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Gebet des Apostels Paulus

Andere Schreibweise: Precatio Pauli; Oratio Pauli Apostoli; The Prayer of the Apostle Paul

(erstellt: Juli 2019)

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1. Überlieferungsverhältnisse

Das ursprünglich griechisch verfasste Gebet des Apostels Paulus (abgekürzt PrecPl für Precatio Pauli) ist nur einmal in einer koptischen Übersetzung im ersten Codex aus dem Handschriftenfund von → Nag Hammadi in Oberägypten überliefert (NHC I,1). Anderweitige Bezeugungen oder Zitate aus der PrecPl haben sich bisher nicht nachweisen lassen. In Nag-Hammadi-Codex I, der zunächst aus Ägypten nach Zürich ins C.G. Jung-Institut herausgeschafft worden war und deshalb in der Forschung auch als Jung-Codex firmiert, findet sich das Gebet des Apostels Paulus auf den beiden Seiten eines nachträglich eingefügten Vorsatzblattes, das wohl an den Anfang des Codex gehört. Wie der gesamte Codex I ist auch PrecPl im lykopolitanischen (subachmimischen) Dialekt des → Koptischen abgefasst.

Der rein griechische Titel der Schrift (ΠΡΟϹΕΥΧΗ ΠΑ[ΥΛΟΥ] ΑΠΟϹΤΟΛΟΥ / PROSEUCHĒ PA[ULOU] APOSTOLOU) findet sich auf der Rückseite des Vorsatzblattes in Zeile 7 und 8. Griechische Titel koptischer Texte finden sich innerhalb der Nag-Hammadi-Schriften auch sonst gelegentlich (z.B. am Anfang und am Ende der → Petrusapokalypse in Nag-Hammadi-Codex VII). Dem Titel folgt noch ein zweiteiliger, mit Zierleisten versehener griechischer Kolophon: „In Frieden. Christus ist heilig.“ Die beiden Teile des Kolophon sind durch eine Zierleiste getrennt, die, soweit erkennbar, zwei Kreuze und zwei Henkelkreuze (die ägyptische Hieroglyphe für anch, Leben) enthält.

2. Abfassungsverhältnisse

Da Nag-Hammadi-Codex I um die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. hergestellt wurde, muss das Gebet des Apostels Paulus vorher entstanden sein, zudem muss eine gewisse Zeit für die Übersetzung ins Koptische und gegebenenfalls für den Transfer des Textes nach Ägypten veranschlagt werden. In der Forschung wird meist eine Entstehungszeit von Mitte des 2. bis Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. erwogen; die Datierung hängt allerdings wesentlich davon ab, ob man die PrecPl in der valentinianischen → Gnosis (s.u.) verortet oder nicht. Wirklich sichere Indizien für eine Datierung gibt es, abgesehen vom genannten terminus post quem non, nicht. Ebenso unbekannt sind Ort und Verfasser/in dieser kurzen pseudepigraphischen Schrift.

3. Aufbau und Inhalt

Der Text des Gebetes ist, abgesehen von Beeinträchtigungen durch kleinere Beschädigungen an den Rändern des Einzelblattes, insgesamt recht gut erhalten. Das Gebet ist dreistrophig gebaut. Strophe 1: A1-11 (wobei die ersten beiden Zeilen fehlen), Strophe 2: A11-25, Strophe 3: A25 - B6. In Strophe 1 ruft der Beter den Erlöser an und bittet, unter Verwendung auch für gnostische Texte typischer Begriffe wie Verstand (nous/ νοῦς), Fülle (plērōma / πλήρωμα) und Ruhe (anapausis / ἀνάπαυσις), um Barmherzigkeit und „das Vollkommene, das nicht ergriffen werden kann“. Die zweite Strophe erfleht, in deutlicher Aufnahme paulinischen Sprachgebrauchs, vom existenten und präexistenten Gott Erlösung der ewigen Lichtseele durch Jesus Christus. Die Bitte um „[Heilung] meines Leibes“ passt an sich gut in ein Paulus-Gebet (vgl. Gal 4,13-14; 2Kor 12,7-10), allerdings ist „Heilung“ ([tal]čo) hier ergänzt; denkbar wäre auch eine Ergänzung zu [te]čo, „[Vergehen] (meines Leibes)“, was insbesondere dann gut passen würde, wenn man PrecPl als gnostisches Sterbegebet des → Paulus (in Analogie zum Sterbegebet des → Jakobus am Ende der 2. Jakobusapokalypse aus Nag-Hammadi-Codex V) verstehen dürfte. Die dritte Strophe schließlich bittet, in deutlichem Anklang an 1Kor 2,9, um das, „was keines Engels Auge gesehen, keines Archonten Ohr gehört und in keines Menschen Herz gelangt ist“, und endet mit einer Doxologie.

Die Überlieferungsverhältnisse erlauben keine Rückschlüsse darauf, ob das Gebet des Paulus von vornherein ein (stets) separat überliefertes Traditionsstück gewesen ist oder einmal Teil eines größeren literarischen Zusammenhangs, etwa innerhalb der → apokryphen Acta-Literatur, gewesen bzw. geworden ist (vgl. den sowohl separat als auch als Teil der Paulusakten überlieferten → Dritten Korintherbrief).

4. Religionsgeschichtliche Einordnung

Angesichts der häufigen Verwendung gnosistypischer Begriffe kann PrecPl einerseits als ein Stück gnostischer Paulusrezeption aufgefasst werden, andererseits ist, wegen der Kürze des Textes und des damit verbundenen Fehlens spezifischer Vorstellungskomplexe, eine Zuweisung zu einer bestimmten Spielart der antiken christlichen Gnosis schwierig. In der Forschung wird PrecPl häufig im Valentinianismus verortet, was an sich nicht unmöglich ist, doch sind das nachweisliche Interesse der Valentinianer an Paulus sowie das Vorkommen auch valentinianischer Begrifflichkeit noch keine hinreichende Begründung für eine sichere Einordnung. Zudem hängt die Einordnung in den Valentinianismus stark mit dem Interesse insbesondere der Ersteditoren von Nag-Hammadi-Codex I zusammen, den gesamten Codex als valentinianisch zu erweisen – ein Unterfangen, das auch angesichts weiterer Schriften des Codex nicht unproblematisch ist.

Das Gebet weist diverse Anklänge an paulinischen sowie weiteren biblischen Sprachgebrauch einschließlich der → Psalmen auf. Der bereits erwähnte Anklang an 1Kor 2,9 wird dort, in 1Kor 2,9, vom Apostel Paulus selbst bereits als Schriftzitat (ungenannter und unbekannter Herkunft) eingeführt; Origenes weist es einer Eliasapokalypse zu, vgl. aber auch Jes 64,3. Das Zitat dürfte schon im frühen Christentum frei umgelaufen sein und erfreute sich offenbar großer Beliebtheit. Aufnahmen und Umformungen finden sich unter anderem in EvThom 17; 1Joh 1,1; 2Clem 11,7 sowie im → Dialog des Erlösers (Nag-Hammadi-Codex III) §57. Am Anfang von Strophe 2 (A12-13) findet sich eine Anspielung auf Phil 2,9. Ebenfalls in Strophe 2 wird der als Mittler angerufene Christus, neben anderen Hoheitstiteln, auch mit dem johanneischen Begriff des Fürsprechers (paraklētos / παράκλητος) bezeichnet (Joh 14,16 u.ö.). Der in A21 genannte „Verkündiger des Evangeliums“ (euangelistēs / εὐαγγελιστής) wird von Layton auf Paulus bezogen, weshalb für Layton Paulus nicht selbst der Sprecher des Gebetes sein kann; vielmehr nimmt die PrecPl nach Layton die Autorität des Apostels in Anspruch („invokes his authority as an early apostolic preacher of the gospel“; Layton 1987, 303). Doch ist dieser Schluss keineswegs zwingend, da sich „Verkündiger des Evangeliums“ ebenso gut auf Jesus selbst beziehen kann (vgl. nur Mk 1,14), was auch durch den Kontext in Strophe 2 nahegelegt wird (so auch Mueller).

Inhaltlich weist das Gebet des Apostels Paulus eine Nähe zum Sterbegebet des Herrenbruders Jakobus am Ende der 2. Jakobusapokalypse aus Nag-Hammadi-Codex V auf. Diese Nähe erlaubt zumindest die Erwägung, dass es sich auch bei PrecPl um ein Sterbegebet handelt, dessen Martyriumskontext mitzudenken bzw. auch einmal literarisch vorhanden gewesen wäre. Über Vermutungen kommt man hier freilich nicht hinaus. Eine bemerkenswerte Nähe besteht überdies zwischen dem Anfang der PrecPl und dem Eingangshymnus der (nichtchristlichen) sethianischen Schrift Die drei Stelen des Seth aus Nag-Hammadi-Codex VII (StelSeth p. 118,30 - p. 119,1). Weitere Anklänge hat die Forschung an hymnische Passagen im Corpus Hermeticum ausgemacht, die freilich nicht notwendigerweise literarisch, sondern auch genre- und milieubedingt sein können (vgl. CH I 31f.; V 10f.; XIII 16-20).

5. Übersetzung

(Vorsatzblatt A) [ … (etwa 2 Zeilen fehlen) … dein] Licht,

erweise mir deine [Barmherzigkeit!

Mein] Erlöser, erlöse mich, denn [ich] bin der Deine,

der [durch dich] hervorgekommen ist!

Du bist [mein] Verstand (nous), bring mich hervor!

Du bist meine Schatzkammer, öffne (dich) mir!

Du bist meine Fülle (plērōma), nimm mich bei dir auf!

Du bist <meine> Ruhe, verleihe mir das Vollkommene,

das nicht ergriffen werden kann!

Ich flehe dich an, der du existierst und der du präexistent bist,

in dem Namen, [der] über allen Namen ist,

durch Jesus Christus, [den Herrn] der Herren, den König der Äonen.

[Verleihe] mir deine Gaben, die dich nicht gereuen,

durch den Menschensohn, den [Geist], den Fürsprecher [der Wahrheit]!

Verleihe mir die Vollmacht, dich [zu] bitten!

Verleihe (mir) [Heilung (oder: Vergehen)] meines Leibes,

wenn ich dich bitte durch den Evangelisten,

[und] erlöse meine ewige Lichtseele und meinen Geist!

Und den [Erst]geborenen der Fülle (plērōma) der Gnade –

[offenbare] ihn meinem Verstand (nous)!

Gewähre, was kein(es) Engels Auge [gesehen] und kein(es) Archonten Ohr gehört hat

und was in kein(es) Menschen Herz gelangt ist,

der engelgleich und gemäß dem Bilde des psychischen Gottes entstanden ist,

als er geschaffen wurde von Anfang –

weil ich den Glauben und die Hoffnung habe!

Und lege mir deine geliebte, auserwählte und gesegnete Größe auf,

den Erstgeborenen, den Erstgezeugten (Vorsatzblatt B)

und das [wunderbare] Geheimnis deines Hauses,

[denn] dein ist die Kraft [und] die Herrlichkeit

und der Lobpreis und die Größe für immer und ewig.

[Amen].

Griechischer Kolophon (B,9-10)

Gebet des Apostels [Paulus].

In Frieden.

Christus ist heilig.

Gnosis / → Nag Hammadi

Literaturverzeichnis

  • The Facsimile Edition of the Nag Hammadi Codices. Codex I. Published under the Auspices of the Department of Antiquities of the Arab Republic of Egypt in Conjunction with the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Leiden 1977
  • Bethge, H.-G. / Plisch, U.-K., Das Gebet des Apostels Paulus (NHC I,1), in: Schenke, H.-M. / Kaiser, U.U. / Bethge, H.G. (Hgg.), Nag Hammadi Deutsch. NHC I-XIII, Codex Berolinensis 1 und 4, Codex Tchacos 3 und 4. Studienausgabe, Berlin, 32013, 7-9
  • Cherix, P., Concordance des textes de Nag Hammadi. Le codex I (BCNH.C 4), Louvain 1995
  • Dubois, J.-D., Prière de l’Apôtre Paul (NH I, 1), franz. Übersetzung online unter https://www.naghammadi.org/wp-content/uploads/2015/07/NH-I-1-Prière-de-lapôtre-Paul.pdf (abgerufen am 14.05.2019)
  • Kasser, R. u.a., Oratio Pauli Apostoli, in: Kasser, R. u.a., Tractatus Tripartitus. Partes II et III, Bern 1975, 243-285
  • Layton, B., The Gnostic Scriptures. A New Translation with Annotations and Introductions, London 1987, 303-305
  • Layton, B., Coptic Gnostic Chrestomathy. A Selection of Coptic Texts with Grammatical Analysis and Glossary, Leuven 2004, 154-155
  • Mueller, D., The Prayer of the Apostle Paul. Introduction. Text and Translation, in: Attridge, H.W. (Hg.), Nag Hammadi Codex I (The Jung Codex). Introductions, Texts, Translations, Indices (NHS 22), Leiden 1985, 5-11
  • Mueller, D., The Prayer of the Apostle Paul. Notes, in: Attridge, H.W. (Hg.), Nag Hammadi Codex I (The Jung Codex). Notes (NHS 23), Leiden 1985, 1-5
  • Plisch, U.-K., Art. Paulus III (in den ntl. Apokryphen), in: RAC 26 (2015) 1215-1229

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