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Himmelsrichtungen

(erstellt: Dezember 2008)

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1. Allgemeines

1.1. Altes Testament

Es gibt im Alten Testament unterschiedliche Systeme, die Himmelsrichtungen, deren Vierzahl z.B. Jes 11,12; Jer 49,36; Ez 37,9; Ez 42,20; Sach 2,10; Sach 6,5; Dan 7,2; Dan 8,8; Dan 11,4; 1Chr 9,24 nennen, zu bezeichnen:

1. Grundsätzlich richtet sich die „Orientierung“ (vgl. „Orient“) zum Sonnenaufgang im Osten, so dass der sich der Osten vorn (qædæm u. Ableitungen), der Westen hinten (’achǎrê / ’achǎrôn), der Süden rechts (jāmîn / têmān) und der Norden links (śəmo’l) befindet.

2. Osten, Westen und Süden werden nach dem Verlauf der → Sonne bezeichnet: Der Aufgang der Sonne (mizrāch [šæmæš]; môṣā’ê boqær) meint den Osten, ihr Untergang (məbô’ šæmæš; ma‘ărābāh / ‘æræv) den Westen, ihr Lauf durch den Tag den Süden (dārôm).

3. Die Himmelsrichtungen werden auch nach geographischen Gesichtspunkten benannt: Das (Mittel-)Meer (jām; → Meer) kennzeichnet den Westen; der Norden ist durch den nordsyrischen Zafon, den Berg ṣpn, heute Ǧebel el-Aqra‘ [Gebel el-Aqra] bezeichnet (ṣāfôn). Der Begriff nægæv „Trockenland“ wird für den Negev und den Süden verwendet. Ein weiterer Begriff für den Süden, têmān (→ Teman; s.o.), ist sekundär zu einer Landschaftsbezeichnung geworden.

Im Alten Testament werden diese unterschiedlichen Systeme aber nicht unbedingt in sich konsequent angewendet, weil sich anscheinend die gebräuchlicheren Formen durchsetzten. Der Norden wird z.B. fast immer mit ṣāpôn angegeben, der Ausdruck śəmo’l ist dagegen in der Bedeutung „Norden“ nicht sicher belegt; denn er kann in den infrage kommenden Zusammenhängen auch mit „links“ übersetzt werden (vgl. Gen 13,9; 2Kön 11,11; Hi 23,8f).

Die Nennung aller vier Himmelsrichtungen kann eine geographisch definierte Gesamtheit bezeichnen: z.B. in Gen 13,14; Ez 48,17 das gesamte Weideland der Region, in Dtn 3,27 das gelobte Land in seiner Gänze, in Gen 28,14 die ganze Welt (s. auch 1.2.; 2.4.).

1.2. Alter Orient

1.2.1. Ägypten

Im Alten Ägypten ist der Blick grundsätzlich entlang der Nilachse zur Quelle nach Süden (rsw.t) gerichtet, so dass der Westen (jmn.t) die rechte Seite, der Osten (j’b.t) die linke einnahm. In Landschaftsdarstellungen ist der Süden folglich oben abgebildet und er wird in Aufzählungen immer vor dem Norden (mḥ.tj) genannt. Die normale Reihenfolge der Aufzählung bei Göttern, Ritualen, Grundstücksgrenzen u.a. ist S-N-W-O. Ähnlich wie im Alten Testament bezeichnen die vier Himmelsrichtungen eine Gesamtheit, z.B. in geographischer oder auch hierotopischer Hinsicht wie bei der Aufzählung der vier Ecken des Heiligtums. Die Himmelsrichtungen werden, auch als Windrichtungen, mit unterschiedlichen Göttern und Göttinnen gleichgesetzt.

1.2.2. Mesopotamien

Die spätbabylonische Tafel BM 92687 blickt aus der Vogelperspektive auf die Erdscheibe, um dem damaligen Betrachter in erster Linie weit entfernte Gebiete zu beschreiben. Die gesamte Erde, in der altorientalischen Kosmologie unterhalb des Himmels angesiedelt, wird in „vier Quadranten“ (akk. kibrāt erbetti) des gesamten Universums (kiššatu[m]) bzw. der Winde (šāru[m]), die auch für die vier Himmelsrichtungen (šadû[m] „Ostwind / Osten“; šūtu „Südwind / Süden“; amurru[m] „Westwind / Westen“; ištānu[m] „Nordwind / Norden“) stehen können, aufgeteilt. Aufgrund der im Zweistromland verbreiteten Astronomie / Astrologie spielen die Himmelsrichtungen, die nicht nur am Auf- und Untergang der Sonne, sondern auch an den Konstellationen der → Sterne orientiert werden, in einschlägigen Texten eine wichtige Rolle.

2. Besondere Ausdrücke im Alten Testament

2.1. JHWH / Gott von „Teman“

Sowohl in Hab 3,3 als auch in der Inschrift Kuntillet ‘Aǧrud [→ Kuntillet Agrud] Nr. 10 (jhwh htmn) ist Gott / JHWH mit dem Süden oder einem gleichnamigen Gebiet (→ „Teman“) verbunden. Da die Lesung jhwh htmn aus Kuntillet ‘Aǧrud als gesichert gelten kann, ist die Tradition einer Herkunft JHWHs aus dem Süden bereits in vorexilischer Zeit (spätes 9. Jh.) verankert.

2.2. Der „Feind aus dem Norden“

In Jo 2,20 ist von einem „Nördlichen“ die Rede, der Tod und Verderben zu bringen droht. Entsprechendes ist Jer 1,13f; Jer 4,6; Jer 6,1.22; Jer 46,20.24 u.ö. zu entnehmen. Das → Jeremiabuch identifiziert die Herkunft des Feindes insofern, als in Jer 46 sowohl der → Euphrat als auch die Herkunft der Feinde mit der Himmelsrichtung des Nordens in Verbindung gebracht werden. In der Tat erfolgte der Anmarsch eines Heeres von → Mesopotamien nach Palästina auf der via maris am Mittelmeer entlang, also von Norden her.

2.3. Benjamin

Der nach der biblischen Überlieferung (Gen 35,24) jüngste Sohn → Jakobs und Eponym des gleichnamigen Stammes ist ausweislich seines Namens „Sohn des Südens / im Süden“ ein „Südländer“. Zu beziehen ist diese Lokalisierung wohl auf die israelitischen → Stämme der Rahelgruppe (Ephraim, Manasse, Benjamin), die nördlich von Juda im ephraimitischen Bergland sesshaft waren und deren südlichster Bereich, Benjamin, an der Nordgrenze Judas endete.

2.4. Die „(vier) Enden der Erde“

Die in ägyptischen und mesopotamischen Texten gut belegte Vorstellung von den vier Himmelsrichtungen bzw. Quadranten / Winden der Welt (s.o. 1.2.1. / 1.2.2.) begegnet auch biblisch (s.o. 1.1) als Umschreibung für die Gesamtheit der Erde (vgl. auch Jes 48,20; Jes 49,6; Jer 16,19 u.a. sowie die schöpfungstheologischen Texte Jes 40,28; Ps 19,6f; Ps 59,14; Hi 28,24; Hi 37,3 u.a.; → Schöpfung). Diese wird auch in den vier Strömen des → Paradieses (Gen 2,10) sowie in vorrangig kultisch geprägten Texten wie z.B. Ez 40-48 (mit Hervorhebung des Ostens) reflektiert. Das detailliert in seinen Dimensionen und hinsichtlich seiner Ausrichtung beschriebene visionäre Heiligtum versinnbildlicht die Totalität des Kosmos.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff (Art.: ים / ימין / נגף / צפון / קדם)
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992 (Art. Himmelsrichtungen)

2. Weitere Literatur

  • Haas, V., 1994, Geschichte der hethitischen Religion (HdO 15), Leiden / Boston / Köln
  • Horowitz, W., 1988, The Babylonian Map of the World, IRAQ 50, 147-165
  • Horowitz, W., 1998, Mesopotamian Cosmic Geography, Winona Lake
  • Hunger, H. / Pingree, D., 1999, Astral Sciences in Mesopotamia (HdO 24), Leiden / Boston / Köln
  • Keel, O., 2008, JHWH – der Gott aus dem Süden und sein Volk, WUB 49, 50-53
  • Morenz, L.D., 2002, Mytho-Geographie der vier Himmelsrichtungen. Drei bzw. vier Fabelwesen in zwei Gräbern des ägyptischen Mittleren Reiches und ägyptisch-altorientalische Kulturkontakte, WO 32, 20-32
  • Thiel, W., 1989, „Vom Norden her wird das Unheil eröffnet“. Zu Jeremia 1,11-16, in: V. Fritz (Hg.), Prophet und Prophetenbuch (BZAW 185; FS O. Kaiser), Berlin / New York, 231-245
  • Wiebach-Koepke, S., 2007, Sonnenlauf und kosmische Regeneration: Zur Systematik der Lebensprozesse in den Unterweltbüchern, Wiesbaden

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