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(erstellt: Februar 2011)

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1. Die hebräischen Begriffe

Der mit 109 Belegen gängigste Begriff mit der Bedeutung „Flügel“ ist das von der gemeinsemitischen Wurzel knp gebildete feminine Nomen כָּנָף kānāf. In poetischer Sprache begegnen auch die Synonyme אֶבְרָה ’ævrāh (Dtn 32,11; Ps 68,14; Ps 91,4; Hi 39,13) bzw. אֵבֶר ’evær (Ez 17,3) und aramäisch גַּף gaf (Dan 7,4.6).

2. Vorkommen

2.1. Vögel

כָּנָף kānāf wird mit Bezug auf verschiedene Vogelarten gebraucht, z.B. den → Adler bzw. Geier (נֶשֶׁר Ex 19,4 u.ö.), die Straußenhenne (רְנָנִים Hi 39,13; → Strauß), den → „Falken“ (?) oder → „Habicht“ (?) (נֵץ Hi 39,26), den → „Storch“ (חֲסִידָה Sach 5,9) und die → „Taube“ (יוֹנָה Ps 68,14). In pleonastischer Redeweise („gefiederter Vogel“) steht כָּנָף kānāf einige Male als Nomen rectum einer attributiven Constructus-Verbindung mit einem Begriff für „Vogel“ (wie עוֹף in Gen 1,21 oder צִפּוֹר in Dtn 4,17) als Nomen regens. In lexikalisierter metaphorischer Verwendung findet sich כָּנָף kānāf als Bezeichnung der „Mantelzipfel“ (Num 15,38; Hag 2,12 u.ö.) und der (vier) „Enden der Erde“ (כַּנְפוֹת הָאָרֶץ Jes 11,12; Jes 24,16; Ez 7,2; Hi 37,3; Hi 38,13).

2.2. Serafim und Keruben

Außer Vögeln werden verschiedene mythologische Wesen als mit Flügeln ausgestattet beschrieben:

Mischwesen 16

1. Serafim. In Jes 6,2 besitzen die → Serafim (שְׂרָפִים), die in der Vision den himmlischen Hofstaat JHWHs bilden, drei Flügelpaare, von denen sie eines zum Fliegen gebrauchen, während sie sich mit den anderen ehrfurchtsvoll Gesicht und Füße bedecken. Dabei ist wohl das ägyptische Schutzsymbol des geflügelten → Uräus rezipiert: Seit der 18. Dynastie finden sich Darstellungen von Uräen mit zwei schützend nach vorn gebreiteten Flügeln. Die judäische Siegelproduktion des ausgehenden 8. Jh.s greift dieses Symbol in Form des vierflügligen Uräus auf, der je zwei Flügel nach beiden Seiten ausbreitet, wobei die Steigerung der Flügelzahl die Schutzmacht der Uräen erhöhen soll.

Die sechsflügligen Serafim der Jesaja-Vision bedeuten demgegenüber eine nochmalige Steigerung. Außerdem verwenden dort die Begleitwesen JHWHs ihre Flügel nicht zum Schutz des Königsgottes, sondern um sich selbst vor dessen alles überstrahlender Heiligkeit zu schützen (vgl. Keel 1977, bes. 77f. 103-110; Keel / Uehlinger, 311f.).

2. Keruben. Mit 22 Belegen ein Schwerpunkt des Wortvorkommens ist die Verwendung von כָּנָף kānāf für die Flügel der → Keruben (כְּרוּבִים). Diese als geflügelte Sphingen (mit Menschenkopf und Löwenkörper) vorgestellten → Mischwesen, deren Darstellungen als Wächter vor Palästen und Tempeln im gesamten Alten Orient verbreitet waren, werden als Wächter am Eingang des Gartens Eden (Gen 3,24) und des Gottesgartens (Ez 28,14.16) erwähnt. Vor allem aber fungieren zwei vergoldete Keruben-Plastiken im Allerheiligsten des salomonischen Tempels als Thron JHWHs und schützen gleichzeitig mit ihren Flügeln die Lade (1Kön 6,23-28; 1Kön 8,6-7; vgl. 2Chr 3,10-14; 2Chr 5,7-8). Darstellungen finden sich außerdem als Schnitzwerk an den Wänden und Türflügeln des Hauptraumes (1Kön 6,29-33.35) sowie als Dekoration der Kesselwagen (1Kön 7,29.36).

Mit je zwei Flügelpaaren ausgestattet sind auch die vier Lebewesen in der Berufungsvision → Ezechiels (Ez 1; vgl. auch Ez 10; Ez 41,18-19), in deren Beschreibung sich die Vorstellung von Keruben mit Elementen mesopotamischer Genienprofile verbindet. Mit je zwei Flügeln verhüllen sie ihren Leib, während die anderen beiden nach oben ausgespannt sind und sich berühren (Ez 1,11).

2.3. Schutz unter den „Flügeln“ JHWHs

In individuellen Klageliedern (vgl. Ps 17,8; Ps 57,2; Ps 61,5; → Psalmen), im Bekenntnis (vgl. Ps 36,8; Ps 63,8; Ps 91,1-4) und in der Wunschäußerung Rut 2,12 ist metaphorisch vom Sich-Bergen „im Schatten der Flügel“ oder „unter den Flügeln“ JHWHs die Rede. Der Bildspender für diese Metaphorik ist nicht eindeutig auszumachen.

G. von Rad interpretierte die Metapher als Bezugnahme auf die Asylfunktion des Heiligtums, in dem die Kerubenflügel als Symbol des Gottesschutzes gelten sollen (von Rad, 415f.), allerdings wird den Keruben nirgendwo explizit eine solche Funktion zugesprochen und die Redeweise ist nicht an den Tempel gebunden. Zu denken ist grundsätzlich einfach an das lebensweltliche Wissen um das Schutzverhalten von Vögeln (vgl. Hempel). Das schließt nicht aus, dass die Redeweise durch Darstellungen etwa des Horusfalken (→ Horus), der → Maat, der vogelgestaltigen Göttinnen → Isis oder Nephthys oder weiterer ägyptischer oder vorderasiatischer weiblicher Schutzgottheiten angeregt ist (vgl. Fensham; Schroer 1995 und 1997), deren Ikonographie dieses lebensweltliche Wissen aufgreift.

2.4. „Flügel des Windes“ und „Sonne der Gerechtigkeit“

In hymnischen Texten werden die כַּנְפֵי־רוּחַ „Flügel des Windes“ (vgl. 2Sam 22,11 = Ps 18,11; Ps 104,3) und synonym damit die Begriffe Kerub (vgl. 2Sam 22,11 = Ps 18,11) und Wolke (עָב vgl. Ps 104,3) als Gefährt JHWHs bei seiner Epiphanie erwähnt. Diese Vorstellung erinnert an die von den „Flügeln des Südwindes“ im akkadischen Adapa-Mythos (TUAT [Ergänzungslieferung], 51-55).

Die Erwähnung von „Flügeln“ der Sonne findet sich im Alten Testament nur in der Ankündigung vom Aufgehen der „Sonne der Gerechtigkeit“, in deren Flügeln „Heilung“ ist, in Mal 3,20 (vgl. aber auch die vielleicht gleichbedeutende Erwähnung der כַּנְפֵי־שָׁחַר „Flügel des Morgenrots“ in Ps 139,9; Hi 3,9; Hi 41,10).

Das Bild der geflügelten Sonnenscheibe stammt ursprünglich aus Ägypten und stellte den Sonnengott dar, dessen Hauptaufgabe dort – wie auch sonst im Alten Orient – in der Garantie der kosmischen wie der sozialen Ordnung und der Durchsetzung der gerechten Lebensordnung gesehen wurde (vgl. Janowski). Der Pharao galt als Verkörperung und Repräsentant des Sonnengottes und ist deshalb häufig mit dem Attribut der Flügelsonne abgebildet. Seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. wurde dieses Symbol in Syrien und später darüber hinaus in weiten Bereichen des Alten Orients aufgegriffen. Dabei wuchs der Darstellung im Lauf der Zeit eine Reihe charakteristischer weiterer Motive zu; die Bedeutung des Symbols wandelte sich und wurde mit unterschiedlichen Vorstellungsinhalten angereichert, behielt aber meist ihren Charakter als Emblem der Sonnengottheit und des mit ihm in Verbindung stehenden Königtums.

Indem Mal 3,20 JHWHs Wirken mit diesem Symbol assoziiert, ruft er die seit dem Aufkommen in Ägypten damit verbundenen zentralen Funktionen des Sonnengottes wach, nämlich das Wirken als Retter und Richter, das der Prophet den bedrängten Gerechten ankündigt. Diese Funktion JHWHs wird auch sonst im Alten Testament häufig mit solartheologischen Vorstellungen und Ausdruckskonventionen beschrieben (vgl. Irsigler; Lauber 2006, 331-346).

Fluegel 4
Als königliches Wappen und Symbol für JHWH als dynastische Schutzgottheit erscheint die Flügelsonne auf judäischen Siegeln und den lmlk („dem König [gehörend]“)-Stempelabdrücken auf den Henkeln von Vorratskrügen aus königlichen Weingütern im Gebiet um Hebron. Damit wird eine Ausdrucksform der Königsideologie aus der Umwelt Israels ganz selbstverständlich adaptiert.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976 (Taschenbuchausgabe, Rom u.a. 1994)
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
  • Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989.
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Avigdad, N., 1997, Corpus of West Semitic Stamp Seals. Revised and Completed by Benjamin Sass, Jerusalem.
  • Eissfeldt, O., 1942, Die Flügelsonne als künstlerisches Motiv und als religiöses Symbol, FuF 18, 145-147 = ders., Kleine Schriften 2, Tübingen 1963, 413-419.
  • Fensham, F.C., 1966, Winged Gods and Godesses in the Ugaritic Tablets, OrAnt 5, 157-164.
  • Görg, M., 1995, Kerub, NBL II, Stuttgart, 467-468.
  • Hempel, J., 1924, Jahwegleichnisse der israelitischen Propheten, ZAW 42, 74-104.
  • Irsigler, H., 2004, Vom Mythos zur Bildsprache. Eine Einführung am Beispiel der „Solarisierung“ JHWHs, in: ders. (Hg.), Mythisches in biblischer Bildsprache. Gestalt und Verwandlung in Prophetie und Psalmen (QD 209), Freiburg / Basel / Wien, 9-42.
  • Janowski, B., 1989, Rettungsgewißheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament. Bd. 1: Alter Orient (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 59), Neukirchen.
  • Keel, O. / Staubli, T., 2001, Im Schatten deiner Flügel. Tiere in der Bibel und im Alten Orient, Freiburg (Schweiz).
  • Keel, O. / Uehlinger, C., 6. Aufl. 2010, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Freiburg / Breisgau.
  • Keel, O., 1977, Jahwe-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4 (SBS 84/85), Stuttgart.
  • Keel, O., 5. Aufl. 1996, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen.
  • Kletter, R., 2002, Temptation to Identify: Jerusalem, mmšt, and the lmlk Jar Stamps, ZDPV 118, 136-149.
  • Lauber, S., 2006, „Euch aber wird aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit“ (vgl. Mal 3,20). Eine Exegese von Mal 3,13-21 (ATSAT 78), St. Ottilien, bes. 387-401.
  • Lauber, S., 2008, Zur Ikonographie der Flügelsonne, ZDPV 124, 89-106.
  • Mayer-Opificius, R., 1984, Die geflügelte Sonne. Himmels- und Regendarstellungen im Alten Vorderasien, UF 16, 189-236.
  • Pering, B., 1932-1933, Die geflügelte Scheibe in Assyrien. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung, AfO 8, 281-296.
  • Podella, T., 1996, Das Lichtkleid JHWHs. Untersuchungen zur Gestalthaftigkeit Gottes im Alten Testament und seiner altorientalischen Umwelt (FAT 15), Tübingen.
  • Rad, G. von, 10. Aufl. 1992, Theologie des Alten Testaments. Bd. 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München.
  • Riede, P., 2000, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn, 325-338.
  • Schroer, S., 1995, Die Göttin und der Geier, ZDPV 111, 60-80.
  • Schroer, S., 1997, „Im Schatten deiner Flügel“: Religionsgeschichtliche und feministische Blicke auf die Metaphorik der Flügel Gottes in den Psalmen, in Ex 19,4; Dtn 32,11 und in Mal 3,20, in: Kessler, R./ Ulrich, K./ Schwantes, M./ Stansell, G. (Hgg.), Ihr Völker alle, klatscht in die Hände (FS E.S. Gerstenberger; Kontextuelle Bibelinterpretationen 3), Münster, 296-316.
  • Welten, P., 1969, Die Königs-Stempel. Ein Beitrag zur Militärpolitik Judas unter Hiskia und Josia (ADPV 1), Wiesbaden.

Abbildungsverzeichnis

  • Vierflügeliger Skarabäus mit Sonnenscheibe (Samaria; Eisenzeit II B). Aus: O. Keel / Chr. Uehlinger, Götter, Göttinnen und Gottessymbole (QD 134), Freiburg 5. Aufl. 2001, Abb. 257a; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
  • Kerub (phönizische Elfenbeinschnitzerei; Nimrud; 800-700 v. Chr.). Mit Dank an © The Trustees of the British Museum; ME 134322
  • Isis oder Nephthys. Mit Dank an © The Trustees of the British Museum; BM 60904
  • Flügelsonne als königliches Wappen Hiskias (lmlk-Stempelabdruck, um 700 v. Chr.). Mit Dank an © The Trustees of the British Museum; BM 132072

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