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(erstellt: März 2010)

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Im Alten Testament wird auf mehrere Geierarten Bezug genommen, von denen die drei zuerst genannten nur in den Listen der unreinen Vögel vorkommen, was die Identifikation erschwert. Belegt sind 1. der פֶּרֶס pæræs (Lev 11,13; Dtn 14,12), vermutlich der Bart- oder Lämmergeier (Gypaëtus barbatus; Luther: → Habicht). Er lässt Knochen aus großer Höhe auf Felsen fallen, um sie zu zerbrechen (hebr. פרס pāras; vgl. die lateinische Bezeichnung ossifragus „Knochenbrecher“), um so an das Mark zu gelangen; 2. der עָזְנִיָּה ‘åznijjāh (Lev 11,13; Dtn 14,12), möglicherweise der Schwarzgeier (Aegypius monachus; Luther: Fischaar) sowie 3. der רָחָם rāchām(āh) (Lev 11,18; Dtn 14,17), vielleicht der Schmutzgeier (Neophron percnopterus; Luther: → Storch).

Geier 2
4. Die Bezeichnung נֶשֶׁר næšær dagegen, die die Lutherübersetzung fast immer mit → Adler wiedergibt, steht wohl an der Mehrzahl der Belegstellen ebenfalls für den Geier bzw. den großen Raubvogel an sich, zumal Adler und Geier, wenn sie hoch am Himmel fliegen, leicht verwechselt werden können. Für die Wiedergabe von נֶשֶׁר næšær mit Geier spricht vor allem Mi 1,16, wo die Kahlheit seines Kopfes und Halses erwähnt werden, eine Eigenschaft, die sich beim Adler nicht findet.

Obwohl der Aas vertilgende Geier (Spr 30,17; vgl. Hi 39,29ff; Mt 24,28; Lk 17,37) als unrein galt (Lev 11,13; Dtn 14,12), war dieser mächtige Vogel – der Gänsegeier (Gyps fulvus) erreicht z.B. eine Länge von 1 m und eine Flügelspannweite von 2,40 m – als „König der Lüfte“ durchaus bewundert. Daher erscheint er auch als Bild für den babylonischen und ägyptischen König (Ez 17,3.7). Viele Vergleiche beziehen sich auf seine Schnelligkeit (2Sam 1,23; Jer 4,13; Klgl 4,19), seinen Flug (Spr 23,5; Spr 30,19; Jer 48,40; Jer 49,22) und die im Flug weit ausgebreiteten Flügel (Jes 40,31, vgl. Ez 17,3.7), mit denen er seine Jungen schützt (Ex 19,4; Dtn 32,11; vgl. Apk 12,14). Seine Nester baut er unerreichbar in Felsen und Höhen (Jer 49,16; Ob 4; Hi 39,27). In den Lüften kreisend erspäht er seine Beute, um dann plötzlich auf sie herabzustoßen (Hi 9,26, vgl. Hab 1,8) und sie rasch und gierig zu vertilgen (Spr 30,17). Dieses Verhalten lockt andere Artgenossen, die sich in der Nähe befinden, an. Einige Stellen beziehen sich auf die dem Geier zugeschriebene Regenerationskraft (vgl. Ps 103,5; Jes 40,31; vgl. dazu Schroer 1997), die auch in der Siegelkunst Syrien-Palästinas belegt ist.

Die majestätische Überlegenheit des Geiers führte dazu, dass er zum Bild für die von Feinden ausgehende Gefahr (Dtn 28,49; Ez 17,3.7; Jer 48,40; Jer 49,22; Hos 8,1) werden kann (Apk 8,13: Adler). JHWHs Schutz gegenüber seinem Volk wird dagegen mit dem schützenden Verhalten des Geiers gegenüber seinen Jungen verglichen (Ex 19,4; Dtn 32,10f). Dagegen zeigt sich die Verstoßung Nebukadnezars aus der Gemeinschaft der Menschen auch daran, dass ihm Haare so lang wie Geierfedern wachsen (Dan 4,30, vgl. Dan 7,4). In Ez 1,10; Ez 10,14 steht das Geiergesicht des menschengestaltigen Himmelswächters / Himmelsträgers für den Ostwind.

5. Die hebräischen Tiernamen für עַיִט ‘ajiṭ (vgl. Jes 18,6; Hi 28,7) und für דָּאָה dā’āh (Lev 11,14) bzw. דַּיָּה dajjāh (Dtn 14,13), die ebenfalls häufig mit „Geier“ übersetzt werden, bezeichnen Raubvögel, wobei deren genaue Identifizierung (Geier?, → Weihe?) schwierig ist.

Geier 4

In Ägypten waren Geier weit verbreitet. Das Bild des Schmutzgeiers stand gar innerhalb der Hieroglyphenschrift als Zeichen für den Lautwert Alef. In ganz Vorderasien und in Ägypten steht die Geiersymbolik mit Göttinnen in Zusammenhang. So wird in Ägypten Nechbet, die Göttin Oberägyptens, geiergestaltig dargestellt. Schützend umgeben Geiergöttinnen den ägyptischen König, wobei vor allem die Flügel diesen Schutz zum Ausdruck bringen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Paulys Realencyclopädie, Stuttgart, 1893-1978
  • Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Der Kleine Pauly, Stuttgart 1964-1975 (Taschenbuchausgabe, München 1979)
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Bodenheimer, F.S., Animal Life in Palestine, Jerusalem 1935, 170f
  • Driver, G., Birds in the Old Testament, PEQ 86 (1955), 7-10.16f
  • Feliks, J., The Animal World of the Bible, Tel Aviv 1962, 68-71
  • Ferguson, W.F., Living Animals of the Bible, New York 1972, 50-53
  • Keel, O. / Küchler, M. / Uehlinger, C., Orte und Landschaften der Bibel, Bd. 1, Zürich 1984, 154-157
  • Lang, B., Kein Aufstand in Jerusalem. Die Politik des Propheten Ezechiel (SBB), Stuttgart 2. Aufl. 1981, 28-38
  • Müller, W.W., Adler und Geier als altarabische Gottheiten, in: „Wer ist die du, Herr, unter den Göttern?“ (FS O. Kaiser), Göttingen 1994, 91-107
  • Parmelee, A., All The Birds of the Bible, New York 1959, 103-109
  • Peels, H.G.L., On the Wings of the Eagle (Dtn 32,11). An Old Misunderstanding, ZAW 106 (1994), 300-303
  • Pinney, R., The Animals in the Bible, Philadelphia 1964, 147-150
  • Riede, P., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel (OBO 187), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 2002, s. v.
  • Schroer, S., Die Göttin und der Geier, ZDPV 111 (1995), 60-80
  • Schroer, S., „Im Schatten deiner Flügel“. Religionsgeschichtliche und feministische Blicke auf die Metaphorik der Flügel Gottes in den Psalmen, in Ex 19,4; Dtn 32,1 und in Mal 3,20, in: „Ihr Völker alle, klatscht in die Hände!“, FS E. Gerstenberger (Exegese in unserer Zeit 3), Münster 1997, 296-316

Abbildungsverzeichnis

  • Geier. © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Geier auf einem Siegel (Skarabäus, EZ IB-EZ IIB [1150-700 v. Chr.]; Tell en-Naṣbeh; BIBEL+ORIENT Datenbank Online). © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Schützender Geier an einem Türsturz (13. Jh., Medīnet Hābu, Theben [West]). Aus: Wikimedia Commons; © Merlin-UK, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc-by-3.0; Zugriff 24.3.2010
  • Geier in Hieroglyphenschrift. Aus: O. Keel / M. Küchler / C. Uehlinger, Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studienreiseführer zum Heiligen Land, Bd. 1, Zürich u.a. 1984, Abb. 83; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz

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