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Kanonformel

(erstellt: März 2012)

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Die sogenannte „Kanonformel“ gebietet, das Wort Gottes genau zu überliefern. Sie besteht aus einem Erweiterungsverbot, „nichts hinzuzufügen“ (hebr. יסף jsp „hinzufügen“), und einem Kürzungsverbot, „nichts wegzunehmen“ (hebr. גרע gr‘ „abschneiden / wegnehmen“), doch ist sie in dieser Form im Alten Testament lediglich zweimal bezeugt: in Dtn 4,2 und Dtn 13,1. Hinzu kommen zwei Belege für die halbe Formel: in Jer 26,2 das Kürzungs- und in Spr 30,6 das Erweiterungsverbot. Daneben firmieren in der Regel drei weitere Stellen unter dem Begriff „Kanonformel“, obwohl sich bei ihnen die Wendung „nichts hinzufügen, nichts wegnehmen“ nicht auf einen Text bezieht: Pred 3,14; Sir 18,6; Sir 42,21 (Lutherbibel: Sir 18,5; Sir 42,22).

1. Terminologische Vorbemerkungen

Der Terminus „Kanonformel“ ist in der Forschung zu Recht umstritten. Das „Kanon“-Konzept (→ Kanon) ist für die biblische Zeit ein Anachronismus. Als Charakterisierung einer „vollständigen, klar abgegrenzten Liste der in ihrer Gesamtheit autoritativen, religiös maßgeblichen Schriften“ (Frey, 26) begegnet das Lexem als Adjektiv erstmals in der 2. Hälfte des 4. Jh.s n. Chr. in christlichen Dokumenten. „Kanon“ ist mithin ein nachbiblisches und in erster Linie christliches Konzept. Das schließt nicht aus, dass die Formel – insbesondere in ihrer nachalttestamentlichen Wirkungsgeschichte (vgl. dazu van Unnik 1949 und 1978 sowie Veltri) – von Bedeutung war für die prozesshafte Herausbildung einer autoritativen Schriftensammlung, den sogenannten „kanonischen Prozess“ (vgl. zu diesem Ausdruck Frey, 60-63).

Für die Änderungsverbote im Alten Testament bieten sich alternative Bezeichnungen an, die jedoch zum Teil ebenfalls Probleme bergen: So basiert der Ausdruck „Ptahhotep-Formel“ auf einem mittlerweile anders gedeuteten Beleg in der gleichnamigen ägyptischen Lehre (zur Kritik: Vonach 1997, 74f). Die Bezeichnung „Wortsicherungs-“ bzw. „Wortlautsicherungsformel“ könnte die Vorstellung einer bis in den Wortlaut fixierten Textgestalt nahelegen. Doch zeigt der Handschriftenbefund vom Toten Meer, dass das Bemühen um eine standardisierte Textgestalt selbst bei vergleichsweise autoritativen Texten wie den Deuteronomium-Handschriften vermutlich nicht vor dem 1. Jh. v. Chr. eingesetzt hat (vgl. Lange).

Im Hinblick auf die ursprüngliche Funktion der Wendung „nichts hinzufügen, nichts wegnehmen“ scheinen mir daher entweder formalere Bezeichnungen wie „Fixier-“ oder „Integritätsformel“ oder offenere Termini wie „Autoritätssicherungs-“ oder „Textsicherungsformel“ (wobei sich „Text“ sowohl auf gesprochene wie auf geschriebene Sprache bezieht) sachgemäßer zu sein.

2. Altorientalische Verwendungsweisen

Formelhafte Bestimmungen, die Texte vor Änderungen (Erweiterung, Kürzung, Tilgung etc.) schützen sollen, sind in der Antike von Griechenland über Kleinasien und die Levante bis Ägypten und Mesopotamien in unterschiedlichen Textsorten vielfach bezeugt. Oeming hat in einer gründlichen Untersuchung zehn Verwendungsweisen der altorientalischen Textsicherungsformeln namhaft gemacht: Demnach begegnen die Formeln „1. im Recht (Sicherung von Verträgen, Rechtskodizes, Kudurru-Urkunden); 2. in der Berufs-Ethik der Schreiber und der Boten (Tugend der Zuverlässigkeit); 3. in der Magie (Macht des korrekt reproduzierten Zauberwortes); 4. in der Schule (Ziel beim Auswendiglernen); 5. in der Königsideologie (zum Schutz des Namens des Königs in Ewigkeit); 6. in der Kunsttheorie (zur Definition des Schönen); 7. in der Ethik (als das Gute, was zu tun ist); 8. in der Literaturtheorie (im Begriff des Klassischen); 9. in der Historiographie (als Garant historischer Zuverlässigkeit); 10. in der religiösen Literatur (als Auszeichnung für das Offenbarte und das Inspirierte).“ (Oeming, 130f; vgl. zum altorientalischen Hintergrund auch Weinfeld, 261-265; Reuter; Vonach 1997; Levinson)

Inwiefern die alttestamentlichen Belege von den vielfältigen altorientalischen Verwendungsweisen des Textänderungsverbots inspiriert worden sind, soll anschließend im Zusammenhang der jeweiligen Textstelle gefragt werden. Zu berücksichtigen ist dabei Vonachs Beobachtung, „daß in keinem Fall von einer bloßen ‚Übernahme‘ oder ‚Abhängigkeit‘ gesprochen werden kann, sondern daß immer auch eine dem eigenen Kontext entsprechende neue Konnotation auszumachen ist“ (Vonach 1997, 80). Entscheidend sind also jeweils die Bezugsgröße der Formel und ihre Verwendung in einem bestimmten Kontext.

3. Alttestamentliche Belege

Die Belege im Alten Testament können hinsichtlich ihrer Bezugsgröße grob in solche eingeteilt werden, die sich auf einen Text beziehen, und in solche, die sich „in metaphorischer Übertragung“ (Oeming, 135) auf Gottes Wirken beziehen. Literaturgeschichtlich können Erstere (im weitesten Sinn) dem → Deuteronomismus und Letztere der (späten) Weisheit zugeordnet werden.

3.1. Die deuteronomistischen Belege

3.1.1. Dtn 4,2 und Dtn 13,1

3.1.1.1. Dtn 4,2. Die Textsicherungsformel in Dtn 4,2 ist in mehrerer Hinsicht einfacher zu deuten als die in Dtn 13,1. Zunächst ist die Platzierung der Formel in Dtn 4,2 einigermaßen verständlich. In Dtn 1-3 gibt → Mose einen Rückblick auf die 40jährige Wanderschaft vom Horeb bis → Moab, in Dtn 4 beginnt er mit der Gebotsparänese, an deren Beginn die Formel steht.

„Ihr sollt nichts hinzufügen zu dem Wort (הדבר), das ich euch gebiete (auf das ich euch verpflichte), und ihr sollt nichts davon wegnehmen; bewahrt (im Hebräischen Infinitiv cs.) die Gebote Jhwhs, eures Gottes, die ich euch gebiete (auf die ich euch verpflichte).“ (Dtn 4,2)

Die Bezugsgröße der Textsicherungsformel ergibt sich zum einen aus deren unmittelbarem Kontext, zum anderen aus der redaktionsgeschichtlichen Verortung von Dtn 4. Im unmittelbaren Kontext sind mit Braulik (44f) folgende Beobachtungen von Bedeutung:

In Dtn 4,2 charakterisiert der auf „Wort“ bezogene Relativsatz mit der Verpflichtungsformel „das ich euch gebiete“ „den inhaltlich unbestimmten ‚Text‘ als Vertragstext“ (44). Sodann wird er „in der von beiden Prohibitiven abhängigen Infinitivverlängerung durch ‚die Gebote JHWHs‘ näher bestimmt“ (44f). Schließlich weist Dtn 4,1 mit dem Doppelausdruck „Satzungen und Rechte“ (אֶל־הַחֻקִּים וְאֶל־הַמִּשְׁפָּטִים) voraus auf die durch diesen Ausdruck gerahmte und aus Paränese (Dtn 5-11) und Gesetzeskorpus (Dtn 12,1-26,16) bestehende zweite Moserede.

Vor dem Hintergrund einer breit akzeptierten spät-deuteronomistischen Entstehung von Dtn 4 (vgl. zu Entstehung und Datierung des Kapitels Perlitt, 295-302) dürfte die Bezugsgröße der Textsicherungsformel in Dtn 4,2 mithin wenigstens die zweite Moserede (vgl. Braulik, 45) bzw. das gesamte, Paränese und Gesetz beinhaltende → Deuteronomium sein, das als Vertragstext im Umfang von Dtn (4.)5-28 die Grundlage der vertraglichen Verpflichtung Israels darstellt (Dtn 29f.) und, nachdem es von Mose verschriftet worden ist (Dtn 31,9.24), neben der Lade deponiert werden soll (Dtn 31,26).

Sollte Dtn 4 mit Otto (2000, 167-175) im Kontext der Pentateuchredaktion zu verorten sein, dann bezieht sich die Formel streng genommen auch „auf die vorangehende, in der Leserichtung des Pentateuch am Sinai ergangene Gesetzgebung“ (a.a.O., 165); denn „in der Offenbarungstheorie der Pentateuchredaktion [ist] das Deuteronomium Auslegung der Sinaigesetzgebung“ (ebd.; ähnlich Taschner, 48f vor dem Hintergrund einer synchronen Lesart von Dtn 4). So ließe sich auch die auffällige Parallelisierung von „Wort“ (דבר) in Dtn 4,2a und „Geboten Jhwhs, eures Gottes“ (מִצְוֹת יְהוָה אֱלֹהֵיכֶם) in Dtn 4,2b (jeweils verbunden mit einem Verpflichtungssatz) erklären; denn sie betont die inhaltliche Identität von Sinaigesetzgebung und Moabverpflichtung, von göttlicher Willensoffenbarung und mosaischer Vermittlung (zu Dtn 5,22a als möglichem Vorläufer von Dtn 4,2 vgl. Otto 2000, 164). Bezugsgröße von הדבר („das Wort“) in Dtn 4,2 wäre somit die ganze Willensoffenbarung Jhwhs, die durch die Textsicherungsformel vor Veränderungen geschützt werden soll: „Vermehrung oder Verminderung dieses דבר [„Wort“, CK] bedeutet also nicht, ein paar kultische oder ethische Gebote mehr oder weniger zu haben, sondern in die Substanz einzugreifen: Hinzufügungen wären nicht durch Jahwe autorisiert, Kürzungen wären sakrilegische Eingriffe in Gottes offenbarten Willen. So will das Verbot der Textveränderung mehr schützen als Wörter, nämlich ‚das Wort‘.“ (Perlitt, 306).

3.1.1.2. Dtn 13,1. Folgte in Dtn 4,2 auf die Textsicherungsformel eine Aufforderung, das „Gebot Jhwhs“ zu bewahren, so ist es in Dtn 13,1 genau umgekehrt: Hier gehen der Formel die Verben des Gebotsgehorsams (שׁמר „bewahren“ und עשׂה „tun“) voraus, wobei statt des Nebeneinanders von „Wort“ und „Gebot Jhwhs“ allein „das ganze Wort“ (אֵת כָּל־הַדָּבָר) als Objekt von Paränese und Veränderungsverbot erscheint. Wie in Dtn 4,2 werden Erweiterungs- und Kürzungsverbot als Prohibitive formuliert (die vermeintliche Jussivform תסף dürfte auf einer Verkennung der Defektiv-Schreibung beruhen; vgl. GK § 109d), anders als Dtn 4,2 wird das Kollektiv „Israel“ allerdings teils im Plural, teils im Singular angesprochen, ein Phänomen, das vor allem in jüngeren Schichten des Deuteronomiums häufig zu beobachten ist.

„Das ganze Wort (אֵת כָּל־הַדָּבָר), das ich euch gebiete (auf das ich euch verpflichte), das bewahrt und tut; du sollst nichts zu ihm hinzufügen und du sollst nichts davon wegnehmen. (Dtn 13,1)

Die Bezugsgröße der Textsicherungsformel in Dtn 13,1 ist umstritten. Dies liegt zunächst daran, dass eine Datierung des literarischen Kontextes hier ungleich schwerer gelingt als bei Dtn 4,2. Vor allem aber ist die Problematik einer eindeutigen Zuordnung der Formel ihrer scheinbar isolierten Stellung zwischen den Bestimmungen zur Kultzentralisation in Dtn 12 (Kulteinheit) und denen zum Fremdgötterverbot in Dtn 13 (Kultreinheit) geschuldet, wobei das Thema der Kultreinheit auch schon den Rahmen von Dtn 12 dominiert (vgl. Dtn 12,2-7.29-31). Hat die Formel in dieser Zwischenstellung eher (kataphorisch) eine eröffnende oder eher (anaphorisch) eine abschließende Funktion? Oder bezieht sich die Formel in Dtn 13,1 wie die in Dtn 4,2 auf die gesamte Willensoffenbarung Jhwhs, wobei gerade dann ihre Platzierung erklärungsbedürftig wäre?

Galt die Textsicherungsformel in Dtn 13,1 (nicht zuletzt aufgrund formgeschichtlicher Erwägungen) meist als spät-deuteronomistische „Abschlußformel mit Bezug auf das Gesetz zur Zentralisation der Opfer“ (Reuter, 110; vgl. a.a.O., 109-113, sowie Oeming, 132f), so hat jüngst Levinson in einem wichtigen Aufsatz den traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Dtn 13,1 noch einmal klarer herausgearbeitet und dabei Herkunft, Alter und Bezug der Formel neu in Frage gestellt.

Levinson interpretiert Dtn 13,1 vor dem Hintergrund neuassyrischer Vertragstexte und postuliert näherhin eine Bestimmung aus → Asarhaddons Thronfolgevertrag (= VTE) aus dem Jahr 672 als Vorlage der Textsicherungsformel. In VTE § 4, Z. 57-60 heißt es:

„Bei Gott, ihr sollt nicht das Wort Asarhaddons, des Königs von Assyrien, ändern oder abwandeln. Bei Gott, ihr sollt Assurbanipal, dem Kronprinzen vom ‚Nachfolgehaus‘, eben diesem gehorchen.“ (Übers. des Vf.; Text: SAA II 6; andere Übersetzung: TUAT I, 161f)

Nach Levinson hat der Verfasser von Dtn 13,1 die zitierte Vertragsbestimmung in umgekehrter Reihenfolge übernommen und so einen Chiasmus gebildet: „A requirement for obedience to הדבר, ‚the word’ of the overlord, followed by a double prohibition against amending the sworn terms of the treaty.” (Levinson, 31). An Überzeugungskraft gewinnt diese Herleitung durch den Befund, dass die bundestheologischen Bestimmungen (→ Bund) in Dtn 13,2-12 ähnliche traditionsgeschichtliche Bezüge speziell zu diesem neuassyrischen Vertragswerk spiegeln. „Deuteronomy, in effect, selectively reworked and juxtaposed what it considered the key elements of two legal paragraphs (§§ 4,10) from VTE in its own bid to demand exclusive loyalty to the word of Moses.” (Levinson, 33). Da eine subversive Rezeption der VTE-Bestimmungen, wie Levinson sie annimmt, am ehesten in der Regierungszeit des judäischen Königs → Josia Sinn mache (vgl. a.a.O., 29f), ergibt sich einerseits für Dtn 13,1 (wie Dtn 13,2-12) eine vorexilische Datierung und andererseits eine entstehungsgeschichtliche Priorität von Dtn 13,1 gegenüber Dtn 4,2 (vgl. a.a.O., 35f).

Erste Reaktionen auf diese These zeigen, dass sich unbeschadet einer grundsätzlichen Akzeptanz der traditionsgeschichtlichen Herleitung der Textsicherungsformel in Dtn 13,1 (und Dtn 4,2) vor allem an zwei Punkten Kritik äußern wird:

1. Auch wenn das Änderungsverbot in VTE § 4 (im Gegensatz zum üblichen Inschriftenschutz! Vgl. Reuter, 112) am Anfang der zu sichernden Worte Asarhaddons steht, so ist die kataphorische Funktion von Dtn 13,1 im Hinblick auf die Loyalitätsgebote in Dtn 13,2-12(19), der schon frühe Zeugen wie LXX, Tempelrolle und Masoretischer Text entgegenstehen (vgl. Braulik, 37, Anm. 22), durch die konkrete sprachliche Gestalt der Textsicherungsformel in Zweifel gezogen; denn der Vers gibt signifikante Querbezüge zu Dtn 12 (v1 und v28) zu erkennen (vgl. Reuter, 96f; Rüterswörden, 21-23; Braulik, 37). Nach Braulik, der den Bezug zu Dtn 12,1 hervorhebt, verknüpft Dtn 13,1 die Opfergesetze in Dtn 12,4-28 mit den polemischen Bestimmungen in Dtn 12,2-4 und Dtn 12,29-31 „und signalisiert dadurch die Untrennbarkeit von Kulteinheit und Kultreinheit“ (37; vgl. schon Reuter, 110). Nach Rüterswörden, der vor allem die Bezüge zu Dtn 12,28 betont, diente die Formel in Dtn 13,1 dazu, die Auslegungen zur Kultzentralisation in Dtn 12, insbesondere den jungen (seiner Meinung nach Lev 17 fortschreibenden) Abschnitt Dtn 12,20-28, zu sichern, indem „eine mehrfache exegetische Bemühung ‚kanonisiert‘ wird, nicht nur die Transformation des Altargesetzes in Ex 20, sondern auch die Transformation von Lev 17“ (26). Sollte die Verbindung von Dtn 13,1 zu Dtn 13,2-12(19) demnach ursprünglich sein – wie Levinson aufgrund der Nähe zu VTE § 4 vermutet –, so müsste man doch annehmen, dass der Vers nachträglich auf Dtn 12,1 und den jungen Abschnitt Dtn 12,20-28 hin überarbeitet worden ist (vgl. a.a.O., 21, Anm. 20).

2. Davon nicht zu trennen ist die Frage nach dem literarhistorischen Ort von Dtn 13,1. Neben den Bezügen zu jüngeren Teilen aus Dtn 12 sowie dem für jüngere Deuteronomiumstexte typischen Wechsel in der Anrede Israels zwischen Dtn 13,1a und b spricht gegen eine Verortung der Formel in die vorexilischen Anfänge des Deuteronomiums auch die Funktion der Formel als Textänderungsverbot. Diese Funktion müsste nämlich vor dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund darin bestehen, die Autorität des Deuteronomiums als schriftlich fixierte Textgrundlage einer vertraglichen Verpflichtung Israels zu sichern (auch VTE § 4 bezieht sich in seinem Kontext auf eine schriftliche Größe). Doch das Selbstverständnis als Vertragsurkunde (vgl. 2Kön 23,2) ist dem Deuteronomium nicht von Anfang an zu eigen, sondern erst vergleichsweise spät zugetragen worden, angezeigt u.a. durch die Belege für Schriftlichkeit vor allem im hinteren Rahmen des Deuteronomiums (zum Übergang von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit im Deuteronomium vgl. Hossfeld / Reuter, 938f). Dies spricht für eine Verortung der Formel auf einer redaktionellen Ebene, auf der das Deuteronomium bereits insgesamt dem Vertragsgeschehen unterworfen ist und sich selbstreferenziell als schriftliche Größe zu erkennen gibt: Mose verpflichtet am Vorabend der Landnahme das Volk auf die Tora (Dtn 29f., die – den altorientalischen Gepflogenheiten entsprechend – (anschließend) schriftlich fixiert wird (Dtn 31,9.24 u.ö.). Damit besteht – noch extremer als bei den Bestimmungen in Dtn 13,2-19 (vgl. dazu Koch, 266-314) – die Herausforderung, die Nähe zum neuassyrischen Sukzessionsvertrag Asarhaddons aus dem 7. Jh. mit einer späteren (spät-deuteronomistischen?) Datierung von Dtn 13,1 (im Zusammenhang mit Dtn 13,2-19?) zu korrelieren (vgl. auch Braulik, 37, Anm. 22).

Dessen ungeachtet dürfte Levinson den traditionsgeschichtlichen Hintergrund – nicht nur von Dtn 13,1, sondern auch von Dtn 4,2 – grundsätzlich zutreffend bestimmt haben: Es geht hier nicht um den Inschriftenschutz in einem Gesetzeskontext (der wäre in der Tat in Dtn 4,2 und Dtn 13,1 deplatziert, vgl. VTE § 35), sondern – wie in VTE § 4 – um die Sicherung der (für Dtn 4,2 und Dtn 13,1 möglicherweise noch einmal unterschiedlich zu bestimmenden) Vertragsinhalte, die einzuhalten und „sachgemäß“ (Schaack, 212) weiterzugeben sind. Allerdings ist neben dem vertragsrechtlichen Hintergrund im Deuteronomium noch stärker als in den VTE die religiöse Dimension zu betonen, da Jhwh selbst als Vertragsherr erscheint und sein Vertragstext deshalb Offenbarungsqualität besitzt (vgl. den Beleg der Textsicherungsformel im Erra-Epos, V, 42-44 [TUAT III, 801]).

3.1.2. Jer 26,2 und Spr 30,6

Die halben Formeln in Jer 26,2 und Spr 30,6 dürften ausweislich der sprachlichen und inhaltlichen Konvergenzen in die Nachgeschichte der deuteronomistischen Belege gehören.

3.1.2.1. Jer 26,2. Das Kürzungsverbot im Zusammenhang der Tempelrede in Jer 26,2 überträgt die halbe Textsicherungsformel aus Dtn 4,2 / Dtn 13,1 auf das Gotteswort im Prophetenmund (Objekt sind die von Gott gebotenen „Worte“ [דברים]), „um so die offenbarungstheologische Bedeutung des Prophetenwortes in Relation zur Tora zu unterstreichen“ (Otto 2007, 155; vgl. zu Jer 36,32 als Umkehrung des Erweiterungsverbots a.a.O., 150).

3.1.2.2. Spr 30,6. Von den Deuteronomiumsbelegen inspiriert ist vermutlich auch der weisheitliche Beleg in Spr 30,5f, der eingebettet ist in die Sammlung Spr 30,1-14, ein „Summarium späten weisheitlich-theologischen Denkens“ (Meinhold, 495), das aufgrund seiner intertextuellen Bezüge „nach Esra / Nehemia – vielleicht im 4. vorchristlichen Jahrh.“ (a.a.O., 496) verfasst wurde. Das Erweiterungsverbot (Objekt sind die „Worte“ [דברים] Gottes) dürfte hier dem Ansinnen wehren, „durch weisheitliche Spekulationen das göttliche Wort zu verfälschen“ (a.a.O., 499). Umstritten ist, welcher Textumfang bei diesem späten Beleg im Blick ist (vgl. Oeming, 136f).

3.1.2.3. Neben den ausformulierten Textsicherungsformeln gibt es im Alten Testament noch andere Möglichkeiten, das als vollständig und abgeschlossen geltende Gotteswort vor Veränderungen zu schützen. Was Dtn 5,22 im Hinblick auf den Dekalog mittels der Wendung „und er fügte nichts hinzu“ (וְלֹא יָסָף) beabsichtigt, geschieht in Ex 32 auf narrativem Weg durch die Notiz, dass die mit Gottes eigener Handschrift versehenen Dekalogs- bzw. Vertragstafeln „beidseitig, vorn und hinten“ beschrieben waren (Ex 32,15): Es sollte und konnte nichts hinzugefügt werden (vgl. auch die „vorn und hinten“ beschriebene Schriftrolle in Ez 2,10).

3.2. Die weisheitlichen Belege

Die weisheitlichen Belege des Änderungsverbots unterscheiden sich von den deuteronomistischen vor allem hinsichtlich ihrer Bezugsgröße: Die Wendung „nichts hinzufügen, nichts wegnehmen“ bezieht sich in Pred 3,14 und Sir 18,6; Sir 42,21 (Lutherbibel: Sir 18,5; Sir 42,22) nicht auf einen Text (דבר „Wort“ o.ä.), sondern auf Gottes Wirken in Schöpfung und Geschichte. Offensichtlich liegt hier eine „metaphorische[r] Übertragung“ (Oeming, 135) der Textsicherungsformel vor; fraglich ist jedoch, ob man zwischen den Deuteronomium-Belegen und Pred 3,14 eine literarische Abhängigkeitsbeziehung plausibilisieren kann (vgl. die kontroverse Beurteilung dieser Frage durch Herrmann [Deuteronomium > Sprüche > Prediger] und Weinfeld, 263f [Sprüche > Prediger > Deuteronomium]). Gegen eine literarische Abhängigkeit kann zunächst der sprachliche Befund in Pred 3,14 angeführt werden, der von dem in Dtn 4,2 und Dtn 13,1 abweicht (vgl. Vonach 1998, 394). Vor allem aber legt der gänzlich andere traditionsgeschichtliche Hintergrund unterschiedliche Wurzeln der deuteronomistischen und der weisheitlichen Belege nahe; denn eine metaphorische Übertragung der Textsicherungsformel ist auch außerbiblisch bezeugt, und zwar in einem Milieu, mit dem die Verfasser der spätweisheitlichen Schriften → Prediger und → Sirach vertraut waren (zu Datierung und kulturellem Hintergrund von Prediger vgl. Krüger, 39.43f): „Das, wozu man nichts hinzufügen darf und wovon man nichts hinwegnehmen soll, ist für philosophisch geschulte Ohren in Griechenland eine sprichwörtliche Definition, und zwar die Definition für das Schöne.“ (Oeming, 129, mit Verweis auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 1106b). Gottes Wirken ist vor diesem traditionsgeschichtlichen Hintergrund „ein Kunstwerk, das in seiner Vollendung keine Veränderung duldet, sondern Ehrfurcht fordert“ (Oeming, 136). Eine ähnliche Funktion hat die Formel im jüngeren Sirachbuch, wo sie mehrfach im Kontext von Gottes Schöpfungshandeln erscheint (Sir 18,6; Sir 42,21 [Lutherbibel: Sir 18,5; Sir 42,22]; vgl. auch Sir 43,27 [Lutherbibel: Sir 43,29]). Wird die Wendung „nichts hinzufügen, nichts wegnehmen“ in Pred 3,14 (wie in Sir 18,6 und Sir 42,21) „zu einer Art Glaubensbekenntnis“ (Vonach 1998, 397), so stellt sich die Frage, ob man bei diesen Belegen überhaupt noch von einer „Kanonformel“ oder Textsicherungsformel sprechen sollte.

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  • Weinfeld, M., 1972, Deuteronomy and Deuteronomic School, Oxford

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