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(erstellt: April 2015)

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Der Begriff „Gnadenformel“ wurde 1990 von Hermann Spieckermann für eine Formulierung geprägt, die mit geringen Variationen mehrfach im Alten Testament belegt ist. Sie lautet in Ps 103,8 nach der Lutherübersetzung: „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte“ (רַחוּם וְחַנּוּן יְהוָה אֶרֶךְ אַפַּיִם וְרַב־חָסֶד). Es handelt sich um eine der wenigen nominalen Wesensaussagen über Gott im Alten Testament. Sie wird von einigen Autoren ins Zentrum der Diskussion über eine Theologie des Alten Testaments gestellt (Spieckermann 1990, 2001; Michel 2003).

1. Belege

Siebenmal ist die vollständige Formel in unterschiedlichen syntaktischen Zusammenhängen belegt. Dabei gibt es Varianzen in der Reihenfolge von רַחוּם raḥûm „gnädig“ und חַנּוּן ḥannûn „barmherzig“ (רַחוּם raḥûm an erster Stelle in Ex 34,6; Ps 86,15; Ps 103,8. חַנּוּן ḥannûn an erster Stelle in Jo 2,13; Jon 4,2; Ps 145,8; Neh 9,17). Weitere Stellen werden als mögliche, teils sehr indirekte Anspielungen auf die „Gnadenformel“ (in Form von Ex 34,6-7) angeführt, darunter Ex 20,5f.; Ex 33,19; Num 14,18; Dtn 4,31; Dtn 5,9f.; Dtn 7,9f.; Jes 48,9; Jes 54,7f.; Jes 63,7; Jer 15,15; Jer 32,18; Mi 7,18; Nah 1,2f.; Ps 78,38; Ps 86,5; Ps 99,8; Ps 111,4; Ps 112,4; Ps 116,5; Dan 9,4; Neh 1,5; Neh 9,31f.; 2Chr 30,9; Sir 2,11; Sir 5,4-7 (Spieckermann 2001, 205 Anm. 9). Die sieben Belege der Gnadenformel werden meist exilisch-nachexilisch datiert, kontrovers ist hierbei besonders Ex 34,6. Außerdem wird Ex 34,7 hinsichtlich seines Zusammenhangs mit Ex 34,6 und im Blick auf mögliche weitere Bezüge diskutiert (vgl. Michel 2003, 118-120).

2. Traditionsgeschichte

Eine außerbiblische Vorgeschichte der ganzen Formel kann nicht erhoben werden. Weil in mehreren Belegen (Ex 34,6; Jon 4,2; Ps 86,15; Neh 9,31) das Substantiv אֵל ’el („Gott“, aber auch Eigenname des Gottes → El) durch die attributiven Adjektive רַחוּם raḥûm und חַנּוּן ḥannûn charakterisiert wird, ist eine Beziehung zum Gott El erwogen worden. Dieser wird in ugaritischen Texten häufig als lṭpn il dpid (lṭpn „der Gütige / Freundliche“; dpid „der des Herzens / Sinns“; dazu Kottsieper im Art. → El) bezeichnet. Bei allen möglichen inhaltlichen Berührungen ist eine direkte Abhängigkeit zwischen beiden Formulierungen unwahrscheinlich, denn im Ugaritischen sind die Wurzeln rḥm und ḥnn belegt, aber eben nicht in so formelhaftem Gebrauch (Franz 2003, 79). Wenn im Hebräischen „Gott“ mit attributiven Adjektiven steht, wird das sonst überwiegend verwendete Substantiv אֱלֹהִים ’älohîm vermieden, vermutlich wegen des Problems der Numeruskongruenz. Daher ist אֵל ’el hier nicht auffällig (Franz 2003, 112f.).

Die Wurzel רחם rḥm für die Charakterisierung von Gottheiten als barmherzig ist im nordwestsemitischen Sprachraum zum ersten Mal auf der akkadisch-altaramäischen Stele von Tell Feḫerije greifbar. Der Gott Hadad-Sikan wird hier ’lh rḥmn zj tṣlwth ṭbh „der barmherzige Gott, den anzubeten gut ist“ genannt (KAI 309,5; Healey 1998, 351f.). Zur weiteren Wirkungsgeschichte der Formulierung, vor allem im Islam vgl. Healey 1998, Kiltz o.J.

Eine große terminologische Nähe zu Ex 34,6-7 hat die Inschrift B aus Chirbet Bēt Lajj (BLay(7):2) in der Lesung von Renz 1995, 248: פקד יה אל חנן נקה יה יהוה „Schreite ein, Jah, gnädiger Gott; erkläre straffrei, Jah, Jahwe!“

3. Verhältnis der Belege zueinander

Ex 34 wird gern als zentrale Bezeugung gewertet, von der die anderen Belege abhängig sind (Franz 2003, Michel 2003). Bei einigen der Stellen ist es eindeutig, dass sie sich auf die Formel als allgemein bekanntes Traditionsgut zurückbeziehen (z.B. Jon 4,2). Ex 34 ist auffällig: Hier charakterisiert sich JHWH und spricht dabei in der 3. Person, verwendet die Formulierung also genau so, wie sie auch sonst belegt ist. Deshalb könnte sie bereits hier als bekannt vorausgesetzt und rezipiert sein. In ihrer Sprachgestalt (Adjektive, „hymnische“ Partizipien) entspricht sie liturgischen Formen. Daher könnte sie ursprünglich aus dem kultischen Gotteslob stammen (Spieckermann 2001, 4-5, 204; Feldmeier / Spieckermann 2011, 132f.; vgl. Dentan 1963, 37, der von weisheitlicher Prägung ausgeht; Scharbert 1957, 131-132). Da Ex 34,6-7 Gottesrede ist, charakterisiert Franz (2003, 153) die Verse als „Theologie gewordene Prophetie.“ Er sieht besonders enge Verbindungen auf sprachlicher und sachlicher Ebene zu → Hosea.

Darüber hinaus wird die Bedeutung der Gnadenformel für das → Zwölfprophetenbuch diskutiert. Auf synchroner Ebene arbeitet Scoralick (2002, 131-203) die vielfältigen Bezüge von Ex 34,6-7 zu diesem Corpus heraus und deutet die Verse als „Schlüsseltext zum Verständnis der Einheit des Zwölfprophetenbuchs und der Schriftfolge in seiner MT-Endgestalt“ (204). Die Interpretation auf der Ebene der Textgenese ist kontrovers. Wöhrle sieht eine Redaktionsschicht im → Jonabuch (Jon 1,5*-6*.8*.10*.14.16; 2,2-10; 3,6-10; 4,1-4.6*.10-11), die mit einer übergreifenden Redaktion des Zwölfprophetenbuchs in Verbindung steht (Jo 2,12-14; Mi 7,18-20; Nah 1,2-3; Mal 1,9). Diese Redaktion rahmt das entstehende Zwölfprophetenbuch (ohne Hosea) und steht in seinem Zentrum; sie integriert das überarbeitete Jonabuch. Sie orientiert sich an der Vergebungsbereitschaft JHWHs und ihren Grenzen durch sprachliche Anspielungen auf die Gnadenformel aus Ex 34 (Wöhrle 2009). Eine alternative Erklärung sieht Jona insgesamt als Einheit. Die Anspielungen auf die Gnadenformel im Zwölfprophetenbuch korrespondieren dann nicht notwendigerweise miteinander. Ex 34,6-7 könnte sogar der Ausgangspunkt für die Abfassung des Jonabuchs sein, das theologisch auf Joel reagiert und sein Material aus Nahum generiert (Spronk 2009).

Zur Rezeption der Gnadenformel bei → Jesus Sirach vgl. Witte 2008.

4. Bedeutung für eine Theologie des Alten Testaments

Spieckermann geht von der Gnadenformel in der Gestalt und im Kontext von Ex 34,6-7 aus bei der Entwicklung einer Theologie des Alten Testaments, deren Ursprung er in „Gottes Selbstbestimmung zur Liebe“ sieht. Ex 34,6-7 ist Gottesrede, d.h. Selbstcharakterisierung Gottes angesichts des Bundesbruchs, in der die begrenzte Strafe asymmetrisch der unbegrenzten Vergebungsbereitschaft und Gnade gegenübersteht (Spieckermann 2001, 202-207; anders Michel 2003, 115-116).

Sucht man Querbeziehungen zu anderen Texten des Pentateuch, so erweist sich Ex 34,6-7 bei einer rezipientenorientierten Lesung als „hochverdichteter Schlüsseltext“, zumindest von Exodus bis Deuteronomium (Michel 2003,118). Trotz des Fehlens von Bezügen in den Vorderen Propheten, den großen Propheten und der älteren Weisheitsliteratur wertet auch Michel Ex 34,6-7 (beide Verse!) als „Kristallisationsmoment“ und „Schlüssel“ zur Erschließung einer Theologie des Alten Testaments, der allerdings auch wichtige Texte und Bücher nicht berücksichtigt (Michel 2003,121-122).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995

2. Weitere Literatur

  • Dentan, R.C., The Literary Affinities of Exodus XXXIV 6f, VT 13 (1963), 34-51.
  • Feldmeier, R. / Spieckermann, H., Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (TOBITH 1), Tübingen 2011.
  • Franz, M., Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34, 6-7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt (BWANT 160), Stuttgart 2003.
  • Healey, J.F., The Kindly and Merciful God. On Some Semitic Divine Epithets, in: M. Dietrich / I. Kottsieper (Hgg.), „Und Mose schrieb dieses Lied auf“. Studien zum Alten Testament und zum Alten Orient (FS Oswald Loretz; AOAT 250), Münster 1998,349-356.
  • Kiltz, D., Statue aus Tell Fekheriye, in: www.corpuscoranicum.de/kontexte/index/sure/1/vers/1 (Zugriff: 2.4.2015).
  • Kottsieper, I., Art. El, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2013 (Zugriff: 2.4.2015).
  • Michel, A., Ist mit der „Gnadenformel“ von Ex 34, 6 (+7?) der Schlüssel zu einer Theologie des Alten Testaments gefunden? BN 118 (2003), 110-123.
  • Renz, J., Die althebräischen Inschriften. Teil 1: Text und Kommentar (HAE 1), Darmstadt 1995.
  • Scharbert, J., Formgeschichte und Exegese von Ex 34, 6f und seiner Parallelen, Bib. 38 (1957), 130-150.
  • Scoralick, R., „JHWH, JHWH, ein gnädiger und barmherziger Gott…“ (Ex 34, 6). Die Gottesprädikationen aus Ex 34,6f. in ihrem Kontext in Kapitel 32-34, in: M. Köckert / E. Blum (Hgg.), Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32-34 und Dtn 9-10 (VWGTh 18), Gütersloh 2001, 141-156.
  • Scoralick, R., Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Ex 34,6f und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg u.a. 2002.
  • Spieckermann, H., „Barmherzig und gnädig ist der Herr…“, in: Ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33), Tübingen 2001, 3-19; = ZAW 102 (1990), 1-18.
  • Spieckermann, H., Die Liebeserklärung Gottes. Entwurf einer Theologie des Alten Testaments, in: Ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33), Tübingen 2001, 197-223.
  • Spieckermann, H., Wrath and Mercy as Crucial Terms of Theological Hermeneutics, in: R.G. Kratz / H. Spieckermann (Hgg.), Divine Wrath and Divine Mercy in the World of Antiquity (FAT II / 33), Tübingen 2008, 3-16.
  • Spronk, K., Nahum, and the Book of the Twelve: A Response to Jakob Wöhrle, JHS 9 (2009), article 8 (www.jhsonline.org/Articles/article_110.pdf, Zugriff: 2.4.2015)
  • Witte, M., „Barmherzigkeit und Zorn Gottes“ im Alten Testament am Beispiel des Buchs Jesus Sirach, in: R.G. Kratz / H. Spieckermann (Hgg.), Divine Wrath and Divine Mercy in the World of Antiquity (FAT II / 33), Tübingen 2008, 176-202.
  • Wöhrle, J., A Prophetic Reflection on Divine Forgiveness: The Integration of the Book of Jonah into the Book of the Twelve, JHS 9 (2009), article 7 (www.jhsonline.org/Articles/article_109.pdf, Zugriff: 2.4.2015).

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