreicht. Doch es folgt die Wende, die Heilszeit. Im Judentum beginnt die Zeit des Trostes, im Christentum Ostern.

Im evangelischen Gottesdienst haben die Klagelieder nicht das Gewicht, das ihnen in der katholischen Kirche zukommt. Als Predigttext ist in der Perikopenordnung der EKD nur Klgl 3,22-26.31-32 vorgesehen (3. Reihe, 16. Sonntag nach Trinitatis), eine Versauswahl, die sich einseitig an der Verkündigung der Gnade Gottes orientiert.

Ganz grundsätzlich besteht die aktuelle Bedeutung der Klagelieder heute wie schon seit Beginn der Rezeption darin, dass man sie auf eigenes Leid übertragen kann. Die Worte des Dichters machen Leserinnen und Lesern ein Angebot, schenken ihm Worte, die ihm helfen sollen und können, sein eigenes Leid, besonders natürlich Kriegserlebnisse, zu verbalisieren und damit vielleicht ansatzweise auch zu verarbeiten.

10.3. Musik

Im Mittelalter wurden die Klagelieder bzw. Auszüge aus ihnen in den Trauermetten am Ende der Karwoche einstimmig mit einer einfachen Melodie, dem Lektionston, gesungen. Es gab viele verschiedene dieser einfachen Melodien. Im Spätmittelalter wurde die musikalische Gestaltung ausgebaut. Seit der Mitte des 15. Jh.s sind mehrstimmige Vertonungen belegt, die sich in der Textauswahl erheblich unterscheiden. Erst nachdem das Konzil von Trient für die Liturgie der Trauermetten eine Textauswahl getroffen hatte, setzte sich diese auch in den Vertonungen durch. Im 16. Jh. gewannen die Feierlichkeiten der Karwoche an Gewicht und die musikalische Aufführung der Klagelieder erhielt zentrale Bedeutung. Es kam zu einer Fülle von Vertonungen der Threni.

Elzear Genet, genannt Carpentras (1475-1548), schuf als päpstlicher Kapellmeister (1514-1521) die erste polyphone Vertonung für die Sixtinische Kapelle und hatte mit ihr eine stilbildende Wirkung auf die „Lamentationen“ anderer in Rom wirkender Musiker (Juan Escribano 1478-1557; Cristóbal de Morales 1500-1553; Costanzo Festa 1490-1545). Bald entstanden auch in Spanien, Frankreich, Deutschland, England, Polen und anderen Ländern mehrstimmige Vertonungen. Die meisten Kompositionen sind für a cappella singende Männerchöre geschrieben, einige sind auch mit einer Frauen- oder Kastratenstimme besetzt (z.B. Sebastián Raval 1550-1604).

Im 17. Jh. rückt bei der Vertonung der Klagelieder der monodische Stil ins Zentrum (z.B. Emilio del Cavaliere 1550-1602; Johann Rosenmüller 1619-1684). Die Klage gewinnt an Pathos und erinnert an Lamentogesänge aus Oper und Oratorium. Für das Barock sei auf Jan Dismas Zelenka (1679-1745) verwiesen, der von 1710 bis zu seinem Tod als Komponist an der Dresdener Hofkapelle wirkte. 1723 beginnt Johann Sebastian Bach (1685-1750) seine Kantate „Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei (Klgl 1,12)“ (BWV 46) mit Zitaten und Anspielungen auf die Klagelieder Jeremias. Die Zerstörung Jerusalems hat als Paradigma für die Vernichtung der Sünder aktuelle Bedeutung. Die Kantate gipfelt jedoch in der Bitte, dass Gott um Christi willen „uns nicht nach Sünden lohne“. Georg Friedrich Händels (1685-1759) Oratorium „Messiah“ (1741) enthält im zweiten Teil eine Arie zu Klgl 1,12, doch ist „wie mein Schmerz“ zu „wie sein Schmerz“ geändert, um den Text auf Christus zu beziehen. Schon zuvor hatte Händel 1737 für das Staatsbegräbnis der britischen Königin Caroline von Ansbach, der Frau König Georgs II., die Hymne „The Ways of Zion do mourn“ (HWV 264) komponiert, die außer Hiobtexten vor allem die Klagelieder Jeremias aufnimmt und auf die aktuelle Situation bezieht, indem sie die Königin mit Zion identifiziert. Die Eingangsworte lauten: „The ways of Zion do mourn and she is in bitterness (Klgl 1,4); all her people sigh (Klgl 1,11) and hang down their heads to the ground (Klgl 2,10) … She that was great, great among the nations, and princess of the provinces! (Klgl 1,1)”.

Im 20. Jh. hatten Vertonungen der Klagelieder Jeremias, auch wenn sie noch vom lateinischen Vulgatatext ausgehen (Krenek, Stravinsky), kaum noch die liturgische Verwendung im Gottesdienst im Blick. Leonard Bernstein (1918-1990) komponierte während des Zweiten Weltkriegs, 1942, die „Symphonie Nr. 1. Jeremia“, die 1944 uraufgeführt wurde. Der dritte Teil „Lamentation“ blickt auf die Zerstörung Jerusalems als Erfüllung der Ankündigung des Propheten. Eine Sopran-Solostimme singt Auszüge aus Threni und nimmt dabei die Melodie auf, mit der der Text traditionell am Vorabend des 9. Av in der Synagoge vorgetragen wird. Ebenfalls 1942 vertonte Ernst Krenek (1900-1991) die Klagelieder in seinem Opus für vierstimmigen Chor a cappella „Lamentatio Jeremiae Prophetae, secundum Breviarium Sacrosanctae Ecclesiae Romanae“ (op. 93), das gregorianische Elemente aufnimmt, jedoch stark von Zwölftonmusik geprägt ist. Rudolf Mauersberger (1889-1971), der von 1930 bis zu seinem Tod den bedeutenden Dresdner Kreuzchor leitete, erlebte in der Bombennacht vom 13. Februar 1945 die Zerstörung Dresdens. Schon am Karsamstag desselben Jahres komponierte er im Blick auf das traumatische Erlebnis die Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“, die Verse aus Klgl 1; Klgl 2 und Klgl 5 direkt auf die Zerstörung Dresdens bezieht. Uraufgeführt wurde das Werk für vier- bis siebenstimmigen A cappella-Chor im August 1945 in den Ruinen der Kreuzkirche. Igor Stravinsky (1882-1971) komponierte 1957/58 die Kantate „Threni, id est Lamentationes Jeremiae Prophetae“ für sechs Solo-Stimmen, gemischten Chor und Orchester. Das ganze Werk, dem der Text der Vulgata zugrunde liegt, ist von einer Zwölftonreihe und ihren Abwandlungen bestimmt. Mit dem – zuweilen geänderten – Text der Vulgata übernimmt Stravinsky die hebräischen Buchstaben am Anfang der akrostichischen Zeilen. Uraufgeführt wurde das Werk in Venedig in der Scuola di San Rocco und passt dort gut zu den Wandgemälden Tintorettos, insbesondere zur großen Darstellung der Passion.

Einen ganz anderen Akzent setzt der Liedklassiker „All Morgen ist ganz frisch und neu“, der auf Klgl 3,22f fußt und von Johannes Zwick stammt (1541; Evangelisches Gesangbuch 440; Gotteslob 666).

10.4. Bildende Kunst

Aufgrund der Klagelieder wird Jeremia in der Kunst als klagender Prophet dargestellt. Eine lebensgroße Marmorstatue Donatellos zeigt ihn mit ernster, ja verbissener Miene (ca. 1425). Bei Michelangelo erscheint er in der Sixtinischen Kapelle in Aufnahme mittelalterlicher Darstellungen sitzend mit melancholisch gesenktem und aufgestütztem Haupt sowie niedergeschlagenen Augenliedern (ca. 1510). Auch Rembrandts bekanntes Ölgemälde „Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems“ zeigt den Propheten mit dem Melancholiegestus des aufgestützten Kopfes in sprachloser Trauer versunken (1630). Dadurch, dass der Betrachter von oben auf Jeremia herabschaut und dessen Gesicht im spitzen Winkel kaum sehen kann, vermittelt das Bild gegenüber dem Propheten eine distanzierte Ferne. Im 20. Jh. erscheint Jeremia bei Chagall als alter, nach vorne gebeugter Mann. Im Hintergrund des Bildes dominieren rote Farben, die auf das Feuer der Zerstörung Jerusalems verweisen.

Eine Illustration nicht nur des Lebens Jeremias, sondern auch der Klagelieder bietet die Bible Moralisée aus dem 13. Jh. Hier wird der Inhalt der Threni in einer Fülle von Szenen bildlich umgesetzt. Aufgenommen werden diese Bilder zu Jeremia und zu den Klageliedern in einem der berühmten, ebenfalls aus dem 13. Jh. stammenden Fenster von Sainte Chapelle in Paris.

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Abbildungsverzeichnis

  • Jeremia als klagender Prophet (Michelangelo; Sixtinische Kapelle; um 1510).
  • Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems (Rembrandt; 1630).

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