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Gier (AT)

(erstellt: April 2020)

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1. Wortbedeutungen

Das deutsche Wort „Gier“ geht auf mittelhochdeutsch gir[e], althochdeutsch girī zurück, eine Nominalbildung zu dem durch „gierig“ verdrängten Adjektiv mittelhochdeutsch gir, althochdeutsch giri „begehrend / verlangend“. Das Verb „gieren“ im Sinne von „heftig verlangen“ (14. Jh.), das nach heutigem Sprachgefühl auf „Gier“ zurückgehen müsste, ist vermutlich eine davon unabhängige Verbalbildung der Wurzel gern (Duden, 242). Die heute verbreitete Bedeutung des Wortes „Gier“ stammt erst aus dem 18. Jh. In seiner ursprünglichen Bedeutung entspricht es dem → „Begehren“.

Dazu heißt es im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm: In alter Sprache meint gir „eine seelische grundkraft, ohne das gewicht auf eine besondere stärke des begehrens zu legen (…) mehr gelegentlich als ein verlangen allgemeinster art, fast soviel wie bedürfnis.“ … „der moderne intensive Gebrauch setzt reichlicher erst vom mittleren 18. Jh. an ein; … nunmehr bezieht sich das wort in weitem ausmasz in meist abschätziger Wertung auf bestimmte sachbereiche, besonders der besitzgier und des animalischen triebes (…); das legt nahe, hierin einen einflusz des nd. gīr zu suchen: dieses bedeutet gerade meist ‚habgier‛ und ‚geiz‛ und ihm steht auch das raffende und unmäszige, auch dumpfe, triebhafte, leidenschaftliche (gewissermaszen ‚mit aufgesperrtem rachen‛) in der modernen bedeutung von gier am nächsten.“ (DW Bd. 7 Sp. 7357-59)

Zur Differenzierung weist der Autor des Deutschen Wörterbuchs dem Begehren im Lateinischen die concupiscentia zu, der Gier die cupiditas; πλεονεξία pleonexia bezeichnet die unstillbare Gier (Busse, 322). Gesenius führt im Index seines Wörterbuchs (18. Aufl.) für Gier die hebräischen Äquivalente הַוׇּה hawwāh, נֶפֶֶשׁ næfæš, תַּאֲוָה ta’ǎwāh auf. Damit ist ein Großteil der Lexeme erfasst, die von deutschen Bibelübersetzungen mit „Gier“ und seinen Derivaten wiedergeben werden. Darüber hinaus gibt es eine Anzahl biblischer Passagen, die das thematisieren, was wir „Gier“ nennen, und dafür Narrative und Metaphern verwenden. Ein Spezialfall der Metapher ist die Prosopopöie (griech. προσωποποιία prosōpopoiía), mittels derer die Gier in mythischen Figuren ihr Gesicht erhält. Das Bild desjenigen, der den Hals nicht voll kriegen kann, illustriert in der Sprache der Gegenwart gierige Maßlosigkeit und findet in der Mythologie des Alten Orients bemerkenswerte Analogien. Vor diesem Hintergrund erlangt auch manch alttestamentlicher Text eine eindrucksvolle Deutung.

2. Eine religionsgeschichtliche Spur in Ugarit

Die im 14. Jh. v. Chr. geschriebenen und zwischen 1930-33 entdeckten sechs Tafeln des Baal-Zyklus (→ Baal; → Ugarit) haben einen vielschichtigen kosmogonischen und soziologischen Kosmos bewahrt, „der auf eindrückliche mythisch(-episch)e Weise von der Geschichte und Gegenwart der ugaritischen Dynastie, der altsyrischen Hafen- und Landbesitzerstadt und von deren Willen handelt, durch die Rituale des Neujahrsfestes eine glückliche Zukunft zu erlangen.“ (Dietrich / Loretz, 1100). Die fünfte Tafel schildert den Konflikt zwischen dem Wetter- und Dynastiegott Baal und dem Dürre- und Todesgott → Mot, der die wechselnden Machtverhältnisse im Erntejahr, den von Dürre geprägten Sommer und den regenreich fruchtbaren Winter, repräsentiert. Mot wird am Ende zwar zurückgedrängt, aber nicht besiegt. Der Mythos zeichnet ihn in Bildern der Gier, bereits die Kampfansage Mots in KTU 1.5, ist davon durchtränkt:

„… 5 Ich will dich gefangen setzen, ich werde dich verzehren in 6 blutigen Stücken von zwei Ellen! Du wirst hinabsteigen 7 in den Rachen des göttlichen Mot, in den 8 Schlund des Geliebten Els, des Helden.“ (Dietrich / Loretz, 1174)

Die gewaltigen Stücke von zwei Ellen zeigen die Größe des geöffneten Rachens bzw. die Gier, diese unzerkaut zu verzehren; die Betonung des Gierorgans wird durch den Parallelismus verdoppelt. In den folgenden Versen wird Mots Schlund als die schier entgrenzte Supermacht alles vernichtender Gier ins Bild gesetzt.

„… Mein Schlund ist der Rachen der Löwen 15 in der Wüste, ja, der Rachen des Wals (Hais, vgl. Gulde, 88) 16 im Meer. Siehe, 17 die Stiere (Büffel, vgl. Gulde, 88) jagen nach dem Teich, ›ja‹, die Hindinnen hetzen nach der Quelle. 18 Siehe, wahrlich, wahrlich mein Schlund verschlingt 19 Lehm (Esel, vgl. Gulde, 88), ja, wahrlich mit meinen 20 beiden Händen will ich essen! Siehe, meine sieben 21 Teile in der Schüssel, ja in meinem Becher wird ein Fluss gemischt!“ (Dietrich / Loretz, 1174f)

Die im Reich des Mythos gefräßigsten und durstigsten Vertreter dienen der Analogie unaufhaltbarer Bedürftigkeit, der rohe Zustand der Gierobjekte der Darstellung von Wahllosigkeit, die Portionenanzahl der Maßlosigkeit des Hungers. Mot ist in seiner unersättlichen, grenzenlosen Gier, sich Welt und Leben einzuverleiben, die Leben fressende Todesmacht, die nicht einmal vor den eigenen Geschwistern halt macht (KTU 1.6 VI,7+8), der Feind des Lebens.

Die im Mythos beschriebene Pattsituation setzt die Notwendigkeit der wechselseitigen Selbstbeschränkung (Xella, 292) beider Kräfte ins Bild. Sommerlicher Wassermangel, Hitze und Dürre erst machen das Reifen und die Ernte möglich, gleichwie Regen und Potenz für das Keimen der Saat und die Vermehrung des Viehs unverzichtbar sind. Mot, der „Gierig-Unersättliche, hat eine lebensdienliche Funktion und bleibt trotz dieser Funktion lebensfeindlich.“ (Döhling, 167)

3. Metaphern und Lexeme der Gier im Alten Testament

3.1. Die Bildwelt der Gier im Alten Testament

Metaphern der Gier begegnen auch im Alten Testament. Durch die Zeugnisse aus Ugarit wird eine Spur sichtbar, die den alttestamentlichen Bildern von der Gier der Feinde einen motivgeschichtlichen Kontext bietet. Die Gierigen verkörpern Lebensfeindlichkeit, sind Gefährder und potenzielle Vernichter des guten, toragemäßen Lebens. Der Aspekt der mythischen Meteorologie und des damit verbundenen lebensnotwendigen Zyklus von Werden und Vergehen im Kreis der Jahreszeiten tritt zurück. Das Motiv aus Ugarit wird entpersonalisiert und sozialkritisch transformiert. Die Gier begegnet in Bildern vom weit geöffneten Mund (פֶּה pæh), der Lippen (שְׂפָתַיִם śəfātajim), des Rachens (נֶפֶשׁ næfæš, גָּרוֹן gārôn), besonders des Schlingens (בלע bl‘, siehe dazu Döhling) und Verschlingens (שׂרב śrb Pu, להט lhṭ II). Vom Gebrauch der Giermetaphorik lässt sich paradigmatisch in der Erzählung von → Jakob und → Esau lesen. Während Jakobs „Gier“ nach dem Segen in verschiedenen Variationen erzählt wird, unter Verzicht auf den Begriff und alle diesbezüglichen Bilder, wird die Haltung Esaus gleich zu Beginn des Konflikts mit להט lhṭ II bebildert (Gen 25,30). Esaus Schlingen lässt sich als Gier, die schlichtweg dem übergroßen physischen Hunger des Isaaksohns entspringt, verstehen (vgl. auch Sir 31,16 [Lutherbibel: Sir 31,19]; Sir 37,29 [Lutherbibel: Sir 37,32]). Man könnte jedoch eine mythische Konnotation mitlesen, auch wenn Esau hier nicht – wie in späteren Texten (Mal 1,2-5) – explizit zum Prototyp des Frevlers erklärt wird.

Gier 1
Im Unterschied zu den Ugarittexten ist es im Alten Testament kein Gott, sondern der schlechte Mensch (גֶּבֶר יָהִיר gævær jāhîr), der giergeschwollene Mann (Buber / Rosenzweig), der seine Kehle (נֶפֶשׁ næfæš) aufreißt wie die Scheol (→ Jenseitsvorstellungen), und mit dem Tod, der nicht satt wird, verglichen wird (Hab 2,5). Trotz des schwer lesbaren Versbeginns ist sichtbar, wie der scheinheilige Mensch, dessen Handeln mit v. 5 zudem einen imperialen Zug bekommt, gegenüber dem Gerechten, der leben wird, in den chthonischen Bereich versetzt wird. Der Tod ist hier ein Bild für die zerstörerischen Kräfte im Leben und im Diesseits (Gulde, 134).

Entsprechend wird die Giermotivik in Num 16, vgl. Ps 106,17; Num 26,10-11; Dtn 11,6; [Ps 5,10; Ps 35,25;] Ps 73,9; Spr 1,12; Spr 30,15-16; Jes 5,14; Jes 9,19-20 u. ö. verwendet (siehe Gulde, 135-144). Ps 57,5 und Ps 124,3 schildern den Beter in der Gefahr des lebendig Verschlungenwerdens. Im Unterschied zu Gulde, die die alttestamentliche Transformation des Gier-Motivs vor allem in der Entpersonalisierung sieht, entfaltet Döhling den sozio-ökonomischen Aspekt der Giermetaphern. „Was einst Mot (!) tat, adressiert in Tora, Psalter, Weisheit und Prophetie […] konkrete Menschengruppen mit konkretem sozio-ökonomischen Profil.“ (Döhling, 170). Die Gierigen werden latent dämonisiert, sie sind Agenten der gegen Jhwh und seine Gebote gerichteten Lebensfeindlichkeit. Sie erscheinen als „Rotte Korach“ (Num 16), Feinde (שׁוֹרר šôrer, Ps 5,10), Frevler (רְשָׁעִים rəšā‘îm, Ps 73,9), Sünder (חַטָּאִים ḥaṭā’îm, Spr 1,12), deren Handeln sie auch selbst vernichten kann (Ps 55,10; Spr 19,28; Pred 10,12). „Gier ist eine menschliche Praxis, sie vollzieht sich als ausbeuterisches und / oder imperiales Tun.“ (Döhling, 182). In Jes 5,14 jedoch ist es die Scheol selbst, die den Rachen aufreißt, um das falsch handelnde Gottesvolk zu verschlingen. V. 16 deutet dies als einen Gerichtsakt Jhwhs.

3.2. „Gier“ in deutschen Bibelübersetzungen und ihre hebräischen sowie griechischen Äquivalente

Um dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass das Wort „Gier“ in der heute geläufigen Bedeutung aus dem 18. Jh. stammt, werden in einem zweiten Gedankengang anhand von sieben ausgewählten Übersetzungen die hebräischen Lexeme vorgestellt, die mit „Gier“ übersetzt wurden (ELB = Elberfelderbibel, 2006; EIN = Einheitsübersetzung, 2017; GNB = Gute Nachricht Bibel, 1997; Hfa = Hoffnung für alle, 2015; LUT = Lutherbibel; NGÜ = Neue Genfer Übersetzung, 2000ff; ZÜR = Zürcher Bibel, 2007). Darüber hinaus gibt es Passagen im Alten Testament, die vom dem erzählen, was heute „Gier“ genannt wird, ohne dass die oben gezeigten Bilder oder eines der hebräischen Lexeme verwendet wären, wie z. B. Gen 34,2 oder 2Kön 5,20-27.

  • Ex 15,9: נֶפֶשׁ næfæš, EIN, ELB, ZÜR;
  • Num 11,4.34: הִתְאַוּוּ תַּאֲוָה hit’awwû ta’ǎwāh; קִבְרוֹת הַתַּאֲוָה qivrôt hatta’ǎwāh, EIN, ZÜR, Hfa;
  • Hi 38,39: חַיַּת כְּפִירִים ḥajjit kefîrîm, ELB, ZÜR, GNB;
  • Ps 27,12: נֶפֶשׁ næfæš, ELB, EIN, ZÜR;
  • Ps 41,3: נֶפֶשׁ næfæš, ELB, EIN, ZÜR;
  • Ps 59,8: erg. ohne Äquivalent Hfa;
  • Ps 78,30: תַּאֲוָה ta’ǎwāh, EIN, ZÜR, Hfa, GNB, NGÜ;
  • Ps 106,14: וַיִּתְאַוּוּ תַאֲוָה wajjit‘awwû ta’ǎwāh, ELB, ZÜR, Hfa, GNB, NGÜ;
  • Spr 6,30: נֶפֶשׁ næfæš, LUT 2017+1984;
  • Spr 10,3: הַוׇּה hawwāh, LUT 2017+1984, EIN, ELB, ZÜR, Hfa, GNB;
  • Spr 11,6: הַוׇּה hawwāh, LUT 2017+1984, EIN, ELB, ZÜR, Hfa;
  • Spr 21,26: הִתְאַוָּה תַאֲוָה hit’awwāh ta’ǎwāh, LUT 2017+1984, EIN;
  • Jes 57,5: חמם ḥmm Nif, EIN;
  • Jer 51,39: חמם ḥmm Qal, LUT 2017+1984, EIN, Hfa;
  • Ez 7,19: נֶפֶשׁ næfæš, EIN, ELB;
  • Ez 16,27: נֶפֶשׁ næfæš, ELB, ZÜR, GNB;
  • Ez 23: עַגְבָתׇהּ ‘agəvātāh (v. 11); עגב ‘gb Qal (v. 16.20); נֶפֶשׁ næfæš (v. 17), EIN in 10.16.20, Hfa in 16.17.20;
  • Hos 8,13: Wiedergabe der figura etym. der Wurzel זבח zbḥ mit „Gier“, LUT 2017, GNB;
  • Mi 7,3: הַוׇּה hawwāh, ELB, Zür;
  • Sach 11,16: erg. ohne Äquivalent Hfa, GNB;
  • Weish 19,11: ἐπιθυμίᾳ epithymía, LUT 2017+1984, EIN, GNB;
  • Sir 6,2.4: ἐν βουλῇ ψυχῆς σου en boulē psychēs sou; ψυχὴ πονηρὰ psychē ponērá, EIN
  • Sir 19,3: ψυχὴ τολμηρά psychē tolmērá, EIN;
  • Sir 23,6: ψυχῇ ἀναιδεῖ psychē anaideí, EIN;
  • Sir 23,17 (Lutherbibel: Sir 23,22): ψυχὴ θερμὴ psychē thermē, LUT 1984.

3.2.1. Grenzenloses Begehren

נֶפֶֶשׁ næfæš (→ Hals / Kehle / Person) gilt als ein Schlüsselwort des menschlichen Daseins (Seebass, 538). Sie steht auch für die Vitalität der Wünsche des Menschen und in den Passagen, die von den deutschen Übersetzungen mit „Gier“ wiedergegeben werden, für das grenzenlose Begehren. So macht ungestillter Hunger gierig, die Gier steht dann unter keinem moralischen Verdikt (Spr 6,30).

Hingegen wird in vier Fällen Jhwh als Beschützer gegen die Gier von Feinden gerühmt oder angerufen (Ex 15,9; Ps 27,12; Ps 41,3; Ez 16,27). נֶפֶֶשׁ næfæš bringt dann Ähnliches zum Ausdruck wie die oben beschriebenen Metaphern der Gier.

Ez 7,19 beschreibt mit נֶפֶֶשׁ næfæš das Verlangen Israels nach den falschen Dingen, → Gold und → Silber, nicht nach der → Treue zu Jhwh, was die Übersetzer als Gier disqualifizieren. Ein Bild für die Untreue Jerusalems zeichnet Ez 23,17, wo נֶפֶֶשׁ næfæš für die Promiskuität der → Oholiba steht (s.u. 3.2.5).

Die → Septuaginta übernimmt mit ihrer Übersetzung von נֶפֶֶשׁ næfæš mit ψυχὴ psychē die Bedeutungsvielfalt des hebräischen Nomens (Seebass, 537), anders als in der genuin griechischen Literatur. In den vier Versen aus dem Buch → Jesus Sirach, die von der EIN bzw. LUT 1984 ψυχὴ psychē mit „Gier“ wiedergeben, qualifiziert jeweils ein Attribut die ψυχὴ psychē. Sir 6,2.4 beschreiben so das Sich-Hinreißen-Lassen zu Doppelzüngigkeit und übler Nachrede. ψυχὴ τολμηρὰ psychē tolmērá (Sir 19,3) ist die verwegene, kecke Seele, die ihren Besitzer zugrunde richtet, weil er mit Prostituierten verkehrt. ψυχῇ ἀναιδεῖ psychē anaideí (Sir 23,6), die unverschämte, schamlose Seele, steht ebenfalls im Kontext von Überschreitungen sexueller Moralvorstellungen, ebenso ψυχὴ θερμὴ psychē thermē (Sir 23,17 [Lutherbibel: Sir 23,22]), die heiße Seele.

3.2.2. Potenziertes Begehren

3.2.2.1. Die Giergräber (Num 11). תַּאֲוָה ta’ǎwāh, das Begehren, Verlangen, der Wunsch hat seinen Gründungsmythos in Gen 3,6 (vgl. dazu Art. → Begehren). In Num 11,4 zielt תַּאֲוָה ta’ǎwāh auf das sprichwörtlich gewordene Verlangen nach den Fleischtöpfen Ägyptens, stilistisch verstärkt durch eine figura etymologica (הִתְאַוּוּ תַּאֲוָה hit’awwû ta’ǎwāh). Bekanntlich kam Jhwh dem nach und ließ → Wachteln anschwemmen, bis sie ihnen aus der Nase (!) hingen. Num 11,34-35 nennen den Ort, an dem die von der Gier Ergriffenen durch einen Schlag Jhwhs ums Leben gekommen waren, קִבְרוֹת הַתַּאֲוָה qivrôt hatta’ǎwāh, in der Übersetzung von EIN, ZÜR, Hfa „Giergräber“.

3.2.2.2. Psalmen und Sprüche. Das Gieren nach den Fleischtöpfen Ägyptens bringt auch תַּאֲוָה ta’ǎwāh in Ps 78,30 zum Ausdruck, ebenso die figura etymologica וַיִּתְאַוּוּ תַאֲוָה wajjit‘awwû ta’ǎwāh in Ps 106,14 und das griechische Äquivalent ἐπιθυμίᾳ epithymía in Weish 19,11.

Interessant ist, dass תַּאֲוָה ta’ǎwāh in Spr 21,25 nicht mit „Gier“ übersetzt wird, wohl aber die figura etymologica הִתְאַוָּה תַאֲוָה hit’awwāh ta’ǎwāh im folgenden Vers. Sie disqualifiziert hier wiederum die Haltung des Faulen im Gegensatz zu der des Gerechten, ohne dass ein Objekt der Gier benannt wäre.

3.2.3. Verhängnisvolles Verlangen

הַוׇּה hawwāh entspricht am ehesten dem deutschen Wort „Gier“. Der antithetische Parallelismus in Spr 10,3 stellt die Gier der Frevler (Pl) dem Hunger der נֶפֶֶשׁ næfæš des Gerechten (Sg) gegenüber. Wiederum wird – ohne dass ein den Vitalitätswunsch der Frevler disqualifizierendes Objekt benannt wäre – ihr Hunger als הַוׇּה hawwāh zurückgewiesen, da bereits in ihrer frevelhaften Existenz die lebensvernichtende Gier zu Hause ist. Spr 11,6 stellt – wiederum in einem antithetischen Parallelismus – der Gier der Treulosen die Gerechtigkeit der Geradlinigen gegenüber. Ähnlich betrachtet Mi 7,3 die Gier der Großen als ein Beugen des Rechts. Gier ist hier das Schuldigwerden an Jhwh und seiner in der Tora grundgelegten Gerechtigkeit, das Abweichen vom rechten Weg, Dumpfheit.

3.2.4. Heißes Verlangen

Die EIN gibt in Jes 57,5 das Verb חמם ḥmm Nif mit „in Gier geraten“ wieder. Gesenius (18. Aufl.) schlägt für das Hapaxlegomenon die Bedeutungen „glühend / brünstig“ vor. Das angesprochene Volk Israel wird im Vers zuvor als „Kinder des Frevels“ gebrandmarkt. Sein in dtr Metaphorik benanntes Vergehen (תַחַת כָּל־עֵץ רַעֲנָן taḥat kål ‘eṣ ra‘ǎnān „unter jedem grünen Baum“) lässt für “Gier” auf die Bedeutung der Neigung zur Fremdgötterverehrung und zum Übertreten des Bilderverbotes schließen. חמם ḥmm Qal „heiß sein, in wilder Begierde“ nutzt Jer 51,39 als Metapher für das Annektionsverhalten Babels und seines Herrschers, das bereits in v. 34 in den benannten Bildern gezeichnet wurde. Das von Jhwh bereitete Gelage dient dazu, Babel in seiner Gier in die ewige Narkotisierung zu bringen. Ihre Gier wird sie selbst zerstören, Jhwh inszeniert lediglich das Setting.

3.2.5. Sexuelles Verlangen

Die Allegorie von den zwei nymphoman dargestellten Schwestern (Greenberg) → Ohola und Oholiba verwendet an drei Stellen die Nominalbildung עַגְבָתׇהּ ‘agəvātāh (Ez 23,11) sowie das Verb עגב ‘gb Qal (Ez 23,16.20), was EIN und Hfa mit „Gier“ bzw. „gierig sein“ übersetzen. Die Wurzel hat die Grundbedeutung „sexuell nach jmd. verlangen / für jmd. entbrennen“, erhält jedoch durch das parallel verwendete תַּזְנוּתֶיהָ tazənûtæjāh jene Disqualifikation, die die Übersetzung mit „Gier“ plausibel macht.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971 (Online-Version vom 25.03.2020) (= DW)
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973-2015
  • Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 2. Aufl., Mannheim u.a. 1989
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl., München / Zürich 2004
  • Herders Neues Bibellexikon, Freiburg u.a. 2008

2. Weitere Literatur

  • Busse, U., 2011, Gier, Geiz und Gewinn. Lk 12,13-34[41-48], die Reichtumsparänese, in verschiedenen Kontexten, in: ders. / M. Reichardt / M. Theobald (Hgg.), Erinnerung an Jesus: Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (BBB 166), Göttingen, 309-330
  • Dietrich, M. / Loretz, O., 2005, Mythen und Epen in ugaritischer Sprache (Bd. III/6), Gütersloh (TUAT CD-ROM)
  • Döhling, J., 2013, Gott und die Gier: Altorientalisch-alttestamentliche Erkundungen eines aktuellen Begriffs, Biblica 94, 161-185
  • Greenberg, M., 2005, Ezechiel 21-37 (HThKAT), Freiburg / Basel / Wien
  • Gulde, S.U., 2007, Der Tod als Herrscher in Ugarit und Israel (FAT 2, 22), Tübingen
  • Huizing, K., 2011, Gier!: Versuch einer Aushöhlung, NZSTh 53, 251-264
  • Kessler, R., 2005, „Du sollst nicht begehren ...“. Kleine biblische Sozialgeschichte der Gier, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), 108-112
  • Meinhold, A., 1991, Die Sprüche. Teil 1: Sprüche Kapitel 1-15 (ZBK.AT 16.1), Zürich
  • Seebass, H., 1986, Art. נֶפֶֶשׁ næfæš, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. 5, Stuttgart u.a., 531-555
  • Wolff, H.W., 2010, Anthropologie des Alten Testaments, hg. von B. Janowski, Gütersloh
  • Xella, P., 1999, Die ugaritische Religion. Methodologische und kulturhistorische Betrachtungen, in: M. Kropp / A. Wagner (Hgg.), „Schnittpunkt“ Ugarit, Frankfurt u.a., 285-302

Abbildungsverzeichnis

  • Der gierige Höllenschlund ist eine mittelalterliche Transformation der Vorstellung vom aufgerissenen Rachen der Scheol (Tympanonrelief am Freiburger Münster; 13. Jh.). Mit freundlicher Erlaubnis von © Jan Kühle

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