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Jeremias, Joachim

(erstellt: Juni 2010)

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1. Leben

Der protestantische Neutestamentler Joachim Jeremias wurde am 20. September 1900 in Dresden als Kind einer vom lutherischen Pietismus geprägten Theologenfamilie geboren. Da sein Vater das Amt des Probstes an der Evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem bekleidete, verbrachte Jeremias einen Teil seiner Kindheit in Jerusalem (1910-1915). Schon damals wurde sein Interesse an der Umwelt Jesu geweckt, das sich in seinen wissenschaftlichen Forschungen in vielfältiger Weise widerspiegelt. Nach dem Studium der Theologie und Orientalistik in Tübingen und Leipzig, das Jeremias 1922 / 23 als Dr. phil. und Dr. theol. abschloss, trat er als 22-Jähriger eine Repetentenstelle am Theologischen Seminar der Brüdergemeinde in Herrnhut an, eine Dozentur am Herder-Institut in Riga schloss sich 1924 an. Im Jahre 1925 folgte die Habilitation an der Universität Leipzig im Fach Neues Testament. 1928 wurde Jeremias außerordentlicher Professor und Direktor am Institutum Judaicum in Berlin, 1929 ordentlicher Professor in Greifswald.

Seit 1933 war Jeremias, der nie einer NS-Organisation beitrat, Mitglied der Bekennenden Kirche und sprach sich u.a. gegen die Einführung des sog. Arierparagraphen in der Kirche aus. 1935 folgte Jeremias einem Ruf an die Georg-August-Universität in Göttingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1968 in vielfältiger Weise wirkte; nicht zuletzt wegen seiner wissenschaftlichen Kompetenz und moralischen Integrität spielte er eine wesentliche Rolle beim Neubeginn der Universität nach 1945. Jeremias war seit 1948 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und seit 1956 Vorsitzender der Septuaginta-Kommission. 1950 gründete er an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen das „Institut für spätjüdische Religionsgeschichte“, das bis heute unter dem Namen „Institut für Judaistik“ unter der Leitung von Prof. Dr. Hans-Jürgen Becker fortbesteht. 1976 siedelte Jeremias nach Tübingen über, wo er bis zum seinem Tod am 6. September 1979 lebte und wirkte. Jeremias war Mitglied in mehreren Akademien und Abt von Bursfelde (1968-1971).

2. Werk

Im Ringen um die Standortbestimmung urchristlicher Theologie zwischen Judentum und Hellenismus sowie in der Auseinandersetzung mit der die damalige Diskussion bestimmenden Kerygmatheologie Rudolf Bultmanns nahm Joachim Jeremias eine klare Position ein. Anders als für die Kerygmatheologen seiner Zeit stellte für Jeremias die Verkündigung Jesu nicht allein die Voraussetzung urchristlicher Theologie dar, sondern war deren Zentrum schlechthin. Somit galt sein zentrales Interesse der Rekonstruktion der Verkündigung Jesu, um „einen so weit wie irgend möglich gesicherten Zugang zur ipsissima vox Jesu zu bahnen. Niemand als der Menschensohn selbst und Sein Wort kann unserer Verkündigung Vollmacht geben (Gleichnisse Jesu, Vorwort zur 6. Auflage).“ Das Besondere an Jesu Leben und Verkündigung kann Jeremias zufolge nur aus den kultur- und religionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des zeitgenössischen Judentums heraus verstanden werden. Von daher befasste sich Jeremias in seinen ersten Arbeiten mit der Palästinakunde und Umwelt Jesu, wie z.B. seine Studien zu „Jerusalem zur Zeit Jesu“ (1923-1937) eindrücklich demonstrieren. Untersuchungen zu Qumran, zur Palästinakunde und rabbinischen Literatur, zur Archäologie und historischen Geographie, zur Philologie der aramäischen Sprache und Textkritik bildeten für Jeremias stets den Hintergrund, aber auch die Kontrastfolie für die Rekonstruktion der Verkündigung Jesu, die er von vielen Seiten beleuchtete.

Bereits in seiner Habilitationsvorlesung hat sich Jeremias mit dem „Gebetsleben Jesu“ (ZNW 25, 1926, 123-140) befasst. Seine Studien zum → Vaterunser, dem „Urgestein der Überlieferung Jesu“ (passim), setzten diese Forschungen fort. Besonders Jeremias’ Deutung der Anrede „Abba“, die er als ursprünglich aramäischen Vokativ verstand, ist hier zu nennen: Sie stellt für Jeremias das „Herzstück des Gottesglaubens Jesu“ (Abba, 66) dar und fungiert so als Schlüssel für Jesu einzigartige Gottesbeziehung. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt in Jeremias’ Arbeit bildeten seine Darlegungen über „die Abendmahlsworte Jesu“ (1935; 41967), in denen er das letzte Abendmahl auf dem Hintergrund des jüdischen Passahmahls deutete. Der Sühnetod Jesu blieb Gegenstand zahlreicher weiterer Untersuchungen (z.B. Art. pais theou, ThWNT 5, 1954, 676-713). Auch mit dem Taufsakrament hat sich Jeremias auseinandergesetzt. Ausgehend vom oikos-Gedanken stand für Jeremias fest, dass bereits im Urchristentum die Kindertaufe vollzogen wurde – eine Position, die auch Kritik hervorrief (Aland).

Bedeutend wurde neben Jeremias’ Interpretation der Bergpredigt (1959; 71970) vor allem seine Abhandlung über die „Gleichnisse Jesu (1947; 101984), die ihn zu einem exponierten Vertreter der historisierend-kontextualisierenden Gleichnisdeutung machte. Durch die Ablösung nachösterlich-allegorisierender Schichten, die strengen methodischen Gesichtspunkten zu folgen hatte, suchte Jeremias nach den „ipsissima verba“ Jesu. In Anknüpfung an die Gleichnisdeutung von C.H. Dodd („realized eschatology“) vertrat Jeremias das Konzept einer „sich realisierenden Eschatologie“: Die Gleichnisse zwingen den Hörer zur Stellungnahme. Dem Ruf Jesu entspricht die Antwort der Gemeinde. Jeremias’ Interesse an der Rekonstruktion der Jesusüberlieferung ging dabei über die Grenzen des Neuen Testaments hinaus. In seiner Studie über „Unbekannte Jesusworte“ (1948; 31963) und in seinen Beiträgen in der von Edgar Hennecke und Wilhelm Schneemelcher begründeten neutestamentlichen Apokryphen-Sammlung (Bd. 1 31959-61990) legte Jeremias jene Agrapha aus, die den Synoptikern „an die Seite gestellt werden können und deren Echtheit ernsthaft erwogen werden kann“. (Jesusworte 47) Allerdings blieben für Jeremias die kanonischen Evangelien die verlässlichsten Quellen, die Agrapha sind „wichtige und wertvolle Ergänzungen – mehr nicht.“ (ebd. 112) Die Rekonstruktion der Verkündigung Jesu bildete auch das Zentrum von Jeremias’ ersten und einzigen Band zur neutestamentlichen Theologie (1970; 41988); weitere Teile seiner Theologie blieben unvollendet. Jeremias letzte monographische Abhandlung, die 1980 posthum herausgegeben wurde, war die Vorarbeit zu einem geplanten Kommentar zum Lukasevangelium, wobei Jeremias im Anschluss an B.H. Streeter von der Protolukastheorie ausging. Um die Sprache des Lukasevangeliums offen zu legen, trennte er akribisch Redaktion und Tradition im Nicht-Markusstoff des Lukasevangeliums.

Trotz seines eindeutigen Forschungsschwerpunkts auf der neutestamentlichen Zeitgeschichte und der Synoptikerexegese, die außer in seinen großen Arbeiten auch in zahlreichen exegetischen Einzelstudien ihren Niederschlag fand, hat Jeremias zu fast allen Bereichen der neutestamentlichen Wissenschaft etwas beigetragen. Die Breite seiner Forschungen umfasst unter anderem Studien zu dem Prolog des Johannesevangeliums, zu den Pastoralbriefen – hier hielt Jeremias gegen den deutschsprachigen Forschungstrend an einer indirekten paulinischen Verfasserschaft (Sekretärshypothese) fest –, und zu der Theologie des Apostels Paulus. Den „Schlüssel zur Theologie des Apostels Paulus“ (1971) fand Jeremias „weder [in] Tarsus noch [in] Jerusalem noch [in] Antiochia“, sondern in Damaskus (Schlüssel 19f): Die paulinische Lehre von der Rechtfertigung sei letztlich nichts anderes „als die allein sachgerechte Wiedergabe der Verkündigung Jesu von Gottes Erbarmen mit den Sündern.“ (Lohse, Ausleger 157)

3. Wirkung

Joachim Jeremias gilt als einer der herausragendsten → historisch-kritischen Exegeten des 20. Jahrhunderts. Viele seiner Werke, z.B. „Jerusalem zur Zeit Jesu“, „Die Gleichnisse Jesu“, „Die Abendmahlsworte Jesu“, „Neutestamentliche Theologie. Teil 1. Die Verkündigung Jesu“, wurden in mehrere europäische und außereuropäische Sprachen übersetzt. Für seine Forschungen erhielt Jeremias zahlreiche nationale und internationale Ehren (Ehrendoktorwürde u.a. der Universitäten St. Andrews / Schottland [1955], Uppsala [1957] und Oxford [1963]; Burkitt-Medaille der Britischen Akademie London für Biblische Studien). Die Bedeutung seiner Arbeiten sprengt dabei nicht nur nationale, sondern auch konfessionelle Grenzen. Die ökumenische Breitenwirkung von Jeremias’ Forschung dauert bis heute an. So nannte Klaus Berger – freilich mit polemischer Zielrichtung – das Jesusbuch von Benedikt XVI. einen „Joachim Jeremias für Katholiken“ (die Tagespost 14.04.2007). Auch Jeremias’ Deutung der Wandlungsworte, das „für viele (vergossen)“ als Semitismus und damit inklusiv („für alle“) zu verstehen (Art. polloi, ThWNT 6, 1959, 536-545:543-545), fand Eingang in die katholische Liturgiereform und in das deutsche Messbuch – eine Entwicklung, die nun allerdings in der katholischen Kirche umstritten ist (Striet).

Vor allem aber für die Judaistik und Jesus-Forschung hat Jeremias Erhebliches geleistet, „auch wenn die kontrastiven Tendenzen in seiner Darstellung des Verhältnisses Jesus – Judentum heute problematisch erscheinen“ (RGG 424) und z.T. erbittert kritisiert wurden (E.P. Sanders). Von dieser Problematik zeugt z.B. Jeremias’ Deutung des Vaterunser als „Urgestein der Überlieferung Jesu“ (passim) (Philonenko, Vaterunser 35-43; Müller). Auch Jeremias’ durchgehend positive Würdigung des von Hermann Strack und Paul Billerbeck zusammengestellten „Kommentars zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“, dessen Registerbände Jeremias mit herausgab (mit Adolph, K., Rabbinischer Index. Verzeichnis der Schriftgelehrten. Geographisches Register, München 1963), wird heute kaum noch geteilt (Schaller, Wege). Die Entdeckung und Auslegung neuer Quellen sowie die Etablierung neuer Bewertungsparadigmen führen die judaistische und die Jesusforschung weiter und fußen doch in vielerlei Hinsicht auf dem, was Jeremias und andere Forscher seiner Zeit als Grundstein gelegt haben.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001, Bd. 5, 1996, 775-776
  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005, Bd. 4, 2001, 424
  • Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Internet: http://www.bautz.de/bbkl/), Bd. 3, 1992, 51-53
  • Norsk Biografisk Leksikon (im Internet: http://www.snl.no/.hjelp/Norsk_biografisk_leksikon ), Vol. 5, 2002

2. Wichtige Werke

  • Jerusalem zur Zeit Jesu. Kulturgeschichtliche Untersuchungen zum neutestamentlichen Zeitgeschehen, Leipzig/Göttingen 1923-1937; 31962
  • Golgotha, Leipzig 1926
  • Die Briefe an Timotheus und Titus, NTD 9, Göttingen 1934, 121985
  • Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 1935; 41967
  • Die Gleichnisse Jesu, Zürich/Göttingen 1947; 101984
  • Unbekannte Jesusworte, Zürich/Gütersloh 1948; 31963
  • Die Kindertaufe in den ersten vier Jahrhunderten, Göttingen 1958
  • Die Bergpredigt, Stuttgart 1959, 71970
  • Abba. Studien zur Neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966
  • Neutestamentliche Theologie Bd. 1. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1970; 41988
  • Der Schlüssel zur Theologie des Apostels Paulus, CwH 115, Stuttgart 1971
  • Die Sprache des Lukasevangeliums. Redaktion und Tradition im Nicht-Markusstoff des dritten Evangeliums, KEK Sonderband, Göttingen 1980

3. Sekundärliteratur, Festschriften und Ähnliches

  • Aland, K., 1961, Die Säuglingstaufe im Neuen Testament und in der alten Kirche: eine Antwort auf Joachim Jeremias, Münster (dazu: Jeremias, J., 1962, Nochmals: die Anfänge der Kindertaufe. Eine Replik auf Kurt Alands Schrift Die Säuglingstaufe im Neuen Testament und in der alten Kirche, München)
  • Bakhuizen van den Brink, J.N., 1979, Joachim Jeremias, Jaarboek van de Koninklije Nederlandse Akademie van Wetenschappen, 1-5
  • Black, M., 1963, Theologians of Our Time. II. Joachim Jeremias, ET 74, 115-119
  • Blass, Fr. / Debrunner, A. / Rehkopf, Fr., 141975, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Joachim Jeremias zum 75. Geburtstag, Göttingen
  • Braus, R.J., 1970, Jesus as Founder of the Church according to J.J., Rom
  • Colpe, C., 1980, Joachim Jeremias zum Gedächtnis, ZDPV 96, 88f
  • Corsani, B., 1980, Il regno di Dio nel pensiero di J.J., Protestantesimo 35, 13-31
  • Eltester, W. (Hg.), 1960, Judentum, Urchristentum, Kirche. Festschrift für Joachim Jeremias, Berlin (21964; Bibliographie)
  • Hengel, M., 1979, Joachim Jeremias, ZDPV, 95, 89-92 (wiederabgedruckt in: ders., Theologische, historische und biographische Skizzen. Kleine Schriften VII, erscheint 2010, WUNT, Tübingen)
  • Lohse, E. / Burchard, Chr. /Schaller, B. (Hgg.), 1970, Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde. Festschrift für Joachim Jeremias, Göttingen (Bibliographie)
  • Lohse, E., 1979, Die Vollmacht des Menschensohnes. Nachruf auf Joachim Jeremias, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 49-54 (wiederabgedruckt in: ders., Die Vielfalt des Neuen Testaments. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments Bd. 2., Göttingen 1982, 215-220)
  • Lohse, E., 1979, Joachim Jeremias in memoriam, ZNW 70, 139-140
  • Lohse, E., 2001, Joachim Jeremias, in: Smend, R. (Hg.), Göttinger Gelehrte. Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751-2001, Göttingen, 542
  • Lohse, E., 2002, Jeremias als Ausleger des Römerbriefes, ZNW 93, 279-287 (wiederabgedruckt in: ders. Rechenschaft vom Evangelium. Exegetische Studien zum Römerbrief, Berlin 2007, 147-157)
  • Meyer, B.F., 1991, A Caricature of Joachim Jeremias and His Scholary Work, JBL 110, 451-462
  • Müller, K.-H., 2003, Das Vater-Unser als jüdisches Gebet, in: Gerhards, A. / Doeker, A. / Ebenbauer, P. (Hgg.), Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum, SJChr 1, Paderborn u.a., 159-204
  • Nanakos, S., 1980, Joachim Jeremias, Gregorios Palamas 63, 53-56
  • Philonenko, M., 2002, Das Vaterunser, Tübingen, 35-43.
  • Sanders, E.P., 1987, Jesus and the Kingdom: The Restoration of Israel and the New People of God, in: Sanders, E.P. (Hg.), Jesus, the Gospels, and the Church. Essays in Honor of William R. Farmer, Macon [GA], 225-239
  • Sanders, E.P., 1991, Defending the Indefensible, JBL 110, 463-477
  • Schaller, B., 2008, Paul Billerbecks Kommentar zum „Neuen Testament aus Talmud und Midrasch”. Wege und Abwege, Leistung und Fehlleistung christlicher Judaistik, in: Doering, L. / Waubke, H.-G. / Wilk, F. (Hgg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen, FRLANT 226, Göttingen, 61-84
  • Smend, R., 1980, Joachim Jeremias zum Gedenken, ZNW 71, 1-2
  • Magnus Striet (Hg.), 2007, Gestorben für wen? Zur Diskussion um das pro multis, Freiburg im Breisgau

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