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Gebet Manasses

(erstellt: April 2007)

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1. Inhalt

Bei dem Gebet Manasses (lateinisch: Oratio Manasse; abgekürzt: OrMan oder GebMan) handelt es sich um ein Bußgebet, das in Anknüpfung an 2Chr 33,19 dem alttestamentlichen König → Manasse (ca. 696-645 v. Chr.) zugeschrieben wird. Nach dem Zeugnis des zweiten Chronikbuches (2Chr 33,1-20) hat Manasse in der assyrischen Gefangenschaft Buße für sein früheres frevelhaftes Verhalten getan und daraufhin wieder Gnade in den Augen Gottes gefunden – ein Zug, der in der (älteren) parallelen Überlieferung in 2Kön 21,1-18 fehlt. Trotz dieses vermeintlich historischen Haftpunktes dürfte das Gebet aber einer späteren Zeit entstammen und der frühjüdischen Exegese entspringen, welche nicht selten „Lücken“ des alttestamentlichen Zeugnisses zu füllen sucht. Beispiele dafür finden sich reichlich, unter anderem wäre auf die reichhaltige Adam-und-Eva-Überlieferung des Zeitraums von ca. 200 v. bis 200 n. Chr. zu verweisen.

Das Gebet gehört nicht zu den Kanonausprägungen des Judentums und des Christentums, sondern ist zu den pseudepigraphischen (apokryphen) Schriften zu rechnen (→ Kanon; → Apokryphen; → Tabelle: Der Aufbau der Bibel). Es umfasst nach der Zählung der → Septuaginta 15 Verse, andere Ausgaben variieren zum Teil in der Versgliederung. Nach einem einleitenden Lobpreis Gottes (GebMan 1,1-8), welcher dessen Schöpfermacht, Heiligkeit und Barmherzigkeit betont, folgt das Bekenntnis (GebMan 1,9-12) der unermesslichen Sünde (zahlreicher als der Sand am Meer, V. 9), die auf dem Beter lastet und ihn niederdrückt (V. 10). Darauf mündet das Gebet in die Bitte um Vergebung (GebMan 1,13), welche durch Vertrauenserweis (GebMan 1,14) und Lobpreisversprechen (GebMan 1,15) untersetzt wird und sodann mit einer Schlussdoxologie („dein ist die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen!“) abgeschlossen wird (griechischer Text: Rahlfs; deutsche Übersetzung: Oßwald; Oegema; englische Übersetzung: Charlesworth).

2. Textüberlieferung

Als älteste Textzeugen sind die griechischen Bibelhandschriften Codex Alexandrinus (5. Jh. n. Chr.) und Codex Turicensis (7. Jh. n. Chr.) – jeweils im Zusammenhang der an die Psalmen angefügten Hymnen – und die ebenfalls griechischen „Apostolischen Konstitutionen“ (II 22,12-14; um 380 n. Chr.) sowie die syrische Fassung der „Didaskalia Apostolorum“ (3. Jh. n. Chr.) zu nennen. Darf die syrische Fassung der Didaskalia (die ihrerseits auf eine griechische Vorlage zurückgeht) als eine Vorstufe der Apostolischen Konstitutionen gelten, so lassen sich zwei Texttypen unterscheiden: einer wird durch die Septuagintaüberlieferung repräsentiert, der andere durch Didaskalia und Apostolische Konstitutionen. Umstritten ist, welcher der Textzeugen die ältere Textfassung bietet. Einen umfassenden Überblick über die handschriftliche Überlieferung gibt Denis (664-676).

Unumstritten sekundär sind die Textfassungen in lateinischer (ab dem 13. Jh. in Vulgatahandschriften bezeugt, dort aber mit 2Chr 33 verbunden), äthiopischer, arabischer, koptischer oder auch slawischer Sprache. Hinzuweisen wäre ferner auf eine hebräische Textfassung (deutsche Übersetzung bei Schäfer / Shaked, 51-53), die aber ebenfalls einer späteren Überlieferungsstufe angehören dürfte (Leicht) sowie auf ein von GebMan unabhängiges Textfragment in Qumran (4Q381 33,8-11, vgl. Schniedewind).

3. Entstehung

Trotz einzelner Voten für einen christlichen Ursprung des Gebets darf die Annahme jüdischen Ursprungs als am ehesten wahrscheinlich gelten. Dafür sprechen vor allem sehr enge Parallelen zu anderen frühjüdischen Schriften (vgl. u.a. Tob 3,1-6; Dan LXX 3,25-45; Joseph und Aseneth 12; griechisches Leben Adams und Evas 33,2). Der Entstehungszeitraum dürfte zwischen dem 2. Jh. vor und dem 1. Jh. nach Chr. liegen (Oegema). Die meisten gehen nach wie vor von Griechisch als Originalsprache aus. Manches spricht dafür, dass der Text im Zusammenhang der Liturgie des Synagogengottesdienstes entstanden ist (Ehrmann, Oegema).

4. Theologie

Das Gebet des Manasse ist ein eindrückliches Zeugnis frühjüdischer Sünden- und Gnadentheologie. Der Beter empfindet seine Sünde geradezu als übermächtig und schwer auf ihm lastend. Er kann sich ihrer nicht erwehren und sieht zugleich seine persönliche Verantwortlichkeit. Angesichts dieser überschweren Last kann er sich allein auf die gnädige Barmherzigkeit seines Gottes berufen, und die ihm einzig mögliche Haltung ist die des demütigen und bußfertigen Sünders (GebMan 1,11: „und nun beuge ich die Knie des Herzens“).

Dem universalen Sündenverständnis des Gebets entsprechen die universalen Züge des Gottesbildes. Dafür ist im Besonderen das Ineinander von Klage und Lobpreis bezeichnend. Gottes alles bestimmende Schöpfermacht wird gepriesen, seine Heiligkeit und (!) Barmherzigkeit sind gleichermaßen grenzenlos. Insofern ist es folgerichtig, dass die Möglichkeit der Buße hier radikal von Gott her gedacht wird. Gott hat sie „gesetzt“ (GebMan 1,8), und aus Gottes eigenem Sinneswandel heraus ist sie erwachsen (GebMan 1,7 spricht von der Metanoia Gottes im Blick auf die Sünde der Menschen, vgl. vor allem die umfangreichere Textfassung in Ap. Konst. II 22,12).

Das Gebet darf insofern als ein Lobpreis der göttlichen Vergebungsbereitschaft gelten, der seine Tiefe gerade durch die aufgezeigte Spannung von Zorn und Gnade innerhalb Gottes gewinnt. Bezeichnend ist, dass die Vergebungsbereitschaft Gottes (nicht untypisch für frühjüdisches Denken) im Horizont seiner Schöpfung gesehen wird (vgl. vor allem GebMan 1,2-3, aber auch GebMan 1,16, womit der Lobpreis des Schöpfers geradezu den Charakter eines Rahmens für das Gebet gewinnt). Ähnliche Gedanken (Erlösung als Neuschöpfung) finden sich auch im Neuen Testament, namentlich bei Paulus (u.a. 2Kor 5,17).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Manasse-Gebet)
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003 (Gebet Manasses)

2. Weitere Literatur

  • Baars, W. u.a. (Hgg.), 1972, Vetus testamentum Syriace 4,6: Cantica sive Odae, Leiden
  • Ben Zvi, E., 1988, The Authority of 1 - 2 Chronicles in the Late Second Temple Period, Journal for the Study of the Pseudepigrapha 3, 59-88
  • Charlesworth, J. H., 1985, Prayer of Manasseh, in: ders. (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha, Bd. 2, Garden City, 625-637
  • Denis, A.-M., 2000, Introduction à la littérature religieuse judéo-hellénistique, Bd. 1, Turnhout, 659-679
  • DiTommaso, L., 2001, A Bibliography of Pseudepigrapha Research 1850-1999, Sheffield (JSPE.S 39), 717-726
  • Ehrmann, M., 1997, Klagephänomene in zwischentestamentlicher Literatur, Frankfurt/M. u.a.
  • Kaiser, O., 2000, Die alttestamentlichen Apokryphen: eine Einleitung in Grundzügen, Gütersloh
  • Lehnhardt, A., 1999, Bibliographie zu den jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Gütersloh
  • Leicht, R., 1996, A Newly Discovered Hebrew Version of the Apocryphal „Prayer of Manasseh”, Jewish Studies Quarterly 3, 359-373
  • Maier, J., 1995, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. 2, Die Texte der Höhle 4 (UTB 1863), München / Basel, 338
  • Oegema, G.S., 2002, Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 6, Supplementa Lieferung 1,4, Poetische Schriften, Gütersloh
  • Oßwald, E., 1974, Das Gebet Manasses, in: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Band 4, Gütersloh, 15-28
  • Rahlfs, A. (Hg.), 1979, Septuaginta. Vetus Testamentum graecum auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis editum. Bd. 10: Psalmi cum Odis, Göttingen, 361-363
  • Schäfer, Peter / Shaked, S. (Hgg.), 1997, Magische Texte aus der Kairoer Geniza, Bd. 2 (TSAJ 64), Tübingen, 51-53
  • Schniedewind, W.M., 1996, A Qumran Fragment of the Ancient „Prayer of Manasseh”? ZAW 108, 105-107
  • Schürer, Emil: 1987, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B. C. - A. D. 135). A New English Version Revised and Edited by Geza Vermes, Fergus Millar and Martin Goodmann, Vol. III/2, Edinburgh, 730-733
  • Stemm, Soenke von, 1999, Der betende Sünder vor Gott: Studien zu Vergebungsvorstellungen in urchristlichen und frühjüdischen Texten (AGJU 45), Leiden
  • Weber, R. (Hg.), 1969, Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, Bd. 2, 1909

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