Jenseitsreise (Himmelfahrt, Höllenfahrt)
(erstellt: Oktober 2019)
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1. Zum Begriff
Jenseitsreise ist ein Oberbegriff, der sowohl im ersten Glied („Jenseits“) als auch im zweiten („Reise“) mehrere Unterkategorien umfasst (Colpe, 491-494). Was den Begriff des „Jenseits“ betrifft, ist auf das biblische → Weltbild
In ähnlicher Weise umgreift das zweite Glied im Begriff der Jenseitsreise eine Mehrzahl von Unterkategorien, namentlich (Himmel- / Höllen-)Reise im engeren Sinn sowie → Entrückung
Betrifft die Differenzierung zwischen „Reise“ und „Entrückung“ die Art der Versetzung ins Jenseits, so lassen sich die mit dem Begriff der Jenseitsreise bezeichneten Erlebnisschilderungen und Motive auch hinsichtlich des Zielortes der räumlichen Bewegung unterscheiden. Demnach lässt sich der Begriff der „Himmelfahrt“ als Sammelbezeichnung für die Jenseitsreisen in den göttlichen Bereich, „Höllenfahrt“ dagegen für jene in die Unterwelt verstehen.
Schließlich können sowohl die Himmel- als auch die Höllenfahrtsschilderungen hinsichtlich ihrer Funktion unterschieden werden (Tabor, 91-94). So erfolgen Himmelfahrten entweder als postmortales endgültiges Eingehen in die himmlische Sphäre (Himmelfahrt im engeren Sinn) oder als vorübergehende Reise oder Entrückung in der Lebenszeit des Protagonisten, wobei hierbei nochmals zu differenzieren ist zwischen Schilderungen, bei denen die Offenbarung himmlischer Wirklichkeiten oder göttlicher Geheimnisse im Vordergrund steht, und solchen, die vorranging auf die einstige ewige Herrlichkeit des Protagonisten in der Himmelsphäre vorausweisen. In ähnlicher Weise können Höllenfahrten vornehmlich der Rettung von ins Totenreich Eingegangenen oder aber der Offenbarung des Schicksal der Verstorbenen – und im Besonderen der zu erwartenden postmortalen Strafen für bestimmte Vergehen – dienen.
2. Biblischer Befund
In den biblischen Schriften ist im Allgemeinen eine Zurückhaltung festzustellen bezüglich der Schilderung von Jenseitsreisen. Der Befund beschränkt sich sowohl im AT als auch im NT zumeist auf einzelne, oft kurze Passagen. Es scheint, dass – zumal über weite Teile des AT – die Grenze zwischen dem Lebensbereich des Menschen und den jenseitigen Sphären (Himmel und שְׁאוֹל šə’ôl) klar gezogen ist, wie etwa in der rhetorischen Frage in Spr 30,4a
2.1. Altes Testament
Im Hinblick auf Jenseitsreisen in die göttliche Sphäre (Himmelfahrtsschilderungen) umfasst der alttestamentliche Textbefund im Wesentlichen zwei narrative Passagen: die kurze Notiz zu Henoch (Gen 5,21-24
Auch bei der Erzählung von der Entrückung Elijas (2Kön 2,1-18
Darüber hinaus klingt in zwei Stellen im Psalter eine Aufnahme in die himmlische Sphäre nach dem Tod an. Beide Male findet wiederum das hebräische Verb לקח (lqḥ „wegnehmen“) Verwendung:
„Doch Gott wird mich auslösen aus der Unterwelt, ja er nimmt mich auf [/weg]“ (Ps 49,16
„Du leitest mich nach deinem Ratschluss, danach nimmst du mich auf [/weg] in Herrlichkeit“ (Ps 73,24
Die beiden Psalmverse geben der Gewissheit Ausdruck, dass sich Gottes Verfügungsgewalt auch über die Unterwelt erstreckt, und äußern davon ausgehend die Hoffnung, dass Gott die Frommen nicht in der Gottferne der Unterwelt belässt. Die knappen Formulierungen vermeiden aber jegliche nähere Beschreibung, wie sich diese „Wegnahme“ aus dem Totenreich vollzieht. Immerhin deutet sich aber im Motiv der „Herrlichkeit“ (Ps 73,24b
Schließlich sind alttestamentliche Passagen zu erwähnen, die von einer Schau der göttlichen Thronherrlichkeit berichten (Ex 24,9-11
Belege für Jenseitsreisen in die Unterwelt fehlen im AT gänzlich. In den erwähnten beiden Psalmstellen (Ps 49,16
2.2. Neues Testament
Im Bereich der ntl. Schriften stehen die beiden Berichte von der → Himmelfahrt Jesu Christi
Während die Himmelfahrt Jesu als postmortale Entrückung zu idenfitizieren ist, berichtet Paulus in 2Kor 12,2-4
Schließlich trägt auch die umfangreiche Visionsschilderung in der Johannes-Apokalypse Züge einer Himmelsreise, da der Visionär davon berichtet, wie er, vom Geist ergriffen (Apk 1,10
Berichte von Höllenfahrten bleiben im NT aus. Die ab dem frühen 2. Jh. greifbare Vorstellung von der → Höllenfahrt Christi
3. Alter Orient
Jenseitsreisen (Himmel- und Höllenfahrten) sind im Alten Orient in verschiedenen Gestaltungsformen literarisch breit bezeugt. Dabei sind oft motivische Übereinstimmungen festzustellen, was literarischen Abhängigkeiten vermuten lässt, die aber nur selten eindeutig zu belegen sind.
3.1. Mesopotamien
Aus der Vielzahl von Erzählungen, die eine Jenseitsreise zum Thema haben oder mit beinhalten, ist zunächst der sumerische Mythos „Innanas Gang zur Unterwelt“ (TUAT III/1, 458-495) hervorzuheben, der auch in akkadischer Fassung (als Höllenfahrt der Ištar, TUAT III/1, 760-766) vorliegt. Innana, Göttin des Himmels, trachtet danach, Ereškigal, der Göttin der Unterwelt, ihr Herrschaftsgebiet zu entreißen. An den sieben Toren der Unterwelt ihrer Machtsymbole beraubt, bleibt sie aber in der Unterwelt gefangen und kann nur durch eine List Enkis befreit werden – allerdings erst, nachdem sie einen Ersatz für sich in der Unterwelt gestellt hat, ihren Gatten Dumuzi. Der aus dem syrischen Mitannireich stammende Mythos „Nergal und Ereškigal“ dagegen erzählt vom Gang des Gottes Nergal in die Unterwelt, der dort die Göttin Ereškigal überwindet, schließlich aber bei ihr in der Unterwelt bleibt.
Auf der in sumerischer Sprache erhaltenen Tafel XII des Gilgamesch-Epos findet sich die Erzählung „Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt“ (TUAT III/1, 739-744). Sie berichtet vom Abstieg Enkidus in die Unterwelt, von wo er Gilgameschs Trommel zurückholen will, aber nur durch die Hilfe Enkis wieder heraufgeholt werden kann. Zurück bei seinem Freund Gilgamesch überhäuft ihn dieser mit Fragen zur Unterwelt, die er der Reihe nach beantwortet.
Unter den Schilderungen von Himmelsreisen sind die nur fragmentarisch erhaltenen Mythen „Etanas Himmelsflug“ (TUAT III/2, 34-51) und „Adapa und der Südwind“ (TUAT III/2, 51-55) zu nennen. Der sumerische König Etana will auf den Flügeln eines Adlers zum Himmel fliegen, um dort ein Heilmittel für seine kinderlose Frau zu beschaffen, stürzt aber ab. Adapa, Sohn und Diener des Gottes Ea, wird wegen eines Vergehens vor den Himmelsgott Anu zitiert, weist dort aber das ihm gereichte Brot und Wasser des Lebens zurück und muss darauf den Himmel wieder verlassen und zur Erde zurückkehren.
3.2. Ägypten
Elemente von Jenseitsreisen klingen im Mythos des Sonnengottes Re an, der jede Nacht die Unterwelt durchquert und beim Wiederaufstieg mit Hilfe von Seth die Schlangengottheit Apophi überwinden muss, sowie in jenem von Isis und Osiris, da Letzerer, nachdem er von seinem Bruder Seth erschlagen worden ist, von seiner Gattin Isis wieder zum Leben erweckt und schließlich zum Herrscher der Unterwelt wird.
Die Schilderung einer eigentlichen Jenseitsreise liegt in der fragmentarisch erhaltenen Erzählung von „Mi’jare’ in der Unterwelt“ (TUAT III/2, 973-990) vor, die etwa auf des Ende des 6. v.Chr. zu datieren ist. Der Schreiber / Priester Mi’jare’ soll in die Unterwelt hinabsteigen, um dort für seinen Herrn, den (fiktionalen) Pharao Sisobek, beim Großen Lebendigen Gott Fürsprache einzulegen. Nach Erfüllung des Auftrags wird ihm aber die Rückkehr ins Diesseits verwehrt. Die (von Herodot überlieferte) Anekdote von „Rhampsinit’s Abstieg in den Hades“ (historiae 2,122) dagegen berichtet vom Abstieg des Pharao Rhampsinitos (Ramses III.?) in die Unterwelt, wo er beim Würfelspiel mit Demeter deren goldenes Kopftuch gewinnt, das er ins Diesseits zurückbringt. Die volkstümliche Erzählung von Setne und seinem Sohn Si-Osire schließlich, überliefert in einer Fassung aus dem 1.Jh. n.Chr., handelt von einem Rundgang der beiden durch die Unterwelt, wo der Sohn seinem Vater unter anderem die Orte der Belohnung für Arme und der Strafe für Reiche zeigt; es lassen sich Parallelen zur Parabel von dem Reichen und dem armen Lazarus (Lk 16,19-31
Was Himmelfahrtsschilderungen betrifft, finden sich in den Pyramidentexten des Alten Reiches Berichte über den postmortalen Aufstieg des bestatteten Königs in die himmlische Sphäre, wobei die Himmelfahrt oft mit einem Vogelflug verglichen oder als ein Emporsteigen des verstorbenen Königs auf einer Himmelsleiter beschrieben wird. Eine Inschrift am Amuntempel in Karnak berichtet dagegen von einer zeitweiligen Entrückung von Thutmosis III. in den Himmel, wo er von der Gottheit zum Pharao eingesetzt wird.
4. Hellenistisch-römische Welt
Höllenfahrten kommen einerseits in Göttermythen vor, etwa im homerischen Hymnus an Demeter, bei dem Persephone von → Hades
Züge einer Himmelfahrt trägt dagegen das Proömium des Philosophen Parmenides von Elea, der Offenbarungen schildet, die ihm durch eine Göttin jenseits des Tores, das zum Tageslicht führt, vermittelt werden. Eher satirischen Charakter hat Lukians Werk Ikaromenippos, das von einer Reise in den Himmel und durch die Götterwelt erzählt. Einflussreich in der römischen Antike und darüber hinaus war der von Cicero verfasste Bericht vom Traum des Scipio Africanus (Cic.rep. 6,9-29), bei dem seine vom Leib getrennte Seele bis zur neunten und obersten, göttlichen Sphäre gelangt
5. Apokalyptik
Die jüdische ebenso wie die christliche apokalyptische Literatur, die zu jener weitgehend in Kontinuität steht, zeigt ein starkes Interesse an der Frage nach dem Geschick der Verstorbenen. In der Schilderung von Jenseitsreisen, bei der oft biblische Figuren (Henoch, Elija, Mose u.a.) als Protagonisten fungieren, nimmt daher neben der Schilderung der himmlischen Geografie die Darstellung der postmortalen Straforte eine gewichtige Funktion ein.
Eine sehr bedeutende Rolle hinsichtlich der späteren Entwicklung kommt dem ersten Teil des Henochbuchs, dem „Buch der Wächter“ (äthHen 1-36), zu (→ Henoch
Die nur in einem lateinischen Fragment erhaltene Elija-Apokalypse, die etwa auf das 1. Jh. v.Chr. zurückgeht und vermutlich jüdischen Ursprungs ist, aber christlich rezipiert wurde, schildert den Strafort der Verstorbenen und Arten ihrer Bestrafung in Entsprechung zu ihren Vergehen. Weitere apokryphe Schriften aus dem 3.-5. Jh. n.Chr., wie etwa die Apokalypse des Zephanja oder die Apokalypse des Paulus, schildern Jenseitsreisen, die Himmel, Unterwelt und die Enden der Erde umfassen, aber dabei vor allem die Orte vom postmortalen Gericht, der Strafe für die Frevler und der Belohnung der Gerechten beschreiben. Einige dieser Texte blieben bis weit in das Mittelalter hinein einflussreich, wie sich etwa in Dantes „Divina Commedia“ abbildet.
Die ursprünglich jüdische, aber nur in christlicher Fassung erhaltene Schrift von der „Himmelfahrt des Jesaja“ (AscJes) berichtet hingegen von der postmortalen Aufnahme des Propheten Jesaja in die himmlische Sphäre. Ebenfalls aus der Apokalyptik erwächst die jüdische Merkaba-Mystik des 3. bis 10. Jh. n.Chr., die ausgehend von der Thronwagenvison Ezechiels (Ez 1
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