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Hebräerevangelium

Andere Schreibweise: Evangelium der Hebräer; Gospel of the Hebrews (engl.)

(erstellt: April 2013)

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1. Bezeugung

„Evangelium nach den Hebräern“ ist der einzige in antiken Quellen belegte Titel für ein judenchristliches Evangelium. Das griech. καθ᾿ ῾Εβραίους (kath hebraíous; lat. meist secundum/iuxta Hebraeos) ist den Überschriften der vier kanonisch gewordenen → Evangelien entsprechend gebildet und bezeichnet wie dort den Autor bzw. Ursprung der Tradition, nicht die Adressaten des Werks. Dass hier, wie beim → „Evangelium nach den Ägyptern“ (Clem., str. III 63,1) eine Pluralität in Anspruch genommen wird, nicht eine Einzelperson, begünstigte die spätere Rezeption und suggerierte eine hohe Originalität. Zugleich konnte die Bezeichnung leicht auf einen Tradenten- oder Benutzerkreis übertragen werden (evangelium Hebraeorum, „Evangelium der Hebräer“), bzw. mit der Rede vom „hebräischen Evangelium“ (Hebraicum evangelium) verschmelzen, woraus dann ein Hinweis auf die vermeintliche Sprache entnommen werden konnte (Hier., ad Ephes. 5,4). Hier könnte der Ansatzpunkt für spätere Verwechslungen liegen.

Der erste sichere Beleg begegnet bei → Clemens von Alexandrien, der in Stromata II 9,45 eine Tradition aus dem „Evangelium nach den Hebräern“ zitiert, die in einer anderen Form später noch einmal ohne Hinweis auf dieses Werk zitiert wird (Stromata V 96,2f.) und auch einem griechisch erhaltenen Logion des → Thomasevangeliums entspricht (POxy 654,6-9; EvThom 2). Dieses Textstück, ein rhetorisch kunstvoll geformter „Stufenspruch“, ist ganz griechisch konzipiert und kaum als Übersetzung aus dem Hebräischen oder Aramäischen denkbar. Das heißt, wenn Clemens das Stück tatsächlich aus dem „Evangelium nach den Hebräern“ kennt, woran kaum mit Gründen zu zweifeln ist, dann war dieses ein griechisches Werk, das zumindest in der ihm vorliegenden Form auch griechisch konzipiert und nicht einfach aus einer semitischen Sprache übersetzt war.

Der nächste Autor, der das Werk zitiert, ist → Origenes. Das von ihm zweimal gebotene Stück, wohl eine Weiterentwicklung der Tradition der Versuchung Jesu (Mt 4,1ff), besitzt in den kanonischen Evangelien keine unmittelbare Parallele. Die Einleitung des Zitats (Origenes, Io II 12) lässt erkennen, dass das Werk einem Teil der Leser des Origenes bekannt war und in einem gewissen, aber nicht allgemeinen Ansehen stand. Dies zeigt sich auch bei dem dritten – ebenfalls in Ägypten ansässigen – Zeugen, Didymus (dem Blinden) von Alexandrien. In dessen Kommentar zu den Psalmen wird das Phänomen, dass ein und dieselbe Person zwei verschiedene Namen tragen, ohne weitere Erläuterung durch einen Verweis auf das Hebräerevangelium erklärt, in dem eine solche Namensgleichheit vorkomme. Dies dürfte eine relativ breite Kenntnis in Kreisen des alexandrinischen Christentums bis in die Zeit des Didymus belegen.

Euseb von Caesarea erwähnt das „Evangelium nach den Hebräern“ in einer → Kanonliste (Eus., h.e. III 25,5) unter den umstrittenen Schriften (Antilegomena) und bezeugt seinen Gebrauch in judenchristlichen Kreisen. Unklar ist, ob er dies nur von Origenes weiß und ob die Aussage daher nur für Ägypten relevant ist oder ob sie auch für den palästinisch-syrischen Raum gelten soll. Immerhin erzählt Euseb auch von dem palästinischen Judenchristen Hegesipp (Eus., h. e. IV 22,8), dass dieser das „Evangelium nach den Hebräern“ zitiere, das Euseb von einem „syrischen“ Evangelium unterscheidet. Trifft dies zu, dann dürfte das Hebräerevangelium auch teilweise außerhalb Ägyptens bekannt gewesen sein. Außerdem weiß Euseb (h.e. III 39,17), dass dieses Werk die Geschichte einer vor dem Herrn angeklagten Sünderin enthielt, wie er sie ähnlich bei Papias vorfand (evtl. eine Parallele zu Joh 7,53ff.). Ohne präzise Quellenangabe wird eine solche Erzählung auch bei Didymus mitgeteilt, der ja das Hebräerevangelium kennt. Insofern könnte eine solche Erzählung dort enthalten gewesen sein.

Weniger vertrauenswürdig ist Eusebs Angabe, das Hebräerevangelium sei bei den → Ebionäern in Gebrauch (Eus., h.e. III 27,4). Hier liegt vielleicht nur eine Korrektur der Angabe des Irenäus vor, der notiert hatte, die Ebionäer läsen allein das → Matthäusevangelium (Iren., haer. I 26,2). Auf der Angabe des Euseb basiert dann später die Auskunft des Epiphanius, die Ebionäer bezeichneten ihr Evangelium selbst als „Evangelium der Hebräer“ (Panarion XXX 3,7). Hier wird die Bezeichnung dann auch mit der bei Papias (Eus. h.e. III 39,16) belegten Idee eines ursprünglich hebräisch abgefassten Matthäusevangeliums verbunden (Panarion XXX 13,2).

Diese Identifikation, die Euseb noch vermieden hatte, findet sich auch wirkungsvoll bei Hieronymus, der oft vom ‚Evangelium nach den Hebräern‘ und von einem ‚hebräischen Evangelium‘ spricht. Damit meint er aber ein aramäisches Werk, mit dem er sich – mehr oder weniger stark – befasst haben dürfte. Hingegen ist fraglich, ob er das bei Origenes belegte „Evangelium nach den Hebräern“ wirklich kennt. Es scheint eher, als beschränke sich seine Kenntnis dieses Werks auf die von ihm in griechischer Sprache übernommenen Zitate und vielleicht weiteren Informationen aus der Zeit seines Besuchs bei Didymus in Alexandrien.

Durch Hieronymus wurde die Rede vom „Evangelium nach den Hebräern“ „je länger je mehr zu einer Hülse“ (Lührmann, 44), in der vieles tradiert werden konnte, ohne gleich in den Verdacht des → Häretischen zu geraten. Sichere Indizien der Kenntnis und Verbreitung des Hebräerevangeliums sind für die Zeit nach Didymus jedoch nicht mehr gegeben.

2. Forschungsprobleme

Die Angaben des Hieronymus über seinen Gebrauch judenchristlicher Quellen (Klijn 1992, 16-18; Frey 2012, 581-587) bieten vielfältige Probleme. Augenscheinlich spricht der Kirchenvater an allen einschlägigen Stellen von ein und demselben Werk, das er mit unterschiedlichen Wendungen bezeichnet: „Evangelium nach den Hebräern“, „Evangelium der Hebräer“, „hebräisches Evangelium“, „das hebräische Evangelium nach Matthäus“, oder auch „nach den Aposteln“. Gelegentlich spricht auch er von dem Evangelium, das die Nazaräer in Beröa lesen, erwähnt ein Exemplar in der Bibliothek von Caesarea, verweist auf die hebräische Schrift und die „hebräische“ (d.h. wohl aramäische) bzw. „chaldäische“ Sprache und behauptet sogar, das Werk „kürzlich“ (nuper) ins Griechische und Lateinische übersetzt zu haben (Hieronymus, Michakommentar II zu Mi 7,5-7). Im Zusammenklang dieser Aussagen ergibt sich der Eindruck, dass Hieronymus nur ein judenchristliches Evangelium kannte, das er einerseits mit dem von Origenes verwendeten „Evangelium nach den Hebräern“ und zugleich mit dem, aufgrund der Papias-Notiz (Eus. h.e. III 39,16) angenommenen, „hebräischen“ Werk des Matthäus identifizierte. Dieses komplexe Geflecht von Aussagen hat die Interpreten bis zum 19. Jahrhundert zu der Auffassung geführt, es hätte nur ein einziges judenchristliches Evangelium existiert, das dann „Hebräerevangelium“, in einigen mittelalterlichen Verweisen auch „Evangelium der Nazaräer“ genannt wurde. Erst seit Hilgenfeld wurde von diesem Werk das bei Epiphanius im Bezug auf die judenchristliche Gruppe der Ebionäer erwähnte und zitierte Evangelium der Ebionäer unterschieden. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts unterschied die kritische Forschung zwischen einem griechischen Hebräerevangelium und dem aramäischen Evangelium der Nazoräer. Diese Unterscheidung wird heute in der Forschung mehrheitlich vorgenommen (Vielhauer/Strecker, Frey u.a.), wenngleich die Grenzziehung nicht eindeutig möglich ist, und abweichende Stimmen, die die Unterscheidung von Hebräer- und Nazoräerevangelium ablehnen (Mimouni, Luomanen), nicht fehlen.

Die Probleme erschließen sich am klarsten, wenn man die Aussagen des Hieronymus in ihrer chronologischen Abfolge liest (Klijn 1992,16-20). Dabei zeigt sich, dass Hieronymus seine Kenntnis judenchristlicher Traditionen erst nach und nach gewonnen hat und dass er seine ‚vollmundigsten‘ Aussagen in der Spätzeit nicht mehr wiederholt.

Erstmals verweist Hieronymus 383 in einem Brief (ep. 20,5) auf eine Textvariante, die er auf den vermeintlich hebräischen Ur-Matthäus zurückführt, doch sind seine Sprachkenntnisse zu dieser Zeit noch nicht hinreichend (Markschies 1994,141); die Variante dürfte ihm eher aus mündlicher Tradition bekannt geworden sein. Wenn er wenige Jahre später auf das ‚hebräische Evangelium‘ verweist (in Eph II, zu Eph 5,4), dann könnte dies darauf beruhen, dass er bei seinem Besuch bei Didymos in Ägypten das ‚Evangelium nach den Hebräern‘ kennengelernt hat und ein Zitat daraus entnimmt, wobei er dieses Werk dann mit dem (ihm natürlich unbekannten, von Papias erwähnten) hebräischen Ur-Matthäus identifiziert. Später spricht er davon, dass er das Evangelium „nach den Hebräern“, „das auch Adamantius [d. h. Origenes] oft benutzt“, aus dem Hebräischen bzw. Aramäischen „in die griechische und lateinische Sprache übersetzt“ habe, was zumindest im Blick auf das Griechische kaum zutreffend sein kann, da Origenes dieses Werk natürlich als Griechisches kannte und Hieronymus (in Mi II zu Mi 7,5-7) selbst daraus eine Tradition zitiert, die auch schon zweimal griechisch bei Origenes zu finden ist. Wenn er dieses Zitat später noch einmal aufnimmt, verweist er dann zusätzlich auf den Gebrauch des Werks durch die Nazaräer, d.h. er identifiziert das von Origenes zitierte „Evangelium nach den Hebräern“, das er wohl in Alexandrien bei Didymus kennengelernt hatte, nun nicht nur mit der vermeintlich ursprünglichen Evangelienschrift des Matthäus, sondern auch mit der aramäischen Evangelienschrift, die bei den Nazoräern in Beröa in Gebrauch war und aus sich Hieronymus dann später wohl Exzerpte machte. Wie viel Hieronymus vom griechischen „Evangelium nach den Hebräern“ und von der bei den Nazoräern gebrauchten aramäischen Schrift tatsächlich kannte, ist unklar. Zumindest einige der der später in seinem Matthäuskommentar zitierten Traditionen scheinen der letzteren zu entstammen. Aber mehr als eine fragmentarische Kenntnis davon hatte er kaum, sonst hätte er es schwerlich mit dem bei Origenes zitierten „Evangelium nach den Hebräern“ identifizieren können. In den späteren Schriften wiederholt Hieronymus die selbstbewusste Behauptung, das judenchristliche Evangelium übersetzt zu haben, dann auch nicht mehr. Auch die Identifikation mit dem ursprünglichen Matthäusevangelium begegnet nur noch als Vermutung „der meisten“ (adv. Pelag. II 2). Es scheint, als habe Hieronymus selbst aufgrund der verbesserten Kenntnis der aramäischen Schrift der Nazoräer nun die Differenzen zwischen dieser und dem Matthäusevangelium deutlicher erkannt und deshalb seine früheren Aussagen abgeschwächt (Thornton 120-122).

Aus dem Überblick über die Zeugnisse des Hieronymus ergibt sich, dass die von ihm zunächst rezipierte Identifikation des “Evangelium[s] nach den Hebräern” mit dem vermeintlich hebräischen Ur-Matthäus ebenso wie die Identifikation des aramäischen Evangeliums der Nazoräer mit beiden als irrtümlich anzusehen sind. Vielmehr begegnete er wohl mindestens zwei unterschiedlichen Werken, nämlich dem bei Clemens, Origenes und Didymus bezeugten „Evangelium nach den Hebräern“ und einer aramäischen Schrift, die bei den aramäisch sprechenden Judenchristen in Beröa in Gebrauch gewesen sein soll.

Diese Differenzierung zwischen dem „Evangelium nach den Hebräern“ und einem aramäischen → „Evangelium der Nazoräer“ legt sich in Anbetracht der Zeugnisse über judenchristliche Evangelien aus der Zeit vor Hieronymus nahe. Der wichtigste Hinweis stammt von Euseb, der über das Werk des palästinischen Judenchristen Hegesipp schreibt: “Er [Hegesipp] zitiert sowohl aus dem Evangelium nach den Hebräern als auch aus dem syrischen [Evangelium], und besonders aus der hebräischen Sprache…“ (h.e. IV 22,8). Hegesipp hat also nach Eusebs Wahrnehmung aus zwei verschiedenen Werken zitiert, dem „Evangelium nach den Hebräern“ (das Euseb zumindest aus Clemens und Origenes bekannt war), und aus einer „syrischen“ oder aramäischen Schrift, die Euseb nicht mit dem „hebräischen“ Matthäusevangelium identifiziert. Wenn er später in seiner „Theophanie“ noch weiter aus einem Evangelium „in hebräischen Buchstaben“ zitiert (theoph fr. IV 22), identifiziert er es gerade nicht mit dem Hebräerevangelium.

Daher ist trotz der Schwierigkeiten, einzelne bei den Vätern zitierte Traditionen dem einen oder anderen Werk zuzuordnen, von der Unterscheidung zwischen einem griechischen „Evangelium nach den Hebräern“ und einer aramäischen, in der Forschung „Nazoräerevangelium“ genannten Evangelienschrift auszugehen.

3. Textbestand

Die Frage, welche der überlieferten Fragmente dem aus Clemens, Origenes und Didymus bekannten griechischen Werk zugeordnet werden dürfen und welche sich auf ein anderes, aramäisches Werk beziehen, lässt sich nicht eindeutig klären und wird in der Forschung im Detail unterschiedlich rekonstruiert. Einige Forscher (Mimouni, Luomanen) verzichten nach wie vor auf diese Unterscheidung und ordnen alle Fragmente außer den bei Epiphanius für das Evangelium der Ebionäer zitierten, dem Hebräerevangelium zu. Nimmt man die oben begründete Unterscheidung vor, so ist das wichtigste Kritierium zunächst die Sprache: So ist der rhetorisch kunstvoll geformte, bei Clemens zitierte Stufenspruch über den Weg zur Herrschaft und zur Ruhe, der nur griechisch entstanden und nicht aus einer semitischen Sprache übersetzt sein kann, eindeutig dem Heebräerevangelium zuzuordnen, hingegen sind Parallelen oder Varianten im Hebräischen bzw. Aramäischen eher einem semitischen Werk zuzuordnen.

Neben dem bei Clemens zitierten (und im Thomasevangelium belegten) Stufenspruch ist das bei Origenes zweimal zitierte und von Hieronymus noch dreimal aufgenommene Fragment über die → Entrückung Jesu durch den Geist auf den Berg → Tabor sicher dem Hebräerevangelium entnommen. Der bei Didymus überlieferte Hinweis auf die Matthias/Levi-Namensgleichheit lässt erschließen, dass das Werk die Erzählung von der Berufung des Levi unter dem Namen des Matthias (vgl. Mt 9,9: Matthäus) enthielt. Hierher gehört wohl auch das bei Hieronymus (in seinem Kommentar zu Eph) aus dem ‚hebräischen Evangelium‘ zitierte Wort über die Freude an der Liebe zum Bruder, ebenso vielleicht auch das Logion, das unter die größten Sünden zählt, „wer seines Bruders Geist betrübt hat“ (Hieronymus, in Ezech VI). Schließlich ist das Fragment über die Ersterscheinung des Auferstandenen vor Jakobus (Hieronymus, vir. ill. 2,12f.), aufschlussreich, da es eine Erzählung vom letzten Mahl Jesu (unter Teilnahme des Herrenbruders Jakobus) voraussetzt und einen Bericht der → Auferstehung, nach dem sich diese vor den Augen von unbeteiligten Zeugen (hier: dem Knecht des Hohepriesters) manifestiert hat. Das im Jesaja-Kommentar des Hieronymus (in Is IV) auf das hebräische Evangelium der Nazaräer zurückgeführte Zitat über die Taufe Jesu, in dem der Geist Jesus als seine ‚Ruhe‘ bezeichnet, dürfte aus sachlichen Gründen (vgl. die Parallele zu frg. 1) vielleicht ebenfalls zum Hebräerevangelium zu rechnen sein. Unsicher ist die bei Didymus „aus gewissen Evangelien“ erwähnte Geschichte von der vor Jesus angeklagten Sünderin, die sich mit Hilfe der Angabe Eusebs (h.e. III 39,17) vorsichtig auch dem Hebräerevangelium zuordnen lässt.

Aufbau und Umfang des Hebräerevangeliums lassen sich aus diesem kleinen Bestand kaum sicher rekonstruieren. Das Werk scheint von Jesu Taufe und Versuchung berichtet zu haben, ebenso von seinem letzten Mahl, seiner Auferstehung und einer Erscheinung des Auferstandenen vor Jakobus. Die übrigen Szenen, die Logien oder die Erzählung von der Sünderin lassen sich in diesen Rahmen nicht genauer einordnen. Die späte Stichometrie des Nikephorus zählt für das Hebräerevangelium 2200 Zeilen, doch bleibt unsicher, ob sich die Angabe tatsächlich auf dieses Werk bezieht.

Alle Fragmente weisen klare Unterschiede zu den jeweiligen Parallelen in den kanonischen Evangelien auf oder sind dort sogar ohne Entsprechung. Dies mag auf Zufällen der Überlieferung bzw. der Auswahl der Zitate durch die Kirchenväter beruhen, doch ist deutlich, dass es sich hier um einen in Stoff und Details eigenständigen narrativen Text vom Wirken Jesu (von seiner Taufe bis zu seiner Auferstehung) handelte.

4. Einleitungsfragen

Die Bezeugung des Werks bei Clemens, Origenes und Didymus weist auf eine Verbreitung des Hebräerevangeliums im ägyptischen Christentum hin. Der Titel des Werks sagt nur etwas über die Trägerkreise, nichts über die Sprache aus. Er verweist wohl auf griechisch sprechende judenchristliche Kreise. Diese wären allerdings in Palästina kaum als „Hebräer“ bezeichnet worden. D. h., der Titel verweist aus nichtpalästinischer Perspektive auf eine Evangelienschrift griechisch sprechender Judenchristen (im Unterschied zu Evangelien anderer, z.B. heidenchristlicher Gruppen). Walter Bauer hat vermutet, dass der Titel als Pendant zum Titel „Evangelium nach den Ägyptern“ geschaffen wurde, um das Werk der ägyptischen Judenchristen so von dem der dortigen Heidenchristen zu unterscheiden (Bauer, Rechtgläubigkeit, 54-57). Dies bleibt eine Hypothese, doch lässt sich aus der frühen Bezeugung in Ägypten und evtl. auch aus dem theologischen und religionsgeschichtlichen Charakter einiger Fragmente vorsichtig auf eine Herkunft aus dem alexandrinischen Judenchristentum schließen. Eine Anknüpfung an palästinische Traditionen (z.B. der Protophanie vor Jakobus) ist anzunehmen, doch ist das Werk kaum eine Übersetzung einer palästinisch-judenchristlichen, aramäischen oder hebräischen Vorlage.

Eine präzise chronologische Eingrenzung ist schwer möglich. Das Werk dürfte das Martyrium des Herrenbruders Jakobus voraussetzen, also nach 70 entstanden sein. Terminus ad quem ist die Zitierung bei Clemens bzw. die Rezeption bei Hegesipp, d.h. die 2. Hälfte des 2. Jh.s. Wahrscheinlich ist das Werk also in der ersten Hälfte des zweiten Jh.s in Ägypten entstanden, eventuell vor den für die jüdische → Diaspora katastrophalen Aufständen unter → Trajan (115-117 n. Chr.), durch die wohl auch das Judenchristentum in Ägypten entscheidend geschwächt wurde.

5. Theologische Akzente

Auf eine judenchristliche Prägung des Werks weisen nicht alle hier zugeordneten Fragmente in gleicher Deutlichkeit hin. Am signifikantesten ist die Zuweisung der Protophanie des Auferstandenen an den Herrenbruder Jakobus, der nach seinem Martyrium als „Jakobus der Gerechte“ (Hegesipp bei Eus. h.e. II 23,4-7 u.ö.) zum „Heros des Judenchristentums“ (Klauck, Evangelien, 61) wurde. Nach den kanonischen Evangelien war er vor Ostern kein Nachfolger Jesu; 1Kor 15,7 berichtet zwar eine Begegnung mit dem Auferstandenen, doch wird die Ersterscheinung in 1Kor 15,4 Petrus zugeschrieben. Hier wird der Herrenbruder nun Teilnehmer am letzten Mahl Jesu. Durch sein Gelübde „er werde kein Brot mehr essen von der Stunde an, in der er den Kelch des Herrn getrunken hatte, bis er ihn von den Entschlafenen auferstehen sehe“ (vgl. Mk 14,25), wird er nicht nur als jüdischer Frommer, sondern auch als schon vor Ostern paradigmatisch Glaubender gezeichnet. Jakobus wird so als Haupt der (judenchristlichen) Gemeinde nach Ostern legitimiert. Zugleich wird hier die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu apologetisch bekräftigt: Wenn Jesus das Leichentuch dem Knecht des Hohenpriesters selbst übergibt, dann wird ein Repräsentant der Juden quasi ‚neutraler‘ Zeuge der Auferstehung – ein Motiv, das dann in der Grabwächterepisode des → Petrusevangeliums breit ausgearbeitet ist. Die judenchristliche Färbung der Überlieferung zeigt sich auch am Gebrauch des Terminus „der → Menschensohn“, der außer in den kanonischen Evangelien im Munde Jesu und in Act 7,56 gerade in dem bei Euseb mitgeteilten Bericht des Hegesipp (Eus., h.e. II 23,13) begegnet, nach dem Jakobus den Terminus verwendet.

Im Fragment über die Taufe Jesu, in der der Heilige Geist nach dem Heraufsteigen Jesu aus dem Wasser auf ihn herabkommt und auf ihm ruht (Jes 11,2), wird in Anlehnung an die jüdische Weisheitstradition (Sir 24,7; Weish 7,27) der Weisheits-Geist als die Gestalt gezeichnet, die in den Propheten wirksam war und auf ihren endgültigen Ruheort wartete. In Jesus inkarniert sich mithin der präexistente → Erlöser, wie auch die → Kerygmata Petrou von einer langen Reihe von Gestalten wissen, die Jesus vor seiner Inkarnation durchlaufen hat (Ps.-Clem. Hom III 20,2). Auffällig ist, dass Jesus hier nicht wie in den Synoptikern von der Stimme Gottes selbst, sondern vom Geist als Sohn angesprochen wird. Der Geist erscheint somit auch als die Mutter Jesu. Dies geschieht nicht allein in Anlehnung an das im Hebräischen feminine ruaḥ, sondern vor allem in Anlehnung an Traditionen der jüdischen Weisheit. In dem die Versuchungserzählung variierenden Fragment über den „Transport“ Jesu zum Tabor heißt es demnach auch: „Sogleich ergriff mich meine Mutter, der heilige Geist, an einem meiner Haare, und trug mich weg auf den großen Berg Tabor…“ (Orig. in Joh II 12). Auch der von Clemens zweimal zitierte Kettenspruch vom Staunen und Herrschen (Stromata V 96,2) findet, ist auf hellenistisch-jüdische Weisheitstheologie zurückzuführen.

6. Wirkung

Das Werk war im ägyptischen Christentum offenbar in weiteren Kreisen bekannt. Clemens konnte in diesem an jüdisch-hellenistischer Weisheitstheologie orientierten Werk eine Affinität zu seiner eigenen philosophisch-theologischen Position sehen. Der Einfluss dieser Schrift blieb jedoch auf den ägyptischen Raum konzentriert: Origenes und Didymus zitieren die Schrift und setzen offenbar ihre Kenntnis bzw. Anerkenntnis bei Teilen ihrer Leserschaft voraus. Euseb kannte das Werk wohl über Origenes, doch verzeichnet er es unter den umstrittenen Evangelien. Hieronymus kennt es wohl ebenfalls über Origenes und durch seinen Besuch bei Didymus.

Erst durch die Identifikation mit dem vermeintlich hebräischen Ur-Matthäus und der in Palästina bekannten aramäischen Evangelienbearbeitung der Nazoräer hat Hieronymus das Bild jenes „Hebräerevangeliums“ geschaffen, das dann im Mittelalter und in der Neuzeit seit Lessing die Phantasie angeregt hat und ganz unterschiedliche Traditionen vereinen und legitimieren konnte.

Literaturverzeichnis

1. Lexikon- und Handbuchartikel sowie Textsammlungen

  • J. Frey, 2012, Die Fragmente judenchristlicher Evangelien, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg., in Verb. mit A. Heiser), Antike christliche Apokryphen, Bd 1: Evangelien und Verwandtes, Teil 1, Tübingen, 560-592
  • J. Frey, 2012, Die Fragmente des Hebräerevangeliums, in: C. Markschies / J. Schröter (Hg., in Verb. mit A. Heiser), Antike christliche Apokryphen, Bd 1: Evangelien und Verwandtes, Teil 1, Tübingen, 593-606 (sowie die Synopse 649-654)
  • P. Vielhauer / G. Strecker, 1987, Judenchristliche Evangelien, in: E. Hennecke / W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 1: Evangelien, 5. Aufl. Tübingen, 114-147 (bes. 142-147)
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  • A. F. J. Klijn, 1992, Jewish-Christian Gospel Tradition, VigChrSup 17, Leiden u.a.
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2. Weitere Literatur

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  • J. Frey, 2003, „Et numquam laeti sitis…“ – Ein apokryphes Jesuswort und die Probleme des Hebräerevangeliums, in: Gunda Brüske / Anke Haendler-Kläsener (Hg.), Oleum Laetitiae, Festschrift für P. Benedikt Schwank OSB zum 80. Geburtstag, Jerusalemer Theologisches Forum 5, Münster (Aschendorff), 187-212
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  • D. Lührmann, 1987, Das Bruchstück aus dem Hebräerevangelium bei Didymos von Alexandrien, Novum Testamentum 29, 265-279
  • D. Lührmann, 2004, „Das Hebräerevangelium, das von den meisten das ursprüngliche des Matthäus genannt wird.“ Das Problem der „judenchristlichen Evangelien“, in: ders., Die apokryph gewordenen Evangelien, NT.S 112, Boston u.a., 229–258
  • P. Luomanen, 2012, Recovering Jewish-Christian Sects and Gospels, VigChrSup 110, Leiden – Boston, 83-144
  • S. C. Mimouni, 1998, La documentation judéo-chrétienne ‚orthodoxe‘: présentation des évangiles judéo-chrétiens, in : ders., Le judéo-christianisme ancien : essais historiques, Paris, 207-225 ; Engl. Übersetzung: The ‘Orthodox’ Judaeo-Christian Documentation : The Ebionite Literature, in : ders., Early Judaeo-Christianity. Historical Essays, Interdisciplinary Studies in Ancient Culture and Religion 13, Leuven 2012, 175-196
  • A. Schmidtke, 1911, Neue Fragmente und Untersuchungen zu den Judenchristlichen Evangelien, Texte und Untersuchungen III/1, Leipzig
  • H. Waitz, 1937, Neue Untersuchungen über die sogenannten judenchristlichen Evangelien, ZNW 36 , 60-81

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