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Gerechtigkeit Gottes (NT)

(erstellt: Januar 2011)

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1. Einführung und Beleglage

Das Substantiv „Gerechtigkeit“, δικαιοσύνη, ist in 19 der 27 neutestamentlichen Schriften an insgesamt 92 Stellen belegt. Mit der Erweiterung des Ausdrucks zum Syntagma „Gerechtigkeit Gottes“, δικαιοσύνη (τοῦ) θεοῦ /, wird die Rede von der Gerechtigkeit theologisch spezifiziert. Sie begegnet als solche explizit oder vermittelt durch den Kontext an insgesamt 21 Stellen, nämlich siebenmal im Matthäusevangelium, zwölfmal bei → Paulus im 2. Korintherbrief, im Römer- und im Philipperbrief sowie je einmal im Jakobus- und im 2. Petrusbrief. Insbesondere bei Paulus strahlt die Bedeutung des Syntagmas auch auf Stellen aus, an denen δικαιοσύνη allein oder in anderen Wortverbindungen steht bzw. an denen anstelle des Substantivs das Verb δικαιοῦν / δικαιοῦσθαι verwendet wird. Spuren davon finden sich schließlich auch in der nachpaulinischen Literatur.

In der Mehrzahl der Schriften besteht eine theologische Verbindung zwischen dem Wortfeld Gerechtigkeit und den Wortfeldern → Erlösung (ἀπολύτρωσις), → Gesetz bzw. Werke des Gesetzes (νόμος bzw. ἔργα νόμου), → Glaube (πίστις), → Gnade (χάρις), → Sühne (ἱλαστήριον) und → Sünde (ἁμαρτία). Bei der Klärung dessen, was mit „Gerechtigkeit Gottes“ im Neuen Testament gemeint ist, sind die mit diesen Ausdrücken bzw. Syntagmen verbundenen theologischen Inhalte entsprechend immer zu berücksichtigen.

2. Traditionsgeschichtlicher Hintergrund

Der neutestamentliche Gebrauch des Substantivs wie des Syntagmas ist traditionsgeschichtlich vom alttestamentlich-jüdischen Gebrauch abhängig, vgl. den Artikel → Gerechtigkeit Gottes (AT). Eine Information über den neutestamentlichen Gebrauch sollte dort ansetzen.

Während die hebräischen Ausdrücke für „Gerechtigkeit“ im Alten Testament häufig belegt sind, findet sich das Syntagma „Gerechtigkeit JHWHs“ hier nur in Dtn 33,21. Es wird von der Septuaginta im Zuge eines ganzen Satzes wiedergegeben: δικαιοσύνην κύριος ἐποίησεν καί κρίσιν αὐτοῦ μετὰ Ἰσραήλ. Hier wird der Bezug über αὐτοῦ hergestellt: „Gerechtigkeit tat der Herr, und sein Gericht mit Israel.“ Eine unmittelbare Genitivverbindung wie im Hebräischen liegt nicht vor, so dass unklar ist, ob sich der paulinische Gebrauch auf diese Stelle stützen kann.

Der Ausdruck „Gerechtigkeit“ ist im Alten Testament grundsätzlich ein Relationsbegriff und artikuliert zunächst ein konkret-soziales Lebensverhältnis von Partnern oder Bundesgenossen; bezogen auf Gott bedeutet „Gerechtigkeit Gottes“ dann Gottes bundesgemäßes Verhalten gegenüber den Menschen. Dabei ist umstritten, ob es sich bei „Gerechtigkeit“ um eine Eigenschaft oder ein Tun Gottes handelt (Wilckens), doch ist fraglich, ob damit im Blick auf den gnädigen Gott letztlich eine echte Alternative bezeichnet werden kann.

Stellen wie 1Sam 12,7; Ps 7,18; Ps 30,2, an denen sich die herbäischen Ausdrücke bzw. δικαιοσύνη finden, lassen sich am besten so verstehen, dass jeweils Gottes eigenes Rechtsverhalten thematisiert wird. Dem entspricht, dass einige Übersetzungen das Syntagma in 1Sam 12,7 mit „Wohltaten des Herrn“ wiedergeben. Im Blick auf den neutestamentlichen, speziell: den paulinischen Gebrauch ist dabei wichtig, dass im Alten Testament nirgends der Eindruck entsteht, es ginge um eine Gerechtigkeit vor Gott und entsprechend ein menschliches Verhalten, mit dem der Mensch von Gott eine Art Gerechtsprechung erlangen könnte oder müsste.

In diesem Zusammenhang wurde in der Vergangenheit immer wieder die Frage aufgeworfen, ob der Ausdruck „Gerechtigkeit“ alttestamentlich einen gerichtlich-forensischen Aspekt besitzt, ob sich damit also etwa der Gedanke verbindet, dass Gott in einer Art Gerichtsverfahren über das Gerechtsein des Menschen richtet. Diese Frage ist dahingehend beantwortet worden, dass es sich um keine formale iustitia distributiva (zuteilende Gerechtigkeit) handelt; allerdings ist ein forensischer Aspekt auch nicht grundsätzlich zu verneinen, weil der rettende Freispruch des Menschen durch Gott im Sinne einer iustitia salutifera (heilbringende Gerechtigkeit) letztlich eine Entscheidung Gottes voraussetzt (Conzelmann).

In Deutero- (Jes 40-55) und Tritojesaja (Jes 56-66) sowie etwa in Ps 71,2; Ps 85,11; Ps 143,11 ist „Gerechtigkeit“ ein Heilsbegriff, ein Ausdruck für Gottes rettende Heilsmacht, für sein erlösendes Heilshandeln und für das von ihm in freier Gnade bereitete und als Geschenk gewährte Heil, das den Freispruch Gottes einschließt, der den Menschen dem Tod entreißt, ihn ins rechte Verhältnis zu Gott setzt und ihm so neues, heilvolles Leben eröffnet (Hofius). Insbesondere bei → Jesaja (vgl. etwa Jes 54,14; Jes 61,3; Jes 62,2) zeigt der Ausdruck dabei eschatologische Aspekte.

Im griechischen Denken steht hinter dem Ausdruck „Gerechtigkeit“ die Vorstellung einer iustitia distributiva, bezeichnet also eine Gesetzmäßigkeit, Rechtlichkeit oder rechte Beschaffenheit. Im philosophischen Denken kann er dann als eine Tugend verstanden werden (Dihle), so dass sich auch ethische Aspekte mit „Gerechtigkeit“ verbinden. Auf diesem Wege gerät der Ausdruck schließlich in Konkurrenz mit dem alttestamentlich-jüdischen Wortsinn als Heilsgabe Gottes.

3. Gerechtigkeit Gottes bei Paulus

3.1. Vorbemerkungen

Vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Befundes ist wenig wahrscheinlich, dass mit „Gerechtigkeit“ Gottes ein terminus technicus vorliegt, der immer auf den gleichen Sachverhalt rekurriert und in jedem Kontext die gleiche Bedeutung trägt (Güttgemanns). Der Ausdruck wird statt dessen auf der Basis des alttestamentlich-jüdischen Denkens zu verstehen sein, das die gezeigte Bedeutungsbreite aufweist. Dann kann überlegt werden, inwieweit Paulus als Jude auf den Pfaden des ihm vorgebenen Denkens geblieben ist und an welchen Stellen er diese Pfade verlassen hat (Conzelmann).

Wie bei → Deuterojesaja (Jes 40-55) und in einer Reihe von Psalmen ist „Gerechtigkeit Gottes“ bei Paulus ein Heilsbegriff (Hofius). Die Wortverbindung, in der „Gerechtigkeit“ durch den Genitiv „Gottes“ näher bestimmt wird, erlaubt jedoch verschiedene Deutungen. Der Genitiv kann als genitivus subjectivus verstanden werden, als Eigenschaft, über die Gott verfügt und die er in seinem Handeln zeigt. Alternativ kann der Genitiv – eine deutliche sprachliche Härte in Kauf nehmend – als genitivus objectivus verstanden werden, so dass Gerechtigkeit als das Ziel zu gelten hat, das vor Gott erreicht werden muss. Des Weiteren kann der Genitiv als genitivus auctoris verstanden werden, als Gerechtigkeit, die ihren Ursprung in Gott hat und die Gott durch seinen richterlichen Spruch aus Gnade herstellt. Die Bandbreite der Deutung ist damit jedoch noch nicht ausgeschöpft, weil diese Bestimmungen in der Vergangenheit zum Teil äquivok verwendet wurden. Die Gerechtigkeit, die der Mensch vor Gott erreichen muss (genitivus objectivus), wurde hin und wieder als Genitiv der Relation bezeichnet. Der genitivus auctoris konnte gar in eine Art Mittelposition geraten, in der entweder die Gabe oder der Geber selbst betont wurde (Bieringer).

Entsprechend wurde in der Vergangenheit um die konkrete Deutung der Genitivverbindung zum Teil heftig debattiert. Rudolf Bultmann verstand den Genitiv als genitivus auctoris und bestimmte „Gerechtigkeit Gottes“ als Gabe; es handele sich um ein Geschenk, das dem Menschen aufgrund eines eschatologischen Gerichtsurteils Gottes zuteil wird. Der Grund der Rechtfertigung des Menschen sei dabei die Gnade Gottes, nicht Werke des Gesetzes, die zu erfüllen seien, um die Gerechtigkeit vor Gott im Sinne eines Genitivs der Relation zu erlangen. Gegen die ausschließliche Bestimmung als Gabe erhob Bultmanns Schüler Ernst Käsemann Einspruch. Er verstand den Genitiv als genitivus subjectivus und erklärte, „Gerechtigkeit Gottes“ habe zugleich den Charakter einer Macht; Gabe und Macht gehörten seiner Interpretation nach zusammen und seien letztlich ein- und dasselbe, weil die Gabe dem Menschen durch den Glauben (διὰ πίστεως) zukomme. Käsemanns Schüler Christian Müller und Peter Stuhlmacher versuchten in der Folge, ihren Lehrer zu bestätigen, wobei Stuhlmacher zunächst den Machtcharakter sehr stark betonte, seine Ausführungen später jedoch relativierte. Bultmann erwiderte, es sei zwar denkbar, dass eine jüdische Machtkonzeption im Sinne einer „heilsetzenden Macht“ eine aus der Tradition noch mitlaufende Sprachmöglichkeit sei; die die paulinische Sprache beherrschende Bedeutung sei jedoch die der Gabe.

In der Folge gab es eine Reihe von Vermittlungsversuchen zwischen den Positionen Bultmanns und Käsemanns. Exemplarisch sei hier der Ansatz von Hans Hübner angedeutet; er zeigt das Engagement für die Sache und das sprachliche wie theologische Feingefühl, das für die Vermittlung zwischen den beiden Positionen notwendig ist. Hübner bestimmte zunächst die Gerechtigkeit Gottes als positives Pendant der → Sünde. Sodann nahm er die Aussage Bultmanns auf, in der Gnade Gottes träfen sich Geschenk, Tat und Macht Gottes; diese Aussage verknüpfte er mit der Deutung Käsemanns, die Gerechtigkeit sei die Konkretion der Gnade Gottes. Wenn aber, so Hübner, Gnade Konkretion impliziere, seien Gerechtigkeit und Gnade nicht mehr voneinander zu trennen.

Die Nachwirkungen der Debatte sind bis heute spürbar; in der gegenwärtigen Diskussion klingen die Argumente häufig nach, weil sie immer wieder zu einer Auseinandersetzung einladen und zu einer Stellungnahme auffordern.

3.2. Die Belege bei Paulus im Εinzelnen

Das Thema „Gerechtigkeit Gottes“ blitzt bei Paulus historisch erstmals und fast etwas überraschend im 2. Korintherbrief auf. Es findet danach eine Wiederaufnahme im Galaterbrief, wo das Syntagma jedoch nicht explizit steht. Im Römerbrief steht die Majorität der Belege, und im Philipperbrief findet sich, sofern man den Philipperbrief zeitlich nach dem Römerbrief ansetzt und nicht davor, der letzte Beleg. Diese Beleglage erweckt den Eindruck, dass das Thema als solches von Paulus erst angesprochen wurde, als es im Zuge seiner Mission notwendig wurde. Die Zuspitzung des Themas und die polemische Art und Weise der Formulierung im Galaterbrief zeigt, in welcher Auseinandersetzung das Thema hier artikuliert wurde. Demgegenüber ist die Behandlung im Römerbrief deutlich systematischer. Paulus scheint das Thema also je situativ aufgegriffen und erörtert zu haben. Vor diesem Hintergrund müssen Wandlungen im paulinischen Denken nicht zwingend angenommen werden.

3.2.1. 2Kor 5,21

Der älteste paulinische Beleg des Syntagmas „Gerechtigkeit Gottes“ findet sich in 2Kor 5,21. Paulus ruft (zusammen mit seinem Mitabsender Timotheus, vgl. 2Kor 1,1) als Gesandter Christi an dessen Statt seine Adressaten dazu auf, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Gott habe Christus „für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes würden.“ Der Aufruf steht in einem eschatologischen Kontext (2Kor 5,16-6,2), in dem von der neuen Schöpfung (5,17) und dem Tag der Rettung (6,2) die Rede ist. Gott wird als der aktiv Handelnde beschrieben; nach Aussage des Paulus macht er den zur Sünde, der von keiner Sünde wusste. Angesprochen ist damit ein übertragendes Handeln Gottes: Der Sündenfreie wird zur Sünde, damit die sündigen Menschen in ihm zur Gerechtigkeit Gottes werden. Die Frage, was dabei übertragen wird, ist mit „Sünde“ einerseits und „Gerechtigkeit Gottes“ andererseits zu beantworten; diese Antwort zeigt, dass hier die Alternative von „Gabe“ oder „Macht“ zu kurz greift. In der Übertragung wird stattdessen ein Verhältnis begründet, das im Tod und in der Auferstehung Christi fundiert ist und das von der Gerechtigkeit Gottes bestimmt wird. Die Formulierung scheint eine Interpretation sowohl als genitivus subjectivus als auch als genitivus objectivus zu erlauben, weil Gott seine Gerechtigkeit gibt und darin das Ziel erreicht ist, eine Gerechtigkeit erlangt zu haben, die sonst nur Gott eignet. Im Kontext der neuen Schöpfung (5,17) jedoch ist noch weitergehend von einer neuen Qualität derjenigen auszugehen, die in Christus sind, so dass der Genitiv eher als genitivus auctoris interpretiert werden muss (Theobald). Mit dieser Interpretation bleibt Gott im Geschehen der Rechtfertigung nachdrücklich als der Handelnde betont und es ist unübersehbar, dass die „Gerechtigkeit Gottes“ christologisch, also durch ihren Bezug auf Christus geprägt ist (Becker).

3.2.2. 2Kor 9,9

Der zweite Beleg in 2Kor 9,9 ist ein Zitat von Ps 112,9. Paulus artikuliert in 2Kor 9,8, dass Gott den Menschen seine Gnade reichlich zukommen lässt – zur reichen Versorgung wie für gute Werke. Ps 112,9 soll diesen Gedanken stützen: „Er hat ausgestreut, er hat den Armen gegeben, seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit.“ In der Fortsetzung spielt Paulus auf Jes 55,10 an und deutet die Rolle Gottes aus dem Psalmenzitat durch das Bild eines Sämanns. In diesem Zuge folgt die Aussage, dass Gott die Frucht der menschlichen Gerechtigkeit wachsen lassen wird. Die Umdeutung des Ausdrucks Gerechtigkeit aus dem Zitat ist offensichtlich: Während es hier um „seine“, um Gottes Gerechtigkeit geht, geht es dann bei Paulus um „die Frucht eurer Gerechtigkeit“. Das Zitat selbst ist entsprechend vor dem alttestamentlichen Hintergrund zu verstehen; in der Applikation wiederholt sich sodann der Gedanke aus 2Kor 9,8, der erst von der Gnade Gottes und dann von den guten Werken der Menschen redet.

3.2.3. Gal 2,16

In Gal 2,11-22 schildert Paulus seine Sicht auf den antiochenischen Zwischenfall. Nach 1Kor 9,20; 1Kor 15,56 kommt er hier erstmals wieder explizit und im Kontext seines Rechtfertigungsverständnisses auf das Gesetz zu sprechen. Der Mensch werde nicht durch Werke des Gesetzes gerecht / gerechtfertigt, so Paulus in Gal 2,16, sondern durch den Glauben an Jesus Christus; weil „wir“ das erkannt hätten, seien „wir“ zum Glauben an Jesus Christus gekommen, „damit wir gerecht / gerechtfertigt werden aus Glauben an Christus und nicht aus Werken des Gesetzes, denn aus Werken des Gesetzes wird niemand gerecht / gerechtfertigt.“ Die Formulierung „gerecht / gerechtfertigt werden“ erscheint hier dreimal; sie steht durchgehend im Passiv und deutet in der Form des passivum divinum auf Gott als denjenigen, der den Menschen rechtfertigt. Das Substantiv „Gerechtigkeit“ erscheint hier zwar nicht, doch stellt Paulus an dieser Stelle erstmals die Themenbereiche „Gerecht- / Gerechtfertigtwerden“, „Werke des Gesetzes“ und „Glauben an Jesus Christus“ zusammen und schafft so eine für den restlichen Galaterbrief wie für den späteren Römerbrief essentielle Themenkombination.

3.2.4. Röm 1,16f.

In seinem Brief an die ihm unbekannte Gemeinde in Rom macht Paulus das Thema „Gerechtigkeit Gottes“ zu einem zentralen Topos und spannt den thematischen Horizont gleich zu Beginn des Schreibens, in Röm 1,16f, auf: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst, als auch für den Griechen. Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben ist: Der aus Glauben Gerechte aber wird leben.“ Das Evangelium ist das erste, was in dieser möglicherweise als Überschrift zu bezeichnenden Formulierung angesprochen wird. Durch das „in ihm“ wird das Evangelium dann mit der Gerechtigkeit Gottes verknüpft; sie ist es, die im Evangelium offenbart wird. Wieder weist die passivische Formulierung auf Gott als den hin, der seine Gerechtigkeit im Evangelium offenbart (passivum divinum); „Gerechtigkeit Gottes“ ist damit als Offenbarungsbegriff zu bestimmen (Hübner), die den Charakter einer Macht oder Kraft Gottes hat. Sie kann hier im ersten Schritt als genitivus subjectivus verstanden werden, als Gerechtigkeit, die Gott besitzt (Theobald). Im zweiten Schritt ist sie dann als genitivus auctoris zu verstehen (Becker): Sie ist die Gerechtigkeit, die in Gott ihren Ursprung hat und die er den Menschen in seiner Offenbarung gibt (Kümmel). Im Kontext des Evangeliums ist dabei eindeutig, dass die Gerechtigkeit Gottes die Mitteilung dessen ist, was Gott eignet und was von Gott ausgeht und den Menschen „aus Glauben zum Glauben“ in ein qualitativ neues Verhältnis zu Gott setzt. Mit Hilfe des Zitats von Hab 2,4 verknüpft Paulus schließlich „Glauben“ mit „Gerechtigkeit“ und weist auf das Ziel der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium hin: das Leben der aus Glauben Gerechten. In dieser Zuspitzung erhält die Rede von der Gerechtigkeit Gottes ihr soteriologisches Moment, so dass „Gerechtigkeit Gottes“ vor diesem Hintergrund und für den Römerbrief basal als Heilsbegriff verstanden werden muss.

3.2.5. Röm 3,5

Dem zweiten Beleg in Röm 3,5 geht in Röm 3,4 eine Anspielung auf Ps 116,11 (PsLXX 115,2) sowie ein Zitat aus Ps 51,6 (PsLXX 50,6) voraus. Nach der Meinung des Paulus werde die Untreue der Menschen die Treue Gottes nicht aufheben; stattdessen werde sich herausstellen, dass Gott wahrhaftig, jeder Mensch aber ein Lügner sei, wie das Psalmenzitat belegen soll. In Röm 3,5f überlegt Paulus: „Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was sollen wir sagen? Ist Gott, der den Zorn auferlegt, etwa ungerecht? Ich rede nach Menschenweise. Das sei ferne! Denn wie könnte Gott sonst die Welt richten?“ Im Kontext des Psalmenzitats zeichnet Paulus hier eine Szene, wie sie vor Gericht stattfinden könnte. Gott wird als Weltenrichter und seine Gerechtigkeit als Voraussetzung für seine richterliche Tätigkeit benannt. Wieder ist also die Gerechtigkeit Gottes im Sinne eines genitivus subjectivus, im Sinne einer Eigenschaft Gottes zu verstehen (Lohse). Sie zeigt Gottes eigenes, im Rechtsstreit bestätigtes und jetzt verlässliches Festhalten an seinem Recht (Stuhlmacher), das auch von ungerechten Menschen nicht in Frage gestellt werden kann. Denkbar ist, dass hier der Gedanke der bereits in der Vergangenheit erwiesenen Bundestreue Gottes gegenüber Israel im Hintergrund steht (Theobald). Anders als in 2Kor 5,21; Röm 1,17 ist die Genitivverbindung jedoch nicht im Sinne eines genitivus auctoris zu deuten, weil hier der Gabe- bzw. Vermittlungsaspekt nicht artikuliert wird. Gemeint ist Gottes eigene Gerechtigkeit (im Gegenüber zu seinem Zorn, vgl. Röm 1,18), die der erwiesenen Ungerechtigkeit der Menschen (Röm 3,4) gegenübersteht.

3.2.6. Röm 3,21–26

In Röm 3,21-26 finden sich vier mittelbare oder unmittelbare Belege für das Syntagma „Gerechtigkeit Gottes“. Den Versen 24–26 liegt dabei eine vorpaulinisch-urchristliche Tradition zugrunde. Der sprachlich-syntaktisch schwierige Abschnitt beginnt mit der Formulierung „jetzt aber“ (νυνὶ δέ) und weist dadurch explizit auf das Neue hin: „Jetzt aber ist ohne Gesetz Gerechtigkeit Gottes offenbart, bezeugt von dem Gesetz und von den Propheten, Gerechtigkeit Gottes aber durch den Glauben an Jesus Christus für alle, die glauben. Es ist nämlich kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und haben Mangel an der Herrlichkeit Gottes. Ohne Verdienst werden sie gerecht durch seine Gnade, durch die Erlösung in Jesus Christus. Ihn hat Gott als Sühne hingestellt durch den Glauben an sein Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit durch den Erlass der vorausgegangenen Sünden, in der Langmut Gottes für den Erweis seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass er gerecht ist und den aus dem Glauben an Jesus rechtfertigt.“ Wie in Röm 1,17 wird „Gerechtigkeit Gottes“ in Röm 3,21 als Offenbarungsbegriff verstanden (Hübner), und Paulus sieht diese Offenbarung durch das Alte Testament bezeugt. In diesem ersten Schritt steht der alttestamentliche Gebrauch im Vordergrund, nämlich das bundesgemäße Verhalten und also die Eigenschaft und das Tun Gottes im Sinne eines genitivus subjectivus (Theobald). Im zweiten Schritt verknüpft Paulus in Vers 22 „Gerechtigkeit Gottes“ mit „Glauben an Jesus Christus“ und lässt so den Gabecharakter der Gottesgerechtigkeit erkennen, eine Gabe, die durch den individuellen Akt des Glaubens erlangt wird. Dieser Gabecharakter wird in Vers 24 nochmals betont; die Übersetzungen geben das Adverb δωρεάν häufig mit „ohne Verdienst“ wieder, doch ist eigentlich „gratis“ bzw. „geschenkweise“ gemeint. Die Termini „Gnade“, „Erlösung“ und „Sühne“ in Vers 25 sind dann bereits Teil der vorpaulinisch-urchristlichen Tradition. Mit ihrer Hilfe verbindet Paulus den Sühnegedanken mit dem Glaubensbegriff (Kertelge). Ziel ist der Erweis der Gerechtigkeit Gottes, die im Kontext von Vers 24 als Gnade erscheint. „Gerechtigkeit Gottes“ ist so zu verstehen als das den Sünder gratis und geschenkweise rettende Handeln des gerechten Gottes, der den Menschen die begangenen Sünden erlässt und dadurch als der Bundestreue seine Gerechtigkeit (genitivus subjectivus) in der Gegenwart erweist (v26), um als Gerechter jeden gerecht zu sprechen, der an Jesus glaubt (Kümmel).

3.2.7. Röm 10,3

In Röm 9-11 geht Paulus auf die Frage ein, wie sich die Offenbarung Gottes in Christus zur Offenbarung Gottes an die Juden verhält. In diesem Zuge schreibt er in Röm 10, die Juden hätten wohl Eifer für Gott, doch ohne Erkenntnis. In Vers 3f. heißt es dann: „Denn indem sie die Gerechtigkeit Gottes verkannten und die eigene versuchten aufzurichten, unterwarfen sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht. Das Ende des Gesetzes nämlich ist Christus für jeden, der glaubt.“ Angedeutet sei zum letzten Satz lediglich, dass τέλος nicht nur „Ende“ bedeutet, sondern auch „Ziel“; die Interpretation dieser Wendung ist entsprechend umstritten. Paulus stellt in Röm 10,3 zwei Gerechtigkeiten einander gegenüber: die Gerechtigkeit Gottes und die Gerechtigkeit Israels. Seiner Ansicht nach versuchte Israel, die eigene Gerechtigkeit aufzurichten, sie nämlich durch das Halten und Tun des Gesetzes bzw. durch die Erfüllung der Tora vor Gott zu erlangen (vgl. Röm 10,5). Genau in diesem Streben aber, so Paulus, sei zu erkennen, dass Israel die Gerechtigkeit Gottes verkannt und sich ihr nicht unterworfen habe. Wieder erscheint das Syntagma in einer Doppelfunktion: Einerseits charakterisiert die Rede von der Unterwerfung die Gerechtigkeit Gottes als Macht; andererseits bezieht sich die Aussage vom Verkennen der Gerechtigkeit Gottes auf „Gerechtigkeit“ als Offenbarungsbegriff zurück (Röm 1,17) und lässt sie vor diesem Hintergrund als Gabe erscheinen. Am Anfang des Römerbriefes war die Gerechtigkeit Gottes in ein Gegenüber zum → Zorn Gottes gesetzt worden; auch der Zorn Gottes werde offenbart, so Paulus in Röm 1,18. Auf der Basis dieser Gegenüberstellung war die Heilsbedeutung der Gerechtigkeit Gottes artikuliert worden – eine Bedeutung, die die Gerechtigkeit in Röm 10,3f als Heilsmacht und als Heilsgabe in gleicher Weise auszeichnet.

3.2.8. Phil 3,9

Der letzte Beleg steht in Phil 3,9 und ist dem in Röm 10,3 sehr ähnlich. Paulus schreibt aus der Haft: „Nicht meine eigene Gerechtigkeit aus dem Gesetz suche ich, sondern die durch den Glauben an Christus, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens.“ Wieder stehen hier zwei Gerechtigkeiten einander gegenüber, nämlich die eigene Gerechtigkeit, die aus durch das Tun und Halten der Tora erlangt werden soll, und die Gerechtigkeit, die von Gott kommt aufgrund des Glaubens an Jesus Christus (Becker). Erneut ist damit der Gabe- und Machtcharakter der Gerechtigkeit betont, die Gott nicht für sich behält, sondern die er den Menschen mitteilt und ihnen so das Heil übereignet.

3.2.9. Kurzer Rückblick

Nach dem Durchgang durch die Belege im Corpus Paulinum lassen sich einige Kennzeichen zusammenstellen. Unstrittig ist, dass das Syntagma „Gerechtigkeit Gottes“ ein umfassender Heilsbegriff ist. Die Besprechung der Belegstellen hat gezeigt, dass der Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes“ im ersten Schritt anders zu verstehen sein kann als in einem oder mehreren weiteren, weil Paulus die Terminologie je nach Kontext entwickelt. Die Streitfrage, ob es sich bei der δικαιοσύνη (τοῦ) θεοῦ um eine Gabe Gottes oder eine Macht Gottes handelt, ist letztlich nicht eindeutig zu beantworten, weil diese Differenzierung bei Paulus selbst nicht erkennbar ist; dadurch, dass Paulus in Röm 1,17 das Evangelium sprachlich als Kraft Gottes fasst, ist das Rechtfertigungsgeschehen als dynamisch gekennzeichnet und scheint sich damit der klaren Alternative Gabe vs. Macht zu entziehen. Gerade in der Dynamik des Heilsgeschehens können Gabe und Macht im Handeln Gottes vereint gesehen werden. Vor dem Hintergrund der alttestamentlich-jüdischen Belege ist klar, dass Gott selbst der Gerechte ist und im Rahmen seines Bundesverhaltens auch zu dieser Gerechtigkeit steht. Paulus arbeitet auf dieser Basis heraus, dass Gott nun aber nicht allein gerecht sein will, sondern sich in seiner Offenbarung mitteilt und den sündigen Menschen rechtfertigt. So verstanden, ist die Gerechtigkeit Gottes die heilschaffende Gnade Gottes, eine Gerechtigkeit, die aus der Sicht des Paulus nicht durch „Werke des Gesetzes“ zu erreichen ist, sondern durch den Glauben an Jesus Christus.

3.3. „The New Perspective on Paul“ und die aktuellen Entwicklungen

3.3.1. Die Rezeption von Paulus durch Martin Luther und Rudolf Bultmann

Martin Luther hatte bei Paulus eine Antwort auf die eigene, bange Frage gefunden, wie er einen gerechten Gott bekommen, also selbst das Heil erlangen könne; seine Arbeiten sind in der Folge immer wieder vom Thema „Gerechtigkeit Gottes“ durchzogen. Auch vor dem Hintergrund der theologischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts entwickelte Luther daraus eine Rechtfertigungslehre, die ein negatives Bild vom Judentum als einer einheitlichen Religion der Werkgerechtigkeit erkennen lässt. Diese Paulusinterpretation verband Rudolf Bultmann mit seinem Programm der existenzialen Auslegung des Neuen Testaments, so dass Paulus bei Bultmann und in seinem Schülerkreis stark anthropologisch verstanden wurde. In der Nachfolge Luthers, der die Rechtfertigungslehre zum Dreh- und Angelpunkt seines Kirchenverständnisses gemacht hatte, wie in der Nachfolge Bultmanns wurde dabei dem paulinischen Verständnis von „Gerechtigkeit Gottes“ immer wieder eine zentrale Position im Wirken und in der Theologie der Paulus zugewiesen. Bereits William Wrede jedoch hatte in der Rechtfertigungslehre die „Kampfeslehre des Paulus“ gesehen, die Paulus im Gegenüber zu seinen Gegnern entwickelt habe, und Albert Schweitzer hielt die Lehre von der Gerechtigkeit aus Glauben für einen „Nebenkrater“ im Hauptkrater der Erlösungslehre.

3.3.2. Anfragen und Einwände gegen das Paulusverständnis Luthers und Bultmanns

Gegen die spezielle Luther-Bultmann-Rezeption des Paulus gab es im 20. Jahrhundert eine Reihe von Anfragen, die nach einem Aufsatz von James D.G. Dunn meist als „The New Perspective on Paul“ subsumiert werden, wenngleich die Anfragen aus unterschiedlichen Richtungen kommen und je eigene Schwerpunkte setzen.

Als erster wies Krister Stendahl darauf hin, dass die paulinische Rechtfertigungslehre erst angesichts praktischer Fragen im Zuge seiner Mission entstanden sei; zudem bestehe zwischen Paulus und Luther der biographische Unterschied, dass Luther selbst unter Gewissensqualen litt, Paulus jedoch nicht. Ed P. Sanders unterstrich diese Aspekte. Er verglich die Religionsstrukturen und lehnte das Verständnis des Judentums als Religion der Werkgerechtigkeit ab; zudem sei statt von einem einheitlichen Judentum eher von jüdischen Gruppen auszugehen. Ihr gemeinsames Merkmal sei der Bundesnomismus (covenantal nomism), eine Struktur, die aus Hineinkommen (getting in) durch Erwählung und Darinbleiben (staying in) durch Toraobservanz bestehe. James D.G. Dunn versteht die „Werke des Gesetzes“ (ἔργα νόμου) – in erster Linie Beschneidung, Speisegebote und Sabbatobservanz – vor allem soziologisch; sie seien als identity markers bzw. boundary markers zu verstehen, die das Streben nach sozialer Abgrenzung artikulierten. Das Festhalten daran sei es dann auch, was Paulus in der Auseinandersetzung mit den jüdischen Gruppen kritisiert habe.

3.3.3. Themen der gegenwärtigen Diskussion

Die „New Perspective on Paul“ hat dazu geführt, die bisherigen Auslegungswege zu verlassen. Die der bisherigen Paulusinterpretation entgegengestellten Alternativen sind jedoch selbst stark diskutiert und hinterfragt worden. Beispielhaft sei die Problematisierung des Ausdrucks Bundesnomismus (covenantal nomism) genannt. Gefragt wird auch, ob mit „Werke des Gesetzes“ wirklich nur identity bzw. boundary markers bezeichnet werden oder ob damit gesetzeskonforme Taten (Avemarie), kultische Handlungen (Haacker) oder lediglich Vorschriften der Tora im Unterschied zu menschlichen Handlungen (Bachmann) gemeint sein könnten. Schon 2001 wurde in diesem Kontext der Versuch gemacht, von einer „Post-‚New Perspective‘ Perspective“ (Byrne) zu sprechen.

3.3.4. Kein Fazit

Die stärker zeitgeschichtliche Wahrnehmung der paulinischen Korrespondenz vor dem Hintergrund der missionarischen Erfordernisse für die je eigenen Gemeindesituationen hat die soziologische Komponente der Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ zutage gefördert. In diesem Horizont besteht nicht mehr die Notwendigkeit, über die theologische Alternative von genitivus subjectivus und genitivus objectivus zu diskutieren (Dunn). Stattdessen kommt die Dynamik der Beziehung Gottes zu den Menschen stärker zum Ausdruck, die die Gerechtigkeit Gottes vor allem als Aktivität Gottes sichtbar werden lässt. Dabei ist es jedoch essentiell, neben der soziologischen Komponente immer auch die genuin theologische Komponente der Rede von der Rechtfertigung zur Geltung zu bringen, weil Paulus selbst sich als Theologe im Kontext des Evangeliums Gottes (Röm 1,16f) verstanden hat.

4. Gerechtigkeit Gottes in der nachpaulinischen Literatur

Der Ausdruck Gerechtigkeit findet sich zwar in den Deuteropaulinen (Eph 4,24; Eph 5,9; Eph 6,14) und in den Pastoralbriefen (1Tim 6,11; 2Tim 2,22; 2Tim 3,16; 2Tim 4,8; Tit 3,5), nicht jedoch das Syntagma „Gerechtigkeit Gottes“. Die Verwendung erscheint relativ stereotyp und lässt erkennen, dass die paulinische Terminologie zwar nachwirkt, aber sehr stark in eine ethische Richtung weitergedacht wird (Kertelge); das gilt besonders für Tit 3,5, eine Stelle, die am deutlichsten Assoziationen zur paulinischen Rechtfertigungslehre hervorruft.

5. Gerechtigkeit Gottes im Matthäusevangelium

5.1. Das Matthäusevangelium und der Befund in den synoptischen Evangelien

Zwar ist das Syntagma „Gerechtigkeit Gottes“ im Matthäusevangelium nicht belegt, doch weist der Terminus δικαιοσύνη seinen theologischen Bezug in Mt 6,33 (τὴν δικαιοσύνην αὐτοῦ) explizit aus und wirkt von hier aus auf die anderen Stellen; vor diesem Hintergrund sind die insgesamt sieben Belege zu interpretieren. Die Verteilung zeigt eine deutliche Häufung im ersten Teil und hier besonders innerhalb der Bergpredigt (Mt 3,15; Mt 5,6; Mt 5,10; Mt 5,20; Mt 6,1; Mt 6,33; Mt 21,32).

Die Tatsache, dass der Ausdruck im Markusevangelium fehlt, im Lukasevangelium nur einmal und im Johannesevangelium nur zweimal belegt ist, zeigt, dass δικαιοσύνη erst im Matthäusevangelium zu einem Schlüsselwort der Verkündigung Jesu geworden ist. Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass der Ausdruck an allen Stellen redaktionell ist (Strecker). Denkbar ist, dass der Evangelist selbst seine Tradition aus der Neophytenunterweisung erhalten hat (Popkes).

5.2. Die Stellen im Matthäusevangelium

Bereits im Zuge seiner Taufe durch → Johannes den Täufer erklärt Jesus, es gebühre sich für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen (Mt 3,15). Im Rahmen der → Bergpredigt preist er unter anderem diejenigen selig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten (Mt 5,6) und die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden (Mt 5,10). Im Blick auf das Gesetz fordert er von den Menschen eine bessere Gerechtigkeit als die der → Schriftgelehrten und → Pharisäer (Mt 5,20), warnt aber vor einer Zur-Schau-Stellung der Gerechtigkeit (Mt 6,1). Er rät, sich nicht um das irdische Leben zu sorgen, sondern um das Reich und die Gerechtigkeit Gottes (Mt 6,33). Schließlich weist er die Menschen darauf hin, dass schon Johannes der Täufer gekommen sei, um den Weg der Gerechtigkeit aufzuzeigen (Mt 21,32).

Die fünf Belege in der Bergpredigt einschließend, wird von Mt 3,15 und Mt 21,32 aus deutlich, dass der Weg Jesu im Matthäusevangelium als Weg der Gerechtigkeit verstanden wird. Die Stellen Mt 3,15; Mt 5,10; Mt 5,20; Mt 6,1; Mt 21,32 artikulieren dabei einen Imperativ an die Menschen, der sie zur Gerechtigkeit auffordert, nämlich zum Tun des Willens Gottes, wie ihn Jesus geboten hat (vgl. Mt 7,12; Mt 22,40). Gerechtigkeit hat dann Einfluss auf die Ethik (Barth) und bezeichnet das Verhalten derer, die in Jesu Nachfolge leben wollen (Lührmann).

Umstritten ist die Deutung von Mt 5,6; Mt 6,33. Vor dem Hintergrund der Heilsverkündigung der Bergpredigt lassen beide Stellen sowohl die Interpretation als Imperativ der Gerechtigkeitsforderung im ethischen Sinn (Strecker) als auch die Interpretation als rettendes oder verheißenes Geschenk Gottes an die Menschen (Lohmeyer) zu. Werden Mt 5,6; Mt 6,33 von Mt 3,15; Mt 5,10; Mt 5,20; Mt 6,1; Mt 21,32 her interpretiert, lassen sich alle sieben Stellen imperativisch verstehen (Luz). Im Kontext der Verkündigung des Matthäusevangeliums stehen diese Imperative allerdings nicht allein und auch nicht an erster Stelle, sondern befinden sich im Spannungsfeld von Forderung und eschatologischem Heilsgut, das Jesus den Menschen verkündet und gebracht hat (Bornkamm).

6. Gerechtigkeit Gottes im übrigen Neuen Testament

Einen von Paulus deutlich unterscheidbaren Gebrauch weist die Wortverbindung „Gerechtigkeit Gottes“ im Jakobus- und im 2. Petrusbrief auf, ohne dass ein grundsätzlicher Dissens zwischen dem Gebrauch im Jakobusbrief und der paulinischen Rechtfertigungslehre behauptet werden muss (Söding).

6.1. Jak 1,20

Dem Beleg im Jakobusbrief geht eine Ermahnung voraus, die von einer jüdisch-hellenistischen Weisheitstheologie geprägt ist. In ihr erklärt der Absender, dass Versuchungen als Freude zu erachten seien und dass Glaubensproben Geduld bewirken sollen. Das Ziel sei der Empfang des Siegerkranzes durch denjenigen, der den Versuchungen standhalte. In der anschließenden Abhandlung über das rechte Verhalten des Menschen in der Welt wird in Jak 1,20 die Opposition „Zorn eines Menschen“ / „Gerechtigkeit Gottes“ aufgestellt (Frankemölle), indem der Absender deutlich macht, dass der Zorn eines Menschen keine Gerechtigkeit Gottes bewirke. Jeder solle einen Glauben an Jesus Christus haben, der vom Ansehen des Nächsten unabhängig sei (Jak 2,1). In der Folge von Jak 1,2-18 bringt der Absender ein Verständnis von Glauben zum Ausdruck, bei dem der Glaube nicht nur auf das Bekenntnis zielt, sondern bei dem er sich auch im ethischen Verhalten und also in Werken zeigt, so etwa in Nächstenliebe (Jak 2,8), Hilfe für Arme (Jak 2,16), Gottesfurcht (Jak 2,21–23) und Gastfreundschaft (Jak 2,25). In diesem Zuge lässt sich „Gerechtigkeit Gottes“ dann im Sinne einer Anerkennung durch Gott verstehen (Burchard, anders von Gemünden)

6.2. 2Petr 1,1

In 2Petr 1,1 begrüßt der Absender seine Adressaten als die, die „durch die Gerechtigkeit unseres Gottes und (unseres) Retters Jesu Christi einen gleich kostbaren Glauben empfangen haben“ wie er selbst. Im griechischen Text ist nicht ganz eindeutig, ob es sich nach Meinung des Autors um die Gerechtigkeit Gottes und die Gerechtigkeit Jesu Christi handelt oder ob die Gerechtigkeit unseres Gottes Jesus Christus gemeint ist; wegen der Stellung des Possessivpronomens ist letzteres wahrscheinlicher (Vögtle). Der Glaube wird in dieser Formulierung als eine Gabe benannt, die den Menschen durch die Gerechtigkeit zuteil wird. Die Gerechtigkeit des Gottes Jesus Christus als Überlieferungsgut erscheint so als eine Eigenschaft, mit der er allen Menschen das gleiche, den Glauben, zukommen lässt (Schelkle).

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