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Jüdisch-christlicher Dialog (christl. Sicht)

(erstellt: Mai 2007)

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1. Grundsätzliches

Der Dialog, sofern er geschieht, hat ungleiche Partner unter ungleichen grundsätzlichen und historischen Bedingungen: Das Christentum kommt in der jüdischen Heiligen Schrift (Altes Testament) nicht vor; umgekehrt stößt das Christentum in beiden Testamenten seiner Heiligen Schrift ständig auf das Volk Israel bzw. das jüdische Volk und seine Geschichte. Hinzu kommt ein unterschiedliches Schriftverständnis: Der Bezugsrahmen der jüdischen Seite ist die rabbinische Überlieferung („mündliche Tora“), derjenige der christlichen Seite das Neue Testament und die sich daran anschließende kirchliche Tradition.

Durch seine Orientierung am Neuen Testament beruhte christliche Identität lange Zeit auf (feindlicher) Abgrenzung; seit der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums wächst die Einsicht, dass Abgrenzung und Judenfeindschaft dem Christentum selbst geschadet haben. Der Dialog zielt auf Heilung der auf beiden Seiten eingetretenen, unterschiedlichen Schäden, unterschiedlich verursacht und unterschiedlich erlitten. Auf christlicher Seite setzt er die Bereitschaft und Fähigkeit zu grundlegender Umkehr und zu einem neuen Verhältnis mit dem Judentum voraus: Das Christentum hat und behält im Judentum seine Wurzeln; darum ist es mit ihm wesenhaft verbunden.

Das Judentum ist von seinen biblischen Wurzeln her auch eine politische Größe, für die es kaum einen passenden deutschen Ausdruck gibt, am ehesten Volk oder Volksgemeinschaft. Das Christentum ist eine Glaubensgemeinschaft innerhalb verschiedener Völker und über deren Grenzen hinaus.

Von einer kurzen Anfangszeit abgesehen, stand das Judentum bis ins 20. Jh. als eine religiös-ethnische Minderheit der christlichen Mehrheitsgesellschaft gegenüber, bis ins 4. Jh. unter römischer Herrschaft, danach unter christlicher. Epochen eines mehr oder weniger friedlichen Nebeneinanders wechselten mit Epochen gesellschaftlicher Diskriminierung und blutiger Verfolgungen. Während des Dritten Reiches erreichten diese in der systematischen Verfolgung und Vernichtung aller Juden im Einflussbereich des „Großdeutschen Reiches“ ihren Höhepunkt. Seit Gründung des Staates Israel 1948 können Juden als Bürger eines eigenen Staates Christen unter vergleichbaren gesellschaftlichen und politischen Bedingungen begegnen.

Auf jüdischer Seite führen Einzelne oder Gruppen den Dialog; repräsentative, gar zentrale Organe gibt es nicht. Dagegen liegen von christlicher Seite verbindliche Beschlüsse von kirchlichen Leitungsgremien (Synoden, Lehramt) vor. Während Christen den Dialog mit Juden zunehmend als für sie existentiell notwendig erkennen, ist es auf jüdischer Seite eine Minderheit, vor allem von Liberalen Juden und Reformjuden, die einen Dialog mit Christen führen und auch für sich als sinnvoll einschätzen.

Die Ungleichheit („Asymmetrie“) zwischen Juden und Christen lässt sich biblisch mit den Begriffen aus Röm 15,8-9 aussagen: „Treue“ für Gottes Volk Israel, „Gnade“ für die Christen aus den „Völkern“, u.U. als Anspielung auf den in Röm 15,11 zitierten Ps 117.

2. Biblisch und historisch

2.1. Die judenfeindliche Benutzung des Alten Testaments

Von Anfang an entzündet sich an Verstehen, Auslegung und Benutzung der „Schriften“ Streit, zuerst bis Ende des 1. Jh.s als innerjüdischer zwischen Jesus anhängenden und anderen Gruppierungen, seit dem 2. Jh. unter völkerchristlicher Majorisierung zwischen dem sich neu bildenden rabbinischen Judentum und dem entstehenden Völkerchristentum (bzw. Heidenchristentum). Verschiedene Berufungen in verschiedenen Kontexten spiegeln ein Spektrum von dem umfassenden Verweis auf „die Schriften“ als Verstehensschlüssel für das „Evangelium“ (1Kor 15,3-5), über die christologische „Öffnung“ des dreigeteilten Kanons (Lk 24,27.45) bis zur Diffamierung jüdischer Leseweise des „Alten Bundes“ (2Kor 3,12-15).

Der judenfeindlichen Benutzung des „Alten Testaments“ mit Hilfe typologischer oder allegorischer Auslegung (2Kor 3,12-15; Gal 4,21-31) stehen judenfreundliche Aussagen von der Treue Gottes zu seinem Volk und von dessen endgültiger Rettung gegenüber; sie basieren auf dem Literalsinn der zitierten alttestamentlichen Bezugstexte (Röm 11,26f; Röm 15,8-12). Judenfeindliche Benutzung alttestamentlicher Texte beruht also auf Nichtachtung ihres Literalsinns, während heilvolle Aussagen sich gerade auf diesen berufen können.

Mit der Usurpation der „Schriften“, gegründet auf typologische und allegorische Auslegung, gehen einher nicht nur die Entgegensetzung der beiden Bünde ( Gal 4,21ff), des alten und des neuen Bundes (Hebr 8,6-13), sondern auch die Ersetzung des „Israel nach dem Fleisch“ (1Kor 10,18) durch die Kirche. Später wird sie analog dazu zum „Israel nach dem Geist“ (Schrage, 1983, 143-151). Daraus entsteht der zentrale Inhalt der traditionellen theologisch-kirchlichen Judenfeindschaft: Das Volk Israel habe durch sein Nein zu Jesus von Nazareth als dem verheißenen Messias seine Erwählung verwirkt, und seine Stelle habe die Kirche als das „Israel rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward“, eingenommen (so Luther in seiner Nachdichtung von Ps 130, eg Nr. 299, 4).

In der typologischen und allegorischen Auslegung fanden Kirche und Theologie – herausgefordert durch Markion und sein Pochen auf den Literalsinn des „Alten Testaments“ (→ Epochen der christlichen Bibelauslegung) – Mittel und Wege, das Alte Testament für den christlichen Glauben zu reklamieren und das überlebende Israel zu be- und enterben. Markions Verzicht auf das Alte Testament und die die ganze Kirchengeschichte durchziehende christologische Auslegung des Alten Testaments bilden die Eckpunkte traditioneller alttestamentlicher Hermeneutik. In ihrer ganzen Bandbreite zielt sie auf mehr oder weniger feindliche Abgrenzung zum Judentum.

Die christozentrische Auslegung durch → Luther hat den Graben noch vertieft. Für ihn rückte das Schriftverständnis ins Zentrum (sola scriptura) unter dem Vorzeichen des „solus Christus“ und „sola fide“. Seine Judenfeindschaft wurde zur Kehrseite seiner Liebe zum Alten Testament als der grundlegenden „Schrift“ (Bornkamm, 1948). Die Zuspitzung seiner judenfeindlichen Agitation in den Judenschriften von 1543 lässt auf wachsende Zweifel schließen, ob seine christozentrische Auslegung des Alten Testaments sich gegen jüdische und humanistische Berufung auf den Literalsinn behaupten könne (Von der Osten-Sacken, 2002, 228-230).

Weiter verschärfte sich der Streit um das Alte Testament durch den Siegeszug der historisch-kritischen Auslegung, die Erweiterung des traditionellen Antijudaismus um den Antisemitismus in der 2. Hälfte des 19. Jh.s, vollends durch die systematische Judenvernichtung während des Dritten Reiches.

Während des Dritten Reiches wurde der „Kampf um das Alte Testament“ ein fundamentales Thema im Kirchenkampf; von beiden Seiten wurde er auf dem Rücken der verfolgten Juden ausgetragen: Gegen die Diffamierung des Alten Testaments als jüdisch durch die „Deutschen Christen“ verteidigte die „Bekennende Kirche“ das Alte Testament als christlich und sprach es – ungewollt? – den Juden ab.

Drei Grundmodelle lassen sich an den Vorsilben zu christlich ablesen: Das Alte Testament als vor-christlich (Luther), das Alte Testament als nicht-christlich (religionsgeschichtliche Sicht) und das Alte Testament als un-christlich (Schleiermacher; v. Harnack; „Deutsche Christen“).

2.2. Das Umdenken nach 1945

In den mühsamen Bemühungen der Kirchen um ein neues Verhältnis zum überlebenden Judentum nach 1945 taucht das Thema Schriftverständnis erst relativ spät auf, erst seitdem Versagen und Schuld ebenso fundamental theologisch verstanden wurden wie Umkehr und Neuanfang.

Auf römisch-katholischer Seite markiert den Umschwung die Erklärung „Nostra Aetate“ des II. Vatikanischen Konzils von 1965: Einmal erinnert sie daran, „daß sie (die Kirche) durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testaments empfing und genährt wird (Präsens!) von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind“ (Rendtorff / Henrix, 1988, 42). Zum anderen bezeugt das Dokument die Hochschätzung besonders auch des Alten Testaments ( Jes 66,23; Zef 3,9; Ps 65,4) dadurch, dass es seine Aussagen ausschließlich durch Schriftzitate begründet.

Auf evangelischer Seite markiert die (erste) Studie „Christen und Juden“ des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1975 einen Wendepunkt: Das Thema „Heilige Schrift“ begegnet im ersten Teil „Gemeinsame Wurzeln“. Im zweiten Teil „Das Auseinandergehen der Wege“ wird die Rede von Gemeinsamkeit unter dem Aspekt der „Auslegung der Heiligen Schrift“ differenziert und relativiert, unter Verweis auf die unterschiedliche Ausrichtung der Auslegung einmal an der Tora, zum anderen an der Person Jesu Christi (Rendtorff / Henrix, 1988, 560f.566f.).

Die EKD-Studie regte landeskirchliche Erklärungen an. Wegweisend wurde der Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ von 1980 (Rendtorff / Henrix, 1988, 593-596). Ihr folgten inzwischen alle evangelischen Landeskirchen.

Den erreichten Konsens fasst die Studie „Christen und Juden II“ des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1991 zusammen, fortgeführt in „Christen und Juden III“ aus dem Jahr 2000 (Henrix / Kraus, 2001, 633-637.862). Bemerkenswerterweise fehlt darin eine eingehende Behandlung des Schriftverständnisses, ein Zeichen für die Schwierigkeiten, die dieses Thema den Kirchen bereitet. Die Studie II selbst erkennt die Schwierigkeiten in dem unterschiedlichen „Umgang“ des Neuen Testaments „mit der Heiligen Schrift“ und in dessen hermeneutischer Auswertung. Aus der Vielfalt der neutestamentlichen Antworten „auf die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zu Israel“ folgert sie, „die Aufgabe zu klären, wie die theologisch orientierende Mitte zu bestimmen ist, der andere, weniger entfaltete Einsichten als Aspekte des neutestamentlichen Gesamtzeugnisses zugeordnet werden müssen“. Aus mehreren Gründen erkennt die Studie Röm 9-11 diese Bedeutung als eine Art Kanon im Kanon zu (Henrix / Kraus, 2001, 661; vgl. a. Studie III, 2000, ebd. 929). Die weit verbreitete Praxis, die mehr oder weniger alle kirchlichen Erklärungen üben, sich auf Röm 9-11 zu berufen, erhält damit eine systematisch-theologische Fundierung. Die Studie „Christen und Juden III“ hat die kanonkritischen Gedanken weitergeführt und dazu Anhaltspunkte entwickelt (Henrix / Kraus, 2001, 928).

Die hermeneutischen Fragen werden am intensivsten und ausführlichsten erörtert und am weitesten geklärt in zwei repräsentativen kirchlichen Verlautbarungen aus dem Jahr 2001: a) Die Erklärung der → Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ ist dem Schriftverständnis gewidmet. b) In der Studie „Kirche und Israel“ der Leuenberger Kirchengemeinschaft findet sich ein längerer Passus: „Das christliche Verständnis der Heiligen Schriften Israels“. Beide Texte reden, wenn auch unterschiedlich direkt, von „Analogie oder Parallelität“ und dementsprechend von Gleichrangigkeit zwischen jüdischer und christlicher Rezeption der „Schriften“ (Päpstliche Bibelkommission, 2001, 43-45; Leuenberg, 2001, 56-58). Die Dokumente reden von der „Mehrdimensionalität“ (Päpstliche Bibelkommission, 2001, 7f) oder „Offenheit“ biblischer Texte „für unterschiedliche Verstehensmöglichkeiten“ (Leuenberg, 2001, 56-58). Weder die „Mehrdimensionalität“ noch die „Offenheit der biblischen Texte“ können willkürlich und unbegrenzt sein. Über die Grenzen muss gestritten werden unter Christen und Juden, die sich auf die eine Schrift berufen. D.h. es müssen Regeln ausgehandelt werden, die Austausch und Verständigung ermöglichen und festigen.

Vom 11. September 2000 datiert die erste theologische Antwort von (amerikanisch-)jüdischer Seite auf kirchliche Erklärungen „ Dabru Emet (Redet Wahrheit) eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum“ (Henrix / Kraus, 2001, 974): In 8 kurzen Punkten „erläutern“ sie, „auf welche Weise Juden und Christen miteinander in Beziehung stehen können“. Der zweite betrifft das Schriftverständnis; er nennt Gemeinsamkeiten, sieht sie aber mit Hinweis auf die unterschiedliche Interpretation „in vielen Punkten“ relativiert. „Diese Unterschiede müssen respektiert werden“ (Henrix / Kraus, 2001, 974f).

3. Systematisch-theologisch

Die Schrift und ein neues Schriftverständnis sind – insbesondere nach reformatorischem Verständnis – die Basis für den jüdisch-christlichen Dialog. Vorgegeben ist die kanonische Zusammengehörigkeit von Altem Testament und Neuem Testament (→ Kanon), die geschichtlichen Bedingungen bildet die → Schoah, Mittel und Wege bieten die vielfältigen Methoden → historisch-kritischer Auslegung. Ziel ist es, die Ergebnisse historisch-kritischer Auslegung mit jüdischer Auslegung so zu vereinbaren, dass die jüdische als absolut gleichwertig respektiert wird und das Alte Testament integraler Bestandteil der christlichen Bibel bleibt. Folgende Modelle sind zu diskutieren:

■ Überlieferungsgeschichtliche (und heilsgeschichtliche) Zusammenschau der Testamente. Sie ist das traditionelle Modell, praktiziert mit Hilfe verschiedener Methoden mit dem Ziel christologischer Auslegung. Dieses Modell wird erst dann einer christlichen Hermeneutik und dem Dialog mit Juden förderlich sein, wenn es den überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang des „Alten Testaments“ mit dem nachbiblischen rabbinischen Schrifttum ebenso achtet wie den mit dem Neuen Testament.

■ Anerkennung des gleichberechtigten Nebeneinanders von jüdischer und christlicher Rezeption im Sinne des doppelten Ausgangs des Alten Testaments unter Beachtung der „Mehrdimensionalität menschlicher Rede“ (Päpstliche Bibelkommission, 2001, 7f) oder der „Offenheit für unterschiedliche Verstehensmöglichkeiten“ (Leuenberg, 2001, 56f).

■ Hören auf die Eigenaussagen des Alten Testaments, soweit sie historisch-kritische Auslegung vernehmbar macht. Es ermöglicht, israelzentrierte Aussagen von solchen zu unterscheiden, die allen Menschen gelten (→ Urgeschichte, → Weisheit), und solchen, die ausdrücklich die Völker einbeziehen (Völkersprüche, Heilsaussagen für die Völker im Sinne ihrer Teilhabe Ps 100,3; Jes 2,2-5; Jes 11,10; Jes 43,10; Jes 55,4-5; Ez 36,23; Zef 3,9; Sach 14,16). Christliche Rezeption belässt die israelzentrierten Aussagen der jüdischen Seite. Sofern sich darunter solche finden, die traditionell Christen auf sich bezogen haben (→ Psalmen, → prophetische Heilsworte), so ist ihre Teilhabe (anstatt Verdrängung) christologisch zu begründen: Vermittlung durch den Juden Jesus, den Messias Israels, d.h. den Repräsentanten und Mittler des Gottes Israels und seines Volkes für die Christen aus den Völkern.

Nach dem Vorbild und Maßstab des Neuen Testaments bildet das Alte Testament die grundlegende Schrift (Luther) und den Verstehens- und Interpretationsschlüssel des ganzen Neuen Testaments – unter den Bedingungen und Möglichkeiten historisch-kritischer Auslegung. Das Neue Testament lässt sich als aktuelle, zeitbedingte Ausrichtung des Evangeliums ( 1Kor 15,3-5) in der Sprache des Alten Testaments verstehen. Judenfeindliche Aussagen, die auf typologischer oder allegorischer Auslegung beruhen (2Kor 3,12-15; Gal 4,21ff), lassen sich als zeitbedingte einordnen und ihre Gültigkeit auf ihre Zeit beschränken. Umgekehrt verdienen die Heilsaussagen für das (über-)lebende Israel (Röm 3,1-4; Röm 11,25-27) umso mehr Beachtung, als sie auf einer wörtlichen Auslegung der alttestamentlichen Bezugstexte basieren (Röm 15,8-12), damit den Anforderungen moderner Bibelwissenschaft genügen und jüdischer Auslegung nahe stehen.

Unter dem Aspekt der Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments und seines Verhältnisses zu den vorgegebenen „Schriften“ (Bibel Israels) lässt sich das Neue Testament mit der mündlichen Tora vom Sinai nach jüdischem Verständnis vergleichen.

Die verbreitete Rede von einer „gemeinsamen“ Schrift ist zu differenzieren: Gemeinsam sind Bestand und Wortlaut, sofern christlichem Gebrauch der hebräische Text zugrunde liegt. Allerdings ist der Einfluss der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der → Septuaginta (LXX), vor allem für das Neue Testament zu beachten; er erklärt die Erweiterung des Alten Testaments in der römisch-katholischen Tradition und die eigene Anordnung der Bücher, d.h. die Platzierung der Propheten ans Ende als Brücke zum Neuen Testament (→ Kanon). Die jüdische Bibel hat ihr Schwergewicht am Anfang (die Tora), das christliche Alte Testament am Ende (die Propheten).

Das neue Schriftverständnis wird sich vor allem auf dem Feld der Christologie und Ekklesiologie bewähren, d.h. an den Themen, an denen die Kluft zwischen Christen und Juden besonders deutlich abzulesen war und ist (?). Die christologischen Hoheitstitel stammen allesamt aus dem Alten Testament; sie benennen Funktionen und Aufgaben, vornehmlich solche der Repräsentanz und Vermittlung (Messias Israels). Eine Christologie der Repräsentanz und Mittlerschaft ermöglicht eine neue Ekklesiologie mit Hilfe der biblischen Rede von mehreren „Bünden“: Der Noah- sowie der Abraham- (und David-)Bund (Gen 9,9ff; Gen 12,3; Jes 55,3-5) umfassen alle Völker, auch die völkerchristliche Kirche; unter ihrer Reichweite und Geltung bleibt der torabezogene Sinaibund Israel vorbehalten; daneben beruht der Abendmahlsbund (Mt 26,26-29 par; 1Kor 11,23-25) auf der Teilhabe der Völkerchristen an dem Israel verheißenen „neuen Bund“ (Jer 31,31-34), vermittelt durch den Juden Jesus, den „Messias Israels“; ihre Teilhabe setzt den Glauben an dessen fortgeltende Verheißung und die Erwartung seiner endgültigen Erfüllung für Israel voraus. Im Sinn der Teilhabe lässt sich auch die neutestamentliche Formel „in Christus“ füllen.

4. Praktisch-theologisch

Die Erschliessung alttestamentlicher Texte in Predigt und Unterricht wird am ehesten dem jüdisch-christlichen Dialog dienen, wenn sie vor jüdischen Ohren verantwortet wird, wenn sie die Möglichkeiten historisch kritischer Auslegung ausschöpft und wenn sie den zeitgeschichtlichen Kontext der Texte (nach der Schoah) reflektiert: Sie wird die Eigenaussagen und die Entstehungsgeschichte alttestamentlicher Texte ebenso wie jüdische Rezeption respektieren, und zwar umso eher, wenn sie die Nähe zwischen ihnen erkennt. Je nach Text und seiner Adressierung wird die christliche Erarbeitung ihn entweder ganz dem jüdischen Dialogpartner belassen und als Zeugnis seines Gottes hören, oder sie wird den Text auch als Anrede an die christliche Gemeinde aufnehmen, im Sinne der durch den Juden Jesus von Nazareth, den Messias Israels, eröffneten Teilhabe.

Auf Seiten des Neuen Testaments stellt sich nach den Erfahrungen der Kirchen- und Theologiegeschichte und ihrer Verstrickung mit der systematischen Judenvernichtung während des Dritten Reiches vorrangig die Aufgabe, zu einem kritischen Umgang mit den traditionell judenfeindlich wahrgenommenen und benutzten Texten anzuleiten. Dazu verhilft zuerst die grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Ereignissen, von denen die Texte handeln, den geschichtlich politischen Bedingungen, unter denen sie aufgezeichnet und unter denen sie als Bestandteil der betreffenden Schriften kanonisiert, und damit für Lehre und Leben der Kirche zur verbindlichen Richtschnur erhoben worden sind. Während die Texte weithin noch im Rahmen des vielfältigen Judentums entstanden und erstmals verschriftet worden sind, sie also noch innerjüdische Auseinandersetzungen widerspiegeln, ist ihre Kanonisierung Werk der völkerchristlichen Kirche. In dieser Perspektive erscheinen Konflikte zwischen Jesus und anderen Juden als solche zwischen Christen und Juden. Solche Unterscheidung legt sich vor allem bei den Erzähltexten (Evangelien und Apostelgeschichte) nahe; für die übrigen Schriften gilt sie für ihren ursprünglichen Anlass, ihre ursprüngliche, meist situationsbedingte und entsprechend limitierte Funktion einerseits und ihre Aufnahme in den Kanon andererseits.

Zur Analyse einzelner Texte verhelfen Beobachtungen zu alttestamentlichen Anspielungen oder Zitaten, zur sprachlichen Form, d.h. zu allen Faktoren, die an ihrer Prägung beteiligt gewesen sein mögen, und zu sprachlichen Eigentümlichkeiten: Letztere betreffen etwa die pauschalisierende Rede von „ die Juden“ oder einzelnen jüdischen Parteien. Judenfeindliche Wahrnehmung lässt sich vermeiden, wenn die Rede von den beteiligten Juden auf die von der erzählten Situation erforderte Zahl reduziert wird.

Sofern kanonkritische Erwägungen darauf zielen, judenfeindliche Wahrnehmung und Wirkung zu vermeiden, werden sie auf Seiten des Alten und des Neuen Testaments unterschiedlich praktiziert: Auf Seiten beider Testamente hat lange Zeit die Tendenz vorgeherrscht, sich in der theologischen Rezeption an den mutmaßlichen ursprünglichen Fassungen auszurichten. Bei alttestamentlichen Texten hat das insofern zu judenfeindlicher Rezeption geführt, als ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Kanon missachtet wurde. Bei neutestamentlichen Texten ermöglicht das genannte Verfahren umgekehrt insofern ein angemessenes Verstehen scheinbar judenfeindlicher Aussagen, als die sich darin widerspiegelnden Konflikte noch als innerjüdische anzusehen sind. Will die Textarbeit judenfeindliche Wirkungen vermeiden, wird sie in der Kanonkritik in beiden Testamenten unterschiedlich verfahren.

5. Schluss

Insgesamt wird das jüdisch-christliche Gespräch am ehesten gelingen, wenn die eingangs genannte Ungleichheit (Asymmetrie) der Partner bedacht wird. Sie schließt die unterschiedliche Relevanz von ethischen, gesellschaftlichen und politischen Gegenwartsfragen und theologischen Streitfragen für jüdische und christliche Partner ein. Jüdische Partner sind vorrangig an jenen interessiert; sie werden sich auch auf die die christlichen Partner bewegenden theologischen Themen einlassen, wenn diese ihnen deren ethische, gesellschaftliche und politische Relevanz erschließen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Judentum und Christentum)
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001 (Jüdisch-christlicher Dialog)

2. Quellensammlung

  • Rendtorff, R. / Henrix, H.H. (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn / München 1988
  • Henrix, H.H. / Kraus, W. (Hgg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986-2000, Paderborn / Gütersloh 2001

3. Themenheft

  • Juden und Christen. Geschichte einer Trennung, Welt und Umwelt der Bibel 38 (4 / 2005)

4. Weitere Literatur

  • Bornkamm, H., Luther und das Alte Testament, Tübingen 1948
  • Leuenberger Kirchengemeinschaft, Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden (Leuenberger Texte 6), Frankfurt am Main 2001
  • Kriener, K. / Schmidt, J.M. (Hgg.), Gottes Treue – Hoffnung von Christen und Juden. Die Auseinandersetzung um die Ergänzung des Grundartikels der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland, Neukirchen-Vluyn 1998
  • Kriener, K. / Schmidt, J.M. (Hgg.), „ … um Seines Namens willen“. Christen und Juden vor dem Einen Gott Israels. 25 Jahre Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“, Neukirchen-Vluyn 2005
  • Osten-Sacken, P. von der, Martin Luther und die Juden, Stuttgart 2002
  • Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152), 2001
  • Schrage, W., „Israel nach dem Fleisch“ (1Kor 10,18), in: H.-G. Geyer u.a. (Hg.), „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ (FS H.-J. Kraus), 1983, 143-151

5. Internet

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