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Gnadenjahr

(erstellt: Januar 2006)

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Im → Tritojesajabuch (Jes 56-66) meldet sich in Jes 61,2 die Stimme eines gesalbten Geistträgers zu Wort, der sich von Gott beauftragt weiß, den Armen eine frohe Botschaft zu verkünden, den Gefangenen Freiheit zuzusagen und „ein Gnadenjahr Jahwes“ auszurufen – wörtlich „ein Jahr des Wohlgefallens für Jahwe“ (שְׁנַת־רָצוֹן לַיהוָה). Gemeint ist eine Zeit, die ganz von der Gnade Gottes bestimmt ist.

Jes 58,5 spricht von „einem Tag des Wohlgefallens für Jahwe“ (יוֹם רָצוֹן לַיהוָה). Das klingt auf den ersten Blick sehr ähnlich, meint jedoch etwas ganz anderes. Der Ausdruck bezeichnet einen Tag, an dem Jahwe Gefallen hat, d.h. an dem die Menschen sich so verhalten, dass Jahwe an ihm Gefallen hat. In Jes 61,2 geht es aber gerade nicht darum, dass eine Zeit von Menschen so gestaltet wird, dass Gott an ihr Gefallen findet. Vielmehr ist es hier Gott, dessen Verhalten die Zeit bestimmt. Deswegen ist רָצוֹן rāṣôn in Jes 61,2 nicht im Sinne von „Gefallen“, sondern von „Gnade“ zu verstehen.

Bei ליהוה „für Jahwe“ handelt es sich um ein Attribut ohne Relativpronomen, so dass die Wendung – anders als im Falle einer Constructus-Verbindung – indeterminiert ist: „ein Jahr der Gnade(, das) Jahwe (gehört)“ (vgl. GesK § 129; E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen, Bd. 3, Stuttgart u.a. 2000, 57.78). Das Jahr ist also nicht „für Jahwe“, sondern für Jerusalem, und Jahwe ist das Subjekt des gnadenvollen Handelns.

Der Ausdruck „ein Jahr der Gnade Jahwes“ nimmt Jes 49,8 auf, wo die von → Deuterojesaja verkündete und anbrechende Heilszeit – vor allem das Auftretendes → Kyros und die Rückkehr aus dem → Exil – als „Zeit der Gnade“ (עֵת רָצוֹן) und parallel dazu als „Tag der Rettung“ bezeichnet wird. Zugleich nimmt der Ausdruck die Überlieferung vom → Jobeljahr auf. Jes 61,1 bezieht sich nämlich mit der Wendung „eine Freilassung ausrufen“ auf das Gesetz zum Jobeljahr (Lev 25,10). In dem alle 50 Jahre stattfindenden Jahr sollten nach Lev 25 alle Israeliten, die aufgrund einer finanziellen Notlage ihr Grundstück verkauft hatten oder zu Schuldsklaven geworden waren, ihr Land und ihre Freiheit zurückerhalten. So wurde ihre Notlage beendet. Diese sehr konkrete Regelung, von der wir nicht wissen, ob sie je umgesetzt wurde, wird in Jes 61 auf die aktuelle Situation übertragen. Sie gilt nicht mehr verarmten Einzelpersonen, sondern ganz Israel, um in der trostlosen nachexilischen Zeit ein umfassendes Ende aller Nöte und damit den Beginn der endgültigen Heilszeit anzukündigen, die Jes 60-62 ausführlich schildert. Der Rückgriff auf die religiöse Überlieferung zielt darauf, die neue Botschaft aus dieser abzuleiten und damit zu legitimieren.

In einem Text aus → Qumran, der das Gesetz zum Jobeljahr auslegt, wird die Ankündigung eines Gnadenjahrs aus Jes 61,2 aufgenommen und auf die jetzt ganz anders gedachte endzeitliche Erlösung bezogen, nämlich auf das Gericht Gottes, bei dem Melchizedek die Heiligen aus der Hand Belials befreit und ihnen die Herrschaft überträgt (11QMelchizedek = 11Q13, Kol. II,9).

Die sog. Antrittspredigt Jesu in Lk 4,16-21 zitiert Jes 61,1f, um die Erfüllung dieses Schriftwortes zu konstatieren. Dadurch wird Jesus mit dem gesalbten Geistträger identifiziert und das Gnadenjahr als die eschatologische Heilszeit verstanden, die in Jesu Wirken anbricht.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff (רצה)
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Zimmerli, W., Das „Gnadenjahr des Herrn“, in: A. Kuschke / E. Kutsch, Archäologie und Altes Testament (FS K. Galling), Tübingen 1970, 321-332; auch in: W. Zimmerli, Studien zur alttestamentlichen Theologie und Prophetie. Gesammelte Aufsätze II (TB 51), München 1974, 222-234

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