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(erstellt: September 2008)

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Ortschaften und Städte hatten in alttestamentlicher Zeit zumeist keine breit angelegten Straßen, sondern bestanden aus engen, verwinkelten und häufig auch verschmutzten Gassen (hebr. חוּץ ḥûṣ).

1. Begriff

Der hebr. Begriff für „Gasse“, חוּץ ḥûṣ, kann unterschiedlich verwendet werden: Im adverbiellen Sprachgebrauch bezeichnet חוּץ ḥûṣ (in Verbindung mit Präpositionen [מִחוּץ miḥûṣ; בַּחוּץ baḥûṣ] oder mit he-locale [חוּצָה ḥûṣāh]) im weiteren Sinne den Bereich „draußen“, z.B. außerhalb des Lagers (Ex 29,14; Lev 24,14 u.ö.) oder des Zeltes (Lev 14,8 u.ö.), außerhalb der Stadt (Gen 19,16; Gen 24,11 u.ö.), der Stadtmauer (Jer 21,4 u.ö.) oder außerhalb des Hauses (Gen 24,31; Jos 2,19; Ez 40,5 u.ö.). Im substantivischen Gebrauch trägt חוּץ ḥûṣ im Singular im engeren Sinne die Bedeutung „Gasse / Straße / Weg“, im Plural kann der Begriff auch zur Bezeichnung eines Stadtviertels im Sinne einer Handelsniederlassung dienen (vgl. 1Kön 20,34). Im synonymen Parallelismus membrorum wird חוּץ ḥûṣ „Gasse“ häufig mit dem Parallelbegriff רְחֹב rəḥov „Platz“ verbunden (vgl. Am 5,16; Jes 15,3; Spr 1,20; Spr 7,12; Spr 22,13 u.ö.). Im Unterschied zu dem Begriff רְחֹב rəḥov, der aufgrund seiner etymologischen Ableitung von רחב rāḥav „weit / breit sein“ einen weiten Platz einer Stadt bezeichnen kann, ist die Gasse durch ihre Enge charakterisiert.

2. Ort von Gefahr und Unheil

Die Gasse ist der Bereich außerhalb des familiären Schutz- und Lebensraumes Haus. Sie ist ein öffentlicher Raum, der verschiedene Funktionen erfüllen kann: Die Gasse ist der Ort der Verkündigung von Nachrichten (2Sam 1,20; Spr 1,20; Jes 42,2; Jer 11,6), sie ist der Ort der öffentlichen Trauer und der Klage (Jes 15,3; Jes 24,11; Jes 33,7; Am 5,16) und der üblen Nachrede (Ps 41,7), aber auch der Ort des Gedenkens (Hi 18,17) oder der Fremdgötterverehrung (Jer 44,9.17.21). In Spr 1-9 kann die Gasse – wie auch die Plätze der Stadt – der Ort sein, an dem die → personifizierte Weisheit zur Einsicht aufruft (Spr 1,20).

Als Außenraum außerhalb des geschützten Hauses kann die Gasse, wie auch andere Außenräume, z.B. außerhalb des Lagers oder außerhalb der Stadt, zu den bedrohlichen und gefährlichen Orten zählen und ist dementsprechend mit negativen Konnotationen besetzt: Räuber plündern auf den Gassen (Hos 7,1), die Hure „lauert“ auf der Gasse (Spr 7,12), und nach Ri 19,25 wird eine Frau draußen auf der Gasse vergewaltigt. Vor den Gefahren auf der Gasse bietet das Haus Schutz; deshalb soll man einem Fremden zur Nacht die Tür öffnen (Hi 31,32).

Das Motiv der Gasse spielt eine besondere Rolle in der prophetischen Literatur. In der Unheilsverkündigung wird die Gasse zum Ort des Unheils, das dadurch in seinen Auswirkungen in besonderem Maße öffentlich sichtbar wird: JHWH lässt den Jubel in den Gassen aufhören (Jer 7,34; vgl. Jes 24,11); die Gassen werden verwüstet und menschenleer sein (Jer 33,10; vgl. Jer 44,6; Ez 26,11; Zef 3,6); Menschen werden wie Dreck auf der Gasse zertreten (Jes 10,6; vgl. Jes 5,25; Mi 7,10; Sach 10,5; Klgl 4,5; 2Sam 22,43) oder wie Unrat auf die Gasse geschüttet (Ps 18,43), sie werden auf den Gassen zum Schaudern gebracht werden (Klgl 4,5) oder wie Erschlagene auf den Gassen liegen (Jer 14,16; vgl. Jer 51,4; Ez 11,6; Ez 28,23).

Ein besonders grausames Motiv der prophetischen Verkündigung ist das Motiv des Todes der Kinder auf der Gasse (vgl. Lux): Kinder werden auf der Gasse zerschmettert (Nah 3,10), sie liegen ohnmächtig auf der Gasse (Jes 51,20), und sie sind auf den Gassen vom Hungertod bedroht (Klgl 2,19, vgl. Klgl 2,21). Der Tod rottet den Säugling von der Gasse aus (Jer 9,20), und der Prophet Jeremia soll den → Zorn JHWHs über → Säuglinge auf der Gasse ausschütten (Jer 6,11). Indem das Unheil die wehrlosesten Opfer der Gesellschaft, Säuglinge und Kinder, trifft, wird die prophetische Unheilsverkündigung besonders verschärft.

In der prophetischen Heilsverkündigung hingegen ist das Motiv der Gasse seltener belegt. Nach Jer 33,10f. soll die menschenleere Gasse wieder Ort des Jubels werden (vgl. als Kontrasttext Jer 7,34). Sach 8,4f. nennt interessanterweise nicht Gassen, sondern Plätze als Orte des friedlichen Lebens und entwirft damit ein Gegenbild zur prophetischen Ankündigung des Todes auf der Gasse: In der künftigen Heilszeit werden Alte auf den Plätzen sitzen und Kinder dort spielen. Dahinter steht vielleicht „die Konzeption einer Stadt, die vom Dreck der engen Gassen frei sein wird“ (Lux, 215).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Fritz, V., 1990, Die Stadt im alten Israel (Beck’s Archäologische Bibliothek), München
  • Lux, R., 2006, Die Kinder auf der Gasse. Ein Kindheitsmotiv in der prophetischen Gerichts- und Heilsverkündigung, in: A. Kunz-Lübcke / R. Lux (Hgg.), „Schaffe mir Kinder …“ Beiträge zur Kindheit im alten Israel und seinen Nachbarkulturen (ABG 21), Leipzig, 197-221

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