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(erstellt: Dezember 2012)

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1. Einführung: Biblische Klage

Die biblische Klage steht unzweifelhaft in Verbindung zu institutionellen Formen des Rechtswesens und des Kultes, versteht sich jedoch zunächst als ein sprachlich-textliches Phänomen. In der Heiligen Schrift geben die Texte der Klage Erfahrungen unterschiedlicher Notsituationen Raum. Diese bedrohlichen Umstände und Situationen können konkret benannt werden, finden zumeist aber metaphorischen Ausdruck. Dabei können Klagephänomene auf der Ebene des individuellen wie des kollektiven Schicksals unterschieden werden. Die Texte der Klage spiegeln die Wahrnehmung, dass die umgebende Welt und die persönliche Situation des Sprechers nicht so erfahren werden, wie sie von der in der Glaubenstradition überlieferten Zusage Gottes her gewollt sind. Das in → Schöpfung und → Bund (Erwählung, Berufung) verheißene Heil als Nähe und Zuwendung Gottes wird durch die Umstände herausgefordert und steht auf dem Spiel. Klage stellt somit den Konfliktfall von Glaube und Erfahrung dar (→ Zionstheologie 2.3.). Erfahrene Not, Elend und Bedrängnis zeigen eine Störung des Gemeinschaftsverhältnisses zwischen Gott und Mensch an. Am erfahrenen Leid und der daraus erwachsenden Kommunikation mit Gott entscheiden sich das Gottsein, die Mächtigkeit und der Heilswille Gottes. Biblische Klage erweist sich als Einforderung des „guten“, heilvoll zugewandten Gottes, der seinen Verheißungen treu bleibt. Texte der Klage zeigen so starke Berührungspunkte zum Bittgebet. In der radikalisierten Klage (Anklage; vgl. Klgl 2,20-22) wird eigene Schuld oder Gebotsübertretung als mögliche Ursache des Leidens (→ Tun-Ergehen-Zusammenhang) negiert. Das eigene Schicksal, in Unschuld leiden zu müssen, gewinnt vor diesem Hintergrund paradigmatischen und stellvertretenden Charakter (Leiden des unschuldigen Gerechten). Biblische Klage stellt die Rückfrage nach Gott angesichts des Leidens, bietet jedoch zu einer herkömmlichen systematischen Theodizee eine alternative Umgangsweise (→ Leid).

2. Texte der Klage

Neben einzelnen Klagepassagen können ganze Textbereiche oder biblische Bücher mit Klagesituationen in Verbindung gebracht werden. Es sind zumeist poetische Texte (z.B. → Psalmen, → Hiob, → Klagelieder Jeremias), die der Klage zu Grunde liegende theologische Thematik kann sich aber auch in erzählenden Texten finden (z.B. → Jakob als gesegneter und gezeichneter Kämpfer mit Gott am → Jabbok in Gen 32,23-32). In der prophetischen Literatur sind es insbesondere die so genannten „Konfessionen“ Jeremias (Jer 11,18ff; Jer 12,1ff; Jer 15,10ff; Jer 17,14ff; Jer 18,18ff; Jer 20,7ff.14ff) und die Texte vom leidenden → Gottesknecht im → Jesajabuch. Das → Jeremiabuch bietet darüber hinaus, vermutlich unter Einfluss der deuteronomistischen Schule (→ Deuteronomismus), Texte der Klage JHWHs über sein Volk. Klagethematik findet sich auch in Bußgebeten wie etwa Esr 9 und Neh 9. Über den Bereich des so genannten „Ersten Testaments“, in dem sich die meisten Klagetexte finden, ist für das Neue Testament insbesondere auf die theologische Bedeutung der Zitation von Ps 22 im Munde des sterbenden Jesus in Mk 15,34 (par.) hinzuweisen.

3. Geschichte der Forschung zur Klage

Die Deutung der Klage als unerlaubte „Auflehnung“ gegen Gott oder als „Pharisäismus“ verhinderte zunächst lange eine (bibel-)theologisch ertragreiche Befassung mit dem Phänomen der Klage. In der sogenannten „Skandinavischen Schule“ (→ Uppsala Schule) wurden rituell-kultische Klagefeiern insbesondere Klagefeiern des Volkes als liturgische Sitze im Lebens der Klagetexte angenommen (S. Mowinckel). H. Gunkel und J. Begrich waren auf dem Hintergrund der Formgeschichte an einer Einteilung der entsprechenden Textpassagen in Gattungen interessiert, die sie zumeist ebenfalls in einen liturgischen oder kultischen „Sitz im Leben“ verorteten. So unterschieden sie Toten- und Leichenklagen (2Sam 1,19ff; 2Sam 3,33f u.a.) von Stadt- und Untergangsklagen (Klgl 2; Klgl 4; → Stadtklage [Alter Orient]), Klagelieder des Einzelnen (KE, z.B. Ps 3; Ps 4; Ps 5; Ps 7; Ps 11; Ps 17; Ps 22; Ps 38; Ps 41; Ps 88) von Klageliedern des Volkes (KV, z.B. Ps 44; Ps 60; Ps 74; Ps 79; Ps 80; Ps 83; Ps 89; Ps 137). Eine eigene Gruppe bildet in der formgeschichtlichen Systematisierung die so genannte weisheitliche Klage (Hi 7,1ff; Hi 10; Ps 37; Ps 49; Ps 73). In redaktionsgeschichtlicher Tradition teilte C. Westermann die Klagetexte in die Phasen der Frühzeit (Gen 25,22; Gen 27,36.38), der ritualisierten Klage der KE und des Hiobbuchs sowie in die Phase der Klage in Prosagebeten der Spätzeit (Esr 9; Neh 9; Dan 9) ein. Insbesondere die Klage des Einzelnen als literarische Gattung wird intern strukturiert durch den formalisierten Ablauf Anrede Gottes (Invocatio), Klage (Beschreibung der Not), Bekenntnis der Zuversicht, Bitte, Bekenntnis der Schuld / Unschuld, Lobgelübde. Der Klageteil selbst folgt dem dreiteiligen Aufbauschema Gottklage, Ich-Klage und Feindklage (z.B. Ps 13,2f). Oft wurde der Wechsel von der klagenden Notbeschreibung zum dankenden Gotteslob (z.B. Ps 22,23ff) als „Stimmungsumschwung“ (Gunkel) interpretiert oder auf ein „priesterliches Heilsorakel“ zurückgeführt (Begrich).

Die formgeschichtliche Deutung muss sich jedoch von der Tatsache hinterfragen lassen, dass sich nicht alle Klagetexte problemlos in die Schemata der postulierten Gattungen einordnen lassen. Auch der zumeist recht willkürlich angenommene kultische „Sitz im Leben“ rückt in der aktuellen Forschung zunehmend in den Hintergrund. Vielmehr werden literarische Klagephänomene im Rahmen einer kontextuellen Lektüre zunächst individuell in der jeweiligen Leserlenkung beschrieben, wie die Klage textlich „geführt“ wird, welcher rote Faden, welches „Gespräch“ sich durch die Einbettung in den jeweiligen Mikrokontext ergibt. Weiterhin werden die Klagetexte mit ihrer theologischen Aussage dann in den Gesamtzusammenhang mit anderen Sprachformen in den kanonischen Makrokontext des jeweiligen Textbereichs (Buches, Kanonteils) eingeordnet (Intertextualität). Als weitere Auslegungskontexte ergeben sich patristische, mittelalterliche und frühneuzeitliche Deutungstraditionen. Hinzu kommt, dass die Bibelwissenschaft unter Zuhilfenahme neuerer literaturwissenschaftlicher Perspektiven den performativen Charakter biblischer Klage neu entdeckt hat. Die entsprechenden Textpassagen werden auf dem Hintergrund von Rezeptionsästhetik und Leseforschung zunehmend als „Konfliktgespräche mit Gott“ (B. Janowski) wahrgenommen, die dem Leser der Bibel als Lebensbuch Formulare für die theologische Bearbeitung existenzieller krisenhafter Situationen an die Hand geben.

4. Klage und Systematik, Praktische Theologie und Spiritualität

Die biblische Klage spiegelt die Theodizeeproblematik der philosophisch-systematischen Reflexion auf ihre Weise und führt sie (text-)pragmatisch weiter. Das Ringen des Glaubenden und der Gemeinschaft um Gottes Gerechtigkeit findet in der dramatischen Gotteskommunikation mit ihm selbst statt. Die biblische Klage zeigt einen alternativen Weg auf zwischen schweigender Ergebung und der Konsequenz, Gott den Abschied zu geben (vgl. Dostojewski). Als Dialog mit Gott ist sie Gebet. Sie vermeidet dabei eine Domestizierung der Gebetssprache, stellt vielmehr biblisch legitimierten Protest gegenüber Gott als integrativen Bestandteil der Lebens- und Glaubenserfahrung dar. Die biblischen Texte der Klage öffnen den Menschen auf die Wirklichkeit seines Lebens und auf die Wirklichkeit Gottes hin. In der performativen Dimension des Sprechens als Handeln können sie kathartisch-therapeutische Qualität haben. Die biblische Klage jedoch widersteht der Herausforderung einer esoterischen „Selbstheilung“, vielmehr erhofft der sich in die Tradition der biblischen Klage einreihende Glaubende die Heilung durch Gottes Tun und Initiative.

5. Theologie der Klage

Die Texte der Klage in der Bibel zeigen in hohem Maße die „Leid- und Schmerzempfindlichkeit der biblischen Gottesrede“ (G. Steins). Sie tragen dialogischen Charakter und verweisen auf die dramatische Beziehung zwischen Gott und Mensch in der Situation des Leidens. Die biblische Klage bewahrt gleichermaßen die Gottheit Gottes, die Realität und Mächtigkeit des Leidens und die eigene Würde und Hoffnung als Glaubender. Sie widersteht der Versuchung zur Sublimierung, Negierung oder Umdeutung des Leidens. Die Klage ist in der Situation des Leids die einzige Möglichkeit, an Gott festzuhalten, in der Gottesbeziehung zu verbleiben, sie gar zu intensivieren. Die Texte der Klage trauen Gott zu, die Situation zu wenden. Die Erinnerung der Heilstaten Gottes am Beter oder an seinem Volk (Memoria) wird zur Hoffnung (Expectatio) auf Erhörung und Erlösung, auf Befreiung in veränderter Zeit. Biblische Klage entwickelt so ein aktualisierendes und eschatologisches Potenzial, insofern sie auf Gegenwart und Zukunft verweist, die heilvoll von Gott her erwartet werden. Der Gefahr der Banalisierung der Klage kann nur durch Hinweis auf die existentielle Situation des von abgrundtiefem Leid Betroffenen begegnet werden. Insofern stellt biblische Klage eine Form der Gottesrede an den Grenzen der Sprache dar. Die Klage – in radikalisierter Form die biblische Anklage Gottes (z.B. Ps 44) stellt angesichts des fernen, als abwesend erlebten Gottes eine „moderne“ Form der Gotteskommunikation dar und wird so zum spezifischen Gotteszeugnis, zum Gotteslob.

In der jüdischen Theologie nach Auschwitz gewinnt die radikalisierte Klage (Anklage Gottes) in der Relecture der biblischen Klagetexte als Frage nach seinem Willen und seiner Macht wie nach der Erwählung des Volkes angesichts des Genozids eine eigene theologische Brisanz und Wertigkeit.

Literaturverzeichnis

  • Ebner, M. / Fuchs, O. / Janowski, B. u.a. (Hgg.), Klage (JBTh 16), 2001.
  • Fuchs, G. (Hg.), Angesichts des Leids an Gott glauben? Zur Theologie der Klage, Frankfurt am Main 1996.
  • Fuchs, O., Klage. Eine vergessene Gebetsform, in: H. Becker u.a. (Hgg.), Im Angesicht des Todes, St. Ottilien 1987, 939-1024.
  • Gunkel, H. / Begrich J., Einleitung in die Psalmen 1933, 4. Aufl. 1985.
  • Harasta, E. (Hg.), Mit Gott klagen. Eine theologische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2008.
  • Janowski, B., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie de Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003.
  • Schmidt, J., Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens (RPT 58), Tübingen 2011.
  • Schönemann, H., Der untreue Gott und sein treues Volk. Anklage Gottes angesichts unschuldigen Leidens nach Psalm 44, Göttingen 2009.
  • Steins, G. (Hg.), Schweigen wäre gotteslästerlich. Die heilende Kraft der Klage, Würzburg 2000.
  • Westermann, C., Die Rolle der Klage in der Theologie des Alten Testaments, in: ders., Forschungen am AT II, München 1974, 250-268.

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