Höllenfahrt Jesu Christi
Andere Schreibweise: Höllenabstieg Christi; Hadesfahrt Christi; Niederfahrt Christi; Descensus Christi (ad Inferos/ad Infera)
(erstellt: Oktober 2019)
Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/46908/
1. Zum Begriff
Der Begriff der Höllen-, Hades- oder Niederfahrt Christi (resp. Höllenabstieg, lat. Descensus ad Inferos/ad Infera) verweist auf die bildhaft-symbolische Ausgestaltung des temporären Verweilens Jesu im Tode zwischen seinem Sterben am Kreuz und der Auferstehung „am dritten Tag“ (Lk 24,7
2. Neues Testament
Die Passions- und Osterberichte der Evangelien lassen eine zeitliche und sachlogische Lücke erkennen zwischen der Grablegung Jesu (Mk 15,37-47
Den rezeptionsgeschichtlich wichtigsten neutestamentlichen Haftpunkt für die Vorstellung vom Höllenabstieg Christi bilden 1Petr 3,19-20
Die rezeptionsgeschichtlich ebenfalls wichtige Stelle Eph 4,8-10
Mt 12,39-41
Mt 27,52-53
Insgesamt zeigt der Befund, dass im NT über das zeitweilige Totsein Jesu hinaus keine Aussagen über sein Hinabsteigen in die Unterwelt feststellbar sind. Es wird allerdings mehrfach festgehalten, dass die in der Auferweckung Jesu erwirkte Heilstat Gottes auch die Überwindung der Todesmacht inkludiert (Apg 2,24
3. Apokryphe Schriften
In den apokryphen Schriften zeigt sich die Tendenz, die angesprochene Leerstelle der kanonischen Evangelien bezüglich der Spanne zwischen Grablegung Jesu und den Osterberichten zu füllen sowie die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu narrativ zu entfalten. Was die apokryphe Evangelienliteratur betrifft, erwähnt etwa das Petrusevangelium (entstanden etwa Mitte 2. Jh. n. Chr.) die Predigt Jesu an die Toten (10,41-42). Wesentlich umfangreicher ist die Motivik im Nikodemusevangelium (ca. 4. Jh. n. Chr.) ausgestaltet. Es enthält in seinem dritten Teil (NikEv Kap. XVII-XXVII) die ausführlichste uns erhaltene narrative Ausgestaltung des Höllenabstiegs aus der Zeit der Alten Kirche. Aus der Perspektive der in der Unterwelt Weilenden erzählt der Text die Ankunft Jesu in der Unterwelt, der als „König der Herrlichkeit“ (Ps 24,7-10
„Da kam wieder die Stimme: Öffnet die Tore!
Als Hades die Stimme zum zweiten Mal hörte,
antwortete er, als wisse er nichts, und spricht:
Wer ist dieser, der König der Herrlichkeit? [Ps 24,8a
Die Engel des Herrn erwiderten:
Der Herr, gewaltig und mächtig,
der Herr, mächtig im Krieg! [Ps 24,8b
Und zugleich mit diesem Bescheid wurden die ehernen Tore zerschlagen
und die eisernen Querbalken zerbrochen
und die gefesselten Toten alle von ihren Banden gelöst und wir mit ihnen.
Und es kam herein der König der Herrlichkeit wie ein Mensch,
und alle dunklen Winkel des Hades wurden licht.“ (NikEv Kap. XXI,3)
Im Hinblick auf die Rezeption der Höllenabstiegsmotivik in Kunst und Literatur des Mittelalters ist dem Nikodemusevangelium maßgebliche Bedeutung zuzumessen.
Daneben tauchen Aspekte der Motivik in einzelnen weiteren Passagen apokrypher Schriften auf. Zu erwähnen ist etwa der Schlussabschnitt der Oden Salomos (evtl. 2. Jh. n.Ch.), in dem Jesus selber seine Predigt in der Unterwelt und die Heraufführung der verstorbenen Gerechten schildert (OdSal 42,13-26). Schließlich berichten auch die sibyllinischen Orakel (8,310-312) und die Himmelfahrt des Jesaja (AscJes 9,17) von der Rettung der alttestamentlichen Gerechten durch den in den Hades abgestiegenen Christus.
4. Theologiegeschichte
Die frühsten Belege zur Motivik des Höllenabstiegs Christi im Schrifttum der Alten Kirche finden sich bei Ignatius von Antiochia (IgnMagn 9,2) sowie bei Irenäus von Lyon (Iren.haer. 4,27,2) und Melito von Sardes (Peri Pascha 101-103). Der Schwerpunkt scheint hier, neben einer antignostischen Stoßrichtung, auf der soteriologischen Bedeutung des Heilswirkens Jesu im Hinblick auf die vorchristlichen Gerechten („die Gerechten, die Patriarchen und Propheten“, Iren.haer. 4,27,2) zu liegen. Folglich kommt dem Motiv der Befreiung der im Hades weilenden Gerechten durch den herabsteigenden Christus vorrangige Bedeutung zu. Indes findet sich auch bereits bei Ignatius das Motiv der Predigt Jesu in der Unterwelt, während bei Melito der Akzent auf dem Sieg Jesu über den (personifizierten) Hades liegt, der von jenem niedergetrampelt und gebunden wird.
Im Zuge der Auseinandersetzungen um das Verhältnis der beiden Naturen Christi im 4. und 5. Jh. gewinnen auch im Hinblick auf die Höllenabstiegsmotivik christologische Fragen an Gewicht (Origenes, Clemens von Alexandrien, Augustinus von Hippo). Gegenüber der Meinung, dass der von der menschlichen Seele getrennte Logos in den Hades abgestiegen sei, setzt sich die Position durch, die den Höllenabstieg dem mit der menschlichen Seele vereinten Logos zuschreibt. In diesem Zusammenhang sind auch bei Clemens von Alexandrien (Stromata 6,6,45-47) die frühsten expliziten Bezugnahmen auf 1Petr 3,19
Im Mittelalter und in der Reformationszeit werden die genannten Höllenabstiegsmotive weiter tradiert und theologisch vertieft. In Bezug auf die jüngeren theologischen Entwicklungen ist nicht zuletzt der Ansatz des katholischen Theologen Hans-Urs von Balthasar zu nennen, der im Rahmen seiner Theologie des Karsamstags die Motivik der Hadesfahrt Christi neu aufgegriffen und als Solidarischsein Gottes mit der radikalen Entfremdung und Einsamkeit des Sünders existentiell-anthropologisch erschlossen hat (Balthasar, 387-400).
5. Ikonographie
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
- Dictionnaire de la Bible
, Paris 1928- - Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
- The Interpreter’s Dictionary of the Bible, Nashville / New York 1962 (Supp. 1976)
- Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976 (Taschenbuchausgabe, Rom u.a. 1994)
- Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973-2015
- Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
- Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
- The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
- Encyclopedia of the Early Church, Cambridge 1992
- Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. u.a. 1993-2001
- Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
- Calwer Bibellexikon, 2. Aufl., Stuttgart 2006
- The New Interpreter’s Dictionary of the Bible, Nashville 2006-2009
2. Weitere Literatur
- Balthasar, H.-U., 1974, Abstieg zur Hölle, in: ders: Pneuma und Institution. Skizzen zur Theologie IV, Einsiedeln, 387-400
- Bauckham, R., 1998, The Fate of the Dead. Studies on the Jewish and Christian Apocalypses, Leiden
- Bieder, W., 1949, Die Vorstellung von der Höllenfahrt Jesu Christi. Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Vorstellung vom sog. Descensus ad inferos, Zürich
- Bousset, W., 1935, Hadesfahrt, in: ders., Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis zu Irenäus, Göttingen, 32-40
- Brox, N., 1993, Der erste Petrusbrief (EKK 21), Zürich
- Chaine, J., Art. Descente du Christ aux Enfers, Dictionnaire de la Bible, 395-431
- Dalton, W.J., 1965, Christ’s Proclamation to the Spirits. A Study of 1 Peter 3:18-4:6 (AnBib 23), Rom
- Frank, G., 2009, Christ’s Descent to the Underworld in Ancient Ritual and Legend, in: R.J. Daly (Hg.): Apocalyptic Thought in Early Christianity, Grand Rapids, 211-226
- Frenschkowski, M., 2015, Hinabgestiegen in das Reich der Toten. Jenseitsmythen, Christologie und der Weg der Seele, in, J. Herzer, A. Käfer, J. Frey (Hgg.): Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik, Leipzig, 255-286
- Gietenbruch, F, 2010, Höllenfahrt Christi und Auferstehung der Toten. Ein verdrängter Zusammenhang (SSThE 57), Wien
- Grillmeier, A., 1975, Der Gottessohn im Totenreich, in: ders., Mit ihm und in ihm, Frankfurt, 76-174
- Grudem, W., 1991, He Did Not Descend Into Hell. A Plea for Following Scripture instead oft he Apostles‘ Creed, JETS 34, 103-113
- Gschwind, K., 1911, Die Niederfahrt Christi in die Unterwelt. Ein Beitrag zur Exegese des Neuen Testamentes und zur Geschichte des Taufsymbols (NTA 2,3/5), Münster
- Hoffmann, R.J., 1981, Confluence in Early Christian and Gnostic Literature. The Descensus Christi ad Inferos (Acta Pilati XVII-XXVII), JSOT 10, 42-60
- Kroll, J., 1971, Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampfe, Darmstadt
- Maas, W., 1981, „Abgestiegen zur Hölle“. Aspekte eines vergessenen Glaubensartikels, IkaZ 10, 1-18
- Maas, W., 1979, Gott und die Hölle. Studien zum Descensus Christi, Einsiedeln
- Schneemelcher, W., 1999, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 1. Evangelien, Tübingen
- Schrage, E., 2001, Descendit ad Inferos: and Belial Sued Jesus Christ for Trespass, in: J.W. Cairns, O.F. Robinson, (Hgg.): Critical Studies in Ancient Law, Comparative Law and Legal History . Essays in Honour of Alan Watson, Oxford, 353-363
- Westerhoff, M. 1999, Auferstehung und Jenseits im koptischen „Buch der Auferstehung Jesu Christi, unseres Herrn“ (OBC 11), Wiesbaden
Abbildungsverzeichnis
- Abstieg Christi in die Unterwelt (Descensus-Motiv). Die Abbildung zeigt Christus im Hades, vorgebeugt zum rechts vor ihm knienden Adam, dessen Handgelenk er ergreift. Daneben hebt Eva betend die Arme. Unter Christus liegt der besiegte Hades, nach dem Fuß Adams greifend. Über Adam und Eva sind die geborstenen Höllentüren erkennbar (gekreuzt). Links oben, als Halbfiguren in einem Sarkophag, David und Salomo. Innenseite der Fieschi Morgan Staurothek (9. Jh.). Metropolitan Museum of Art, New York. Bildrechte: Public Domain (CC0 1.0 Universal)
- Aufstieg Christi aus der Unterwelt (Ascensus-Motiv). Christus zieht, in der rechten Hand das Kreuz haltend, mit der linken Hand Adam hinter sich her aus dem Rachen der Unterwelt, gefolgt von Eva und weiteren vorchristlichen Heiligengestalten. Altarretabel im Konvent vom Heiligen Grab, Zaragoza (Spanien); Jaume Serra (um 1361/62). Bildrechte: Public Domain (WikiCommons)
- Christus, in der Mitte zwischen Adam und Eva stehend, zieht die Voreltern aus der Unterwelt herauf. Fresko in der Chorakirche in Istanbul (um 1320). Bildrechte: Public Domain (WikiCommons)
PDF-Archiv
Alle Fassungen dieses Artikels ab Oktober 2017 als PDF-Archiv zum Download:
Abbildungen
Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz)