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Heilung (NT)

(erstellt: Dezember 2010)

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1. Begriffe

Dem deutschen Wort „Heilung“ entsprechen im Neuen Testament mehrere griechische Begriffe: ϑεραπεία (Lk 9,11; Apk 22,2), ’ίασις (Lk 13,32; Apg 22,30), ’ίαμα (1Kor 12,9.28.30). Häufiger findet sich das Verb „heilen“ – ebenfalls in unterschiedlichen griechischen Varianten, v.a. bei Lukas (ϑεραπεύειν, ̓ιᾶσθαι, ὑγιαίνειν).

2. Heilung in der Antike

In der Antike gab es unterschiedliche Personen und Institutionen, von denen die Menschen sich Heilung erhofften.

2.1. Ärzte

Soweit wir wissen, war Hippokrates (5. / 4. Jh. v. Chr.) der erste, der „natürliche“ Faktoren für → Gesundheit und → Krankheit verantwortlich machte. Die Antike kannte durchaus eine wissenschaftliche Medizin, die auf empirischen Beobachtungen gründete.

Im Alten Testament wird die medizinische Heilung auf unterschiedliche Weise mit der Heilung durch Gott ins Verhältnis gesetzt: Nach 2Kön 20,5-7 erfolgt die Heilung durch medizinische Praktiken (Heilmittel ist hier ein Pflaster aus Feigen, v7), sie wird aber auf Gott und das Gebet zu ihm zurückgeführt (v5). 2Chr 16,12 setzt die Heilkunst der Ärzte in Konkurrenz zur Heilkraft Gottes: Wer auf die Ärzte vertraut, vergeht sich gegen Gott.

Im Neuen Testament begegnet uns die Berufsgruppe des Arztes (Mk 5,26; Kol 4,14). Die ärztliche Kunst wird allerdings nicht besonders hoch geschätzt. Die sog. „blutflüssige Frau“ hat zunächst unterschiedliche Ärzte konsultiert – allerdings ohne Erfolg. In Mk 2,17 ist das Sprichwort überliefert, nach dem nicht die Starken, sondern die Kranken einen Arzt brauchen. Dieses Sprichwort wird mit dem Ausspruch Jesu parallelisiert, nach dem er nicht gekommen sei, um die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder. Inhaltlich ist hier der Schritt zur Bezeichnung Jesu als „Arzt“ nicht mehr weit. Aber erst im 2. Jh. n. Chr. finden sich Belege, die Jesus als Arzt bezeichnen (Ignatius, An die Epheser 7,2).

2.2. Asklepiosheiligtümer

Der Überlieferung nach war Asklepios der Sohn des → Apollo und der Königstochter Koronis. Er wurde wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten zu heilen von Zeus durch einen Blitz getötet. Nach seinem Tod wurde Asklepios unter die Götter aufgenommen und übte weiterhin seine Heilkunst aus, und zwar an bestimmten Kultstätten, den Asklepiosheiligtümern.

Über das Asklepiosheiligtum in Epidauros auf der Peloponnes sind wir besonders gut unterrichtet. Der Schriftsteller Pausanias besuchte 165 n. Chr. das Heiligtum und fand dort sechs beschriftete Steine (Stelen). 1883 gruben Archäologen bei Epidauros drei dieser Stelen vollständig und eine vierte in Bruchstücken aus. Auf den Stelen sind Namen von Geheilten, ihre Krankheiten und der Hergang ihrer Heilung verzeichnet.

„Kleo war fünf Jahre schwanger. Als diese schon fünf Jahre lang schwanger war, wandte sie sich hilfesuchend an den Gott und schlief im Heilsraum. Sobald sie aus ihm herauskam und außerhalb des heiligen Bezirks war, gebar sie einen Knaben, der sich sofort nach seiner Geburt selbst am Brunnen wusch und mit der Mutter herumlief. Als sie das erlangt hatte, ließ sie auf ihr Weihegeschenk folgendes schreiben:

‚Wunderbar ist nicht die Größe der Tafel, sondern die Gottheit,

fünf Jahre lang hat Kleo im Leibe gleichsam eine Last getragen,

bis sie hier schlief und der Gott sie gesund machte.‘‘

(zit. nach Klauck 1995, 134-135)

Dieser Beispieltext ist in mehrfacher Hinsicht instruktiv: Die Heilung erfolgte in Epidauros offenbar im Schlaf (Inkubationsheilung). Aus Dankbarkeit für die erfolgreiche Heilung stifteten die Geheilten Holztafeln, auf denen sie den Heilungsvorgang niederschrieben. Diese Holztafeln bildeten die Grundlage für Heilungsberichte, die ab dem 4. Jh. v. Chr. auf Stein übertragen wurden. Bei dieser Übertragung wurde das wunderhafte Element gesteigert – ein Phänomen, mit dem wir auch bei neutestamentlichen Wundererzählungen rechnen müssen. So ist auf der Tafel davon die Rede, dass Kleo „im Leibe gleichsam eine Last getragen“ habe. Im Wunderbericht wird daraus eine fünfjährige Schwangerschaft, die mit der Geburt eines Knaben endet, der bereits herumlaufen kann. Primäre Adressaten dieser Stelen waren wohl Hilfesuchende, die zum Asklepiostempel kamen. „Ihnen wird Mut gemacht, sich allem zu unterziehen, was man ihnen abverlangt“ (Klauck 1995, 138).

Die Grenze zwischen medizinischer Heilkunst und göttlicher, an Asklepiosheiligtümern institutionalisierter Heilkunst war fließend. An Asklepiosheiligtümern konnten auch Ärzte tätig sein. Eine Legende besagt, dass Hippokrates die wissenschaftliche Medizin dadurch begründete, dass er von den Holztafeln des Asklepiosheiligtums auf der Insel Kos die Heilkuren abschrieb.

In neutestamentlicher Zeit gab es viele Asklepiosheiligtümer im Römischen Reich. Das frühe Christentum bezog sich einerseits positiv auf Asklepios, um die neutestamentlichen Heilungserzählungen von Jesus zu plausibilisieren (Justin um 150 n. Chr.), andererseits grenzte es Jesus von Asklepios ab: Während Asklepios als geldgieriger Arzt dargestellt wurde, erschien Jesus als bedürfnisloser Heiler, der das Wohl der anderen im Blick hat.

2.3. „Göttliche Menschen“

Neben einer institutionalisierten Wunderpraxis an Kultstätten, an denen auch Ärzte wirken konnten, kannte die Antike ungebundene, umherziehende, charismatische Einzelpersonen, die als Heiler auftraten. „Herausragende Gestalten wie Pythagoras, Empedokles oder Apollonius von Tyana, die durch eine Kombination von → Charisma, Magie und Wissenschaft → Wunder vollbrachten, gerieten mit dem Establishment in Konflikt und sahen sich dem Vorwurf des Hokuspokus ausgesetzt, während sie von ihren Anhängern als übernatürliche Wesen verehrt wurden. Es handelt sich um Grenzgänger zwischen der Welt der Götter und der Menschen“ (Kollmann, 36). Inwiefern diese „göttlichen Menschen“ etwas zum Verständnis der neutestamentlichen Heilungserzählungen austragen, ist in der Forschung umstritten. Da wir über die „göttlichen Menschen“ erst aus Quellen des 3. Jh.s n. Chr. unterrichtet sind – v.a. durch eine Biographie des Apollonius, verfasst von Philostrat –, vertreten einige Exegeten die Ansicht, dass dieses Konzept zur Entstehungszeit des Neuen Testaments noch keine Rolle spielt. Andere Forscher vermuten hinter den Quellen Traditionen, die bis in die neutestamentliche Zeit zurückreichen. Eine Frage ist dann z.B., inwiefern die Evangelien in Analogie zur Apolloniusvita zu deuten sind.

2.4. Wunderheilungen durch Kaiser

Eine ganz andere Art von „Vergöttlichung“ erfuhren einige römische Kaiser im Rahmen des Kaiserkultes. Diese Vergöttlichung konnte dadurch untermauert werden, dass Herrschern Wundertaten zugesprochen wurden (Cotter, 11-34.40-42). Ein besonders interessantes und gut bezeugtes Beispiel ist der Kaiser → Vespasian (69-79 n. Chr.). Plinius d. Ä. schreibt über ihn:

„Gott zu sein bedeutet für den Sterblichen, dem Sterblichen zu helfen, und dies ist der Weg zum ewigen Ruhm. Ihn gingen die vornehmsten Römer, auf ihm wandelt jetzt göttlichen Schrittes zusammen mit seinen Kindern der größte Herrscher aller Zeiten, Vespasianus Augustus, der erschlafften Welt zu Hilfe kommend. Dies ist die älteste Sitte, hochverdienten Männern sich dankbar zu erweisen, dass man solche Helfer unter die Götter versetzt.“ (Historia naturalis 2,18f, zit. nach Klauck 1996, 59).

Vespasian war der erste Römische Kaiser, der nicht-senatorischer Herkunft war. Seine Legitimation und Anerkennung musste er sich gerade zu Beginn seiner Amtszeit erkämpfen. In dieser fragilen Situation heilte er – so berichtet Sueton ca. 117/122 n. Chr. – zwei Menschen:

„An Autorität und gewissermaßen an Majestät fehlte es ihm als einem von niemandem erwarteten und doch neuen Kaiser, doch wurde ihm auch dies geschenkt. Ein blinder Mann aus dem Volk und ein anderer mit einem lahmen Bein traten gemeinsam an ihn heran, als er auf dem Richterstuhl saß, und baten ihn um die Heilung ihrer Krankheit, die ihnen von Sarapis [ein ägyptischer Gott] durch einen Traum in Aussicht gestellt worden sei. Er werde dem einen das Augenlicht zurückgeben, wenn er auf das Auge speie, und dem anderen das Bein kräftigen, wenn er sich herabließe, es mit der Ferse zu berühren. Obgleich es kaum glaublich war, dass dies auf irgendeine Weise gelingen könnte, und er es deshalb auch nicht einmal zu versuchen wagte, ließ er es auf Zureden seiner Freunde in beiden Fällen schließlich dennoch ganz offen vor der versammelten Menge auf den Versuch ankommen, und der Erfolg blieb nicht aus.“ (Divus Vespasianus 7,2f, zit. nach Klauck 1996, 58f.)

Der Bericht erinnert in einigen Zügen an die Blindenheilung aus Mk 8,22-26. Er stellt die Bedeutung der Wundertaten für die Legitimation des Kaisers – dem ersten ohne senatorische Herkunft – deutlich heraus. Vespasian wägt mit politischem Kalkül ab, ob er das – als solches empfundene – Risiko eingehen soll, eine Heilung zu versuchen. In einem längeren Bericht von Tacitus zum selben Ereignis (Historien 4,81) heißt es, Vespasian habe zunächst den Rat von Ärzten eingeholt:

„Die Ärzte redeten etwas zweideutig hin und her: Bei dem einen, so sagten sie, sei das Augenlicht nicht eigentlich erloschen; es werde daher wiederkehren, wenn man die Hindernisse beseitige. Bei dem anderen seien die Gliedmaßen wie verrenkt; bei Gebrauch heilkräftiger Mittel sei ein einwandfreier Zustand wieder herzustellen. Vielleicht liege den Göttern an der Sache, und vielleicht sei er, der Fürst, als Werkzeug der Gottheit ausersehen. Endlich falle bei erfolgreicher Anwendung des Heilmittels der Ruhm dem Fürsten zu; sollte es nicht wirken, so würde der Spott die zwei unglücklichen Geschöpfe treffen.“ (zit. nach Theißen / Merz, 284)

Diese Darstellung der Ärzte ist aufschlussreich: Sie werden zunächst als ernstzunehmende Autoritäten konsultiert, können letztlich aber keine eindeutige Prognose abgeben. Nach einer medizinischen Einschätzung wechseln die Ärzte in den religiösen Bereich: Vielleicht sei Vespasian ein „Werkzeug der Gottheit“. Heilung erscheint somit als ein Phänomen, das nicht (nur) die Ärzte bewirken, sondern die Götter. Abschließend äußern die Ärzte eine taktische Überlegung: Vespasian könne letztlich nur gewinnen, im Falle eines Misserfolges (der durchaus einkalkuliert wird) würde der Spott die Kranken treffen.

Heilung verortet sich im Zusammenhang mit den Herrschern also in einem Kräftefeld von medizinischer Heilkunst, göttlicher Macht und politischem Kalkül.

2.5. Jüdische Wundercharismatiker

Auch aus dem Judentum zur Zeit Jesu sind uns einzelne Wundercharismatiker bekannt. Berühmt ist u.a. Chanina ben Dosa. Er wirkte im 1. Jh. n. Chr. und lebte wie Jesus in selbst gewählter Besitzlosigkeit in der Nähe von Sepphoris. Von Chanina ben Dosa ist überliefert, dass er für Kranke betete. Diesen Gebeten wurde eine besondere Kraft beigemessen. Sie veranlassten Gott als den Adressaten der Gebete dazu, den Kranken zu heilen. Die charismatische Kraft zu heilen beruhte bei Chanina ben Dosa also auf einer besonderen Beziehung zu Gott.

„Abermals ereignete es sich mit Rabbi Chanina ben Dosa, dass er zu Rabbi Jochanan ben Zakkai die Tora studieren ging, und da gerade der Sohn des Rabbi Jochanan ben Zakkai erkrankte, sprach dieser zu ihm: Chanina, mein Sohn, flehe doch für ihn um Erbarmen, dass er genese! Da legte er sein Haupt zwischen seine Knie und flehte für ihn um Erbarmen; und jener genas. Hierauf sprach Rabbi Jochanan ben Zakkai: Hätte Ben Zakkai den ganzen Tag seinen Kopf zwischen seine Knie geschlagen, man würde ihn nicht beachtet haben. Da sprach seine Frau zu ihm: Ist denn Chanina bedeutender als du? Er erwiderte ihr: Nein; allein, er ist wie ein Diener vor dem König, ich aber wie ein Fürst vor dem König.“ (Mischna bBer 34b, zit. nach Kollmann, 45-46).

In der Frage der Frau, ob Chanina bedeutender sei als der renommierte Pharisäer Jochanan deuten sich – ähnlich wie im heidnischen Bereich – „Spannungen zwischen ungebundenem Wundercharismatikertum und organisiertem Schriftgelehrtenstand“ (Kollmann, 46) an.

Ein Wundercharismatiker etwas anderen Typs war Eleazar. Er heilte als Exorzist, d.h. er trieb Dämonen aus, die Menschen krank machten. Dazu hielt er sich an magisch-medizinische Handbücher, die → David oder → Salomo als ihre Verfasser angaben. Die Instrumente, die er zur Dämonenaustreibung benutzte, sind uns z.T. auch aus dem Asklepioskult bekannt (hier: Siegelring mit Wurzel). Der jüdische Geschichtsschreiber → Josephus berichtet ausführlich von solch einer Dämonenaustreibung:

„Die Heilung geschah in folgender Weise. Er hielt unter die Nase des Besessenen einen Ring, in dem eine von den Wurzeln eingeschlossen war, welche Salomon angegeben hatte, ließ den Kranken daran riechen und zog so den bösen Geist durch die Nase heraus. Der Besessene fiel sogleich zusammen, und Eleazar beschwor dann den Geist, indem er den Namen Salomons und die von ihm verfassten Sprüche dahersagte, nie mehr in den Menschen zurückzukehren. Um aber den Anwesenden zu beweisen, dass er wirklich solche Gewalt besitze, stellte Eleazar nicht weit davon einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Becken auf und befahl dem bösen Geiste, beim Ausfahren aus dem Menschen dieses umzustoßen und so die Zuschauer davon zu überzeugen, dass er den Menschen verlassen habe. Das geschah auch in der Tat, und so wurde Salomons Weisheit und Einsicht kund.“ (Josephus, Antiquitates Judaicae 8,45-49)

3. Der historische Jesus als Heiler

In Jesus von Nazareth begegnet uns ein charismatischer Heiler, der seinen Heilungen eine herausragende theologische Bedeutung beimisst: „Die Einzigartigkeit der Wunder des historischen Jesus liegt darin, dass gegenwärtig geschehenden Heilungen und Exorzismen eine eschatologische Bedeutung zugesprochen wird. In ihnen beginnt eine neue Welt“ (Theißen / Merz, 279). Im Hintergrund der von Jesus durchgeführten Dämonenaustreibungen (Exorzismen) steht ein Weltbild, das mit einem Reich des → Bösen, dem → Satan und → Dämonen angehören, rechnet (vgl. Mt 12,22-29 / Lk 11,14-22). In Lk 10,18 ist uns überliefert, dass Jesus eine Vision hatte, in der er den Satan vom Himmel stürzen sah – ein Zeichen seiner prinzipiellen Entmachtung. In dieser Vision „fand eine für Jesus entscheidende Einsicht verdichtet ihren Ausdruck. Sie war wohl das Signal für ihn, seine Dämonenaustreibungen neu zu deuten“ (Müller, 64f.). Da der Satan im Himmel bereits entmachtet war, konnte Jesus die Dämonenaustreibungen, in denen er „mit dem Finger Gottes“ Dämonen auf der Erde besiegte und sie ihre Macht verloren, als beginnende Durchsetzung der Gottesherrschaft auf der Erde verstehen (Mt 12,28 / Lk 11,20). Von Jesu Gegnern hingegen ist uns die kritische Anfrage überliefert, ob er die Dämonen nicht vielmehr im Namen des Beelzebul austreibe (Mt 12,24 / Lk 11,15).

4. Neutestamentliche Heilungserzählungen

4.1. Der Aufbau

Die meisten neutestamentlichen Heilungserzählungen kreisen um Jesus als Wundertäter. Die Forschung unterscheidet zwischen Heilung (Therapie) und Dämonenaustreibung. Bei Dämonenaustreibungen gilt Krankheit als Besessenheit durch einen Dämon. Der besessene Mensch wird zur „Kampfstätte überirdischer und außergewöhnlicher Mächte“ (Theißen, 98). Bei der Therapie hingegen gilt Krankheit als Schwäche. Heilung geschieht durch „helfende Kraftübertragung“ (Theißen, 102). Die Heilungserzählungen und Dämonenaustreibungen sind nach einem bestimmten, variablen Formschema gestaltet (Theißen / Merz, 258f.): In der Einleitung kommt der Wundertäter, eine Menge und der oder die Kranke/n bzw. Besessene/n treten auf. In der Exposition wird die Krankheit charakterisiert. In der zentralen Mitte der Erzählung kommt es zur Heilung bzw. Austreibung. Am Schluss reagieren der oder die Geheilte und die Menge auf das Wunder.

W. Kahl sieht die Besonderheit von Heilungserzählungen darin, dass sie die Bewegung von einem Mangel („initial lack“) zu dessen Überwindung („liquidation of lack“) durch einen Träger göttlicher Macht („bearer of numinous power“) beschreiben. Während sich alttestamentliche Heilungserzählungen dadurch auszeichnen, dass der Wundertäter Gott regelmäßig um ein wunderhaftes Eingreifen bitten muss, handelt Jesus eigenständig aus göttlicher Vollmacht heraus. Hier zeige sich eine religionsgeschichtlich einzigartige Verbindung von menschlicher Natur und göttlicher Macht, die Jesus als idealtypischen „göttlichen Menschen“ ausweise (231).

Getrennt von der Frage des Aufbaus ist die Frage der Historizität der Wunder oder des sie tragenden Wirklichkeitsverständnisses zu diskutieren (Alkier 2001b, Weissenrieder). Dabei fällt auf, dass die Antike grundsätzlich mit der Möglichkeit von Phänomenen rechnete, die die Alltagserfahrung durchbrechen. Hierin unterscheidet sich die antike Wahrnehmung von der Diskussion um Wunder seit der Aufklärung (Alkier 2001a).

4.2. Theologische Motive

4.2.1. Heilung und Schöpfung / Sabbat

Jesus heilt auch am → Sabbat (Mk 3,1-6; Lk 13,10-17; Lk 14,1-6; Joh 5,1-18; Joh 9,1-14). Damit zieht er den Unwillen der Pharisäer auf sich, denn Heilungen waren nach jüdischem Recht am Sabbat nur dann erlaubt, wenn das Leben des Kranken akut gefährdet war. Jesu Heilungen am Sabbat verweisen auf die → Schöpfung, die im Sabbat gipfelt (Gen 2,2-3). Zur Zeit Jesu galt der Sabbat als Vorgeschmack endzeitlichen Heils: „Ein Tag des heiligen Reiches für ganz Israel ist dieser Tag nämlich … immerdar“ (Jubiläen 50,9). Von diesem Verständnis her erschließt sich die theologische Bedeutung der Sabbatheilungen. Sie stellen einen schöpferischen Akt dar, mit dem Christus an der Durchsetzung der endzeitlichen Gottesherrschaft partizipiert. „Die Befreiung gefesselter [kranker] Menschen gerade an diesem Tag (Lk 13,16) läßt die Herrlichkeit der endzeitlichen Sabbatruhe aufleuchten und zeigt den eigentlichen Sinn des Ruhetages, mit dem Gott den Menschen etwas Gutes und die Erquickung der Seele geschenkt hat (vgl. Mk 3,4; Mk 7,37) und an dem er selbst arbeitet, d.h. Leben erhält (Joh 5,17)“ (Betz, 766).

4.2.2. Heilung und Glauben

„Dein Glaube hat dich gerettet.“ heißt es häufig in den Evangelien (Mk 5,34; Mk 10,52; Mt 9,22; Lk 7,50; Lk 17,19). Der → Glaube gilt in diesen Heilungserzählungen als Voraussetzung für die wundersame Genesung. Nach Mk 9,23 sind alle Dinge möglich dem, der glaubt. „Jesus spricht den Kranken oder deren Stellvertretern selbst die Fähigkeit zu, durch den Glauben ihre menschlichen Grenzen zu überschreiten und Anteil an der Macht des Schöpfergottes zu gewinnen, dem alles möglich ist“ (Theißen / Merz, 514). Eine besondere Pointe erfährt dieser Zusammenhang in der Erzählung von der Austreibung eines Dämons aus einem besessenen Jungen (Mk 9,14-29). „Nicht die Beseitigung des Unglaubens, sondern die Anerkennung und Vollendung des angesichts unüberwindlicher Not angefochtenen Glaubens ist die Pointe dieser Wundergeschichte“ (Theißen / Merz, 514).

4.2.3. Heilung und Vergebung

Psalm 103 preist Gott als denjenigen, der „dir all deine Schuld vergibt und alle deine Gebrechen heilt“. Der darin implizierte Zusammenhang von Krankheit und → Sünde sowie von Heilung und → Vergebung wird im Hiobbuch kritisch reflektiert und prägt in unterschiedlichen Schattierungen auch Teile des Neuen Testaments. In Joh 5,14 ist ein direkter Zusammenhang von Krankheit und Sünde impliziert, wenn Jesus zu dem Geheilten sagt: „Sündige von nun an nicht mehr, damit dir nicht etwas noch Schlimmeres zustoße.“ In Joh 9,2 begegnet ebendiese Überzeugung bei den Jüngern: Sie unterstellen dem Blindgeborenen, dass entweder er oder seine Eltern gesündigt haben müssen. Hier verneint Jesus explizit diesen „Tat-Ergehen-Zusammenhang“ (Joh 9,3). Heilung ist nicht Ausdruck von Vergebung, sondern geschieht, damit „die Werke Gottes an ihm [dem Kranken] offenbar werden“ (Joh 9,3). Die Erzählung von der Heilung eines Gelähmten, den die Freunde durch das Dach zu Jesus bringen müssen (Mk 2,1-12; Mt 9,1-8; Lk 5,17-26), steht zwischen diesen beiden Positionen: Sündenvergebung und Heilung werden durch die Verknüpfung der Wundererzählung mit einem Streitgespräch zur Sündenvergebung in ein enges Verhältnis gesetzt: Darin, dass der → Menschensohn wundersam heilen kann, zeigt sich, dass er auch Sünden vergeben kann. Aber durch die Sündenvergebung wird der Gelähmte nicht „automatisch“ körperlich gesund. Dazu bedarf es einer eigenen, heilenden Wundertat.

4.3. Theologische Besonderheiten in den Evangelien

Die Evangelisten binden die Heilungserzählungen in ihre jeweiligen theologischen Leitlinien ein. Markus deutet die Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46-52) „symbolisch als Augenöffnung für die Nachfolge“ (Ebner, 1730-1731). Der Geheilte „folgte Jesus auf seinem Weg“ (Mk 10,52). Dieser Weg führt nach Jerusalem, in die Passion (vgl. Mk 11,1). Bartimäus hat offenbar verstanden, was auch die Leser des Evangeliums verstehen sollen: → Nachfolge schließt die Bereitschaft ein zu leiden (Mk 8,34).

Matthäus charakterisiert die Heilungen Jesu als „Werke des Messias“ (Mt 11,2). In ihnen verwirklicht sich, was → Jesaja für die heilvolle Endzeit vorhergesagt hat: „Blinde sehen und Lahme gehen“, „Taube hören und Tote stehen auf“ (Mt 11,5; vgl. Jes 35,5-6; Jes 26,19).

Lukas deutet die Heilungen Jesu „als Einlösung des Befreiungsprogramms von Lk 4,18f. (vgl. Jes 61,1-3)“ (Ebner, 1731). Die Gefangenen sollen frei sein, die Blinden sollen sehen, die Zerschlagenen sollen frei und ledig sein (Lk 4,18).

Im Johannesevangelium gelten die Heilungserzählungen (Dämonenaustreib-ungen fehlen) als „Zeichen“, die dazu erzählt werden, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias / Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31). Die „Zeichen“ stellen die Menschen vor die Entscheidung für oder gegen Jesus Christus und damit für oder gegen das „ewige Leben“.

5. Heilungen in apostolischer Zeit

In der Aussendungsrede erteilt Jesus seinen Jüngern den Auftrag, die Gottesherrschaft zu verkünden und Kranke gesund zu machen, Tote aufzuwecken, Aussätzige rein zu machen und böse Geister auszutreiben (Mt 10,7-8; vgl. Lk 10,9). Entsprechend diesem Auftrag heilen die Jünger im Namen Jesu. „Heilungswunder, manchmal sogar mit magischem Anstrich (Apg 5,15; Apg 19,12), begleiten das Wirken der christlichen Missionare und provozieren ihre Verehrung als Götter (Apg 14,11-13; Apg 28,6).“ (Klauck 1995, 129) Der Verfasser der Apg stellt → Petrus und → Paulus als gleichwertige Wundertäter dar (vgl. Apg 3,1-8; Apg 5,15; Apg 9,32-43 mit Apg 14,8-10; Apg 19,11-12; Apg 20,9-12). Paulus zählt die „Charismen der Heilung“ in 1Kor zu den Gaben des Geistes, die in der Gemeinde wirken (1Kor 12,9.28.30). Offenbar gab es in → Korinth Gemeindemitglieder, die im Namen Jesu Heilungen vollzogen. In Jak 5,14-16 gilt das → Gebet (der „Ältesten“ der Gemeinde) als Weg zur Heilung, die allerdings durch den Herrn geschieht (Jak 5,15).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Betz, O., 1985, Art. Heilung / Heilungen I. Neues Testament, TRE XIV, Berlin / New York, 763-768
  • Ebner, M., 4. Aufl. 2001, Art. Krankheit und Heilung. III. Biblisch, RGG 4, Tübingen, 1730-1731

2. Weitere Literatur

  • Alkier, S., 2001, Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, ZNT 7, 2-15 (2001a)
  • Alkier, S., 2001, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2001 (2001b)
  • Becker, M., 2002, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (WUNT II 144), Tübingen
  • Cotter, W., 1999, Miracles in Greco-Roman Antiquity. A Sourcebook, New York
  • Klauck, H.-J., 1995, Die religiöse Umwelt des Urchristentums. I. Stadt- und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube, Stuttgart u.a.
  • Klauck, H.-J., 1996, Die religiöse Umwelt des Urchristentums. II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis, Stuttgart u.a.
  • Kollmann, B., 2. Aufl. 2007, Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis, Stuttgart
  • Koskenniemi, E., 1994, Apollonius von Tyana in der neutestamentlichen Exegese. Forschungsbericht und Weiterführung der Diskussion (WUNT 2.61), Tübingen
  • Müller, U.B., 1998, Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu. Historische Aspekte und Bedingungen (SBS 172), Stuttgart
  • Theißen, G., 7. Aufl. 1998, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh
  • Theißen, G. / Merz, A., 3. Aufl. 2001, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen
  • Trunk, D., 1994, Der messianische Heiler (HBS 3), Freiburg u.a.
  • Weinreich, O., 1909, Antike Heilungswunder, Gießen
  • Wolter, M., 1992, Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen. Überlieferungs- und formgeschichtliche Betrachtungen, in: K. Berger u.a., Studien und Texte zur Formgeschichte (TANZ 7), Tübingen, 135-175
  • Zimmermann, R. (Hg.), 2012, Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, 2 Bde, Gütersloh

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