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(erstellt: September 2015)

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Das Thema „Flucht“, „Fliehen“, „Flüchtling“ oder „flüchtig sein“ ist schon außerhalb der Bibel, etwa in Ägypten (→ Sinuhe-Erzählung), gut belegt, doch hat es in der Bibel besonders Gewicht und belegt ein breites Spektrum: Es reicht vom zum Teil panikartigen Weglaufen aus Kriegs-, Verfolgungs- und Unterdrückungssituationen über das Verlassen der Heimat aufgrund von Naturkatastrophen bzw. Missernten bis hin zum Versuch der Distanznahme zu dem Gott JHWH; zudem gibt es metaphorische Verwendungen des Themas. Hinter den biblischen Texten stehen vielfältige tatsächliche Fluchterfahrungen und deren Verarbeitungen. Schon im Zusammenhang der assyrischen und neubabylonischen Eroberungen in Israel / Palästina hat es immer wieder Flüchtlinge und Fluchtbewegungen gegeben, außerdem aufgrund wiederkehrender witterungsbedingter bzw. klimatischer Probleme. Die Flucht bzw. Herausführung aus Ägypten unter Mose ist das zentrale Ereignis der alttestamentlichen Heilsgeschichte.

Das Thema „Flucht“ berührt bzw. überschneidet sich mit einer Reihe anderer Themen, die sich in diesem Lexikon besonders unter den Einträgen → Asyl, → Fremder und → Zuflucht finden, aber auch mit dem Eintrag → Exil (Deportation, Zwangsumsiedlung). Spezielleres findet sich jeweils dort.

1. „Flucht“ im Alten Testament

1.1. Terminologie

Das Biblisch-Hebräische kennt eine erstaunliche Fülle von Verben und z.T. deren nominalen Entsprechungen (Flucht, Flüchtling, Fluchtort etc.), die von den üblichen deutschen Übersetzungen des Alten Testaments gerne mit „fliehen“ / „flüchten“ oder Verben dieses Wortfeldes wiedergegeben werden. Das alleine zeigt schon, dass „Flucht“ und „Fliehen“ als vielgestaltiges, bedeutsames, auch neuralgisches Thema in der Lebenswelt der biblischen Autoren wahrgenommen worden sein muss. Zu den Verben gehören zum einen solche, die eher die Fluchtbewegung thematisieren, in Reihenfolge ihrer Häufigkeit: נוּס nûs „fliehen“ (typisch für militärischen Kontext, häufiger mit negativen Konnotationen, also „schändliche Flucht“), ברח baraḥ „entlaufen / sich davonmachen“ (eher bei familiären Spannungen, meist ohne negative Konnotationen); נדד nadad „panisch und ruhelos fliehen“ (fast nur in poetischen Texten, oft in bildhaftem Gebrauch; dazu gibt es die selteneren Alternativformen נוּד nûd „als Flüchtling umherirren“ und נדה nadah Hitpael „sich trennen“); חפז ḥapaz Nifal „ängstlich fliehen“. Zum anderen gibt es jene Verben, die den Aspekt des erfolgreichen „sich-in-Sicherheit-Bringens“ in den Vordergrund stellen, nämlich מלט malaṭ Nifal „entkommen / entrinnen“; פלט palaṭ Piel „entkommen / entrinnen“ (dazu das Nomen פָלִיט palîṭ „Flüchtling“); שׂרד śarad „entfliehen / entrinnen“ (als Verb nur Jos 10,20, häufiger als Nomen שָׂרִיד śarîd „Entronnener / Flüchtling“), נצל naṣal Nifal „sich retten“; עוּז ’ûz Hifil „sich in Sicherheit bringen“ (Ex 9,19; Jes 10,31; Jer 4,6; Jer 6,1). Zum Wortfeld gehören weiter Verben, die das Moment des Unstetigen, Flüchtigen enthalten, wie insbesondere נוּע nu‘ „umherstreifen“ (Gen 4,12-14) und אבד ’abad „zugrunde gehen“ (vgl. besonders Dtn 26,5), aber auch Verben mit einer Nuance des Eiligen, Ungestümen wie חושׁ ḥûš Hifil „eilends weichen“ (Jes 28,16).

Die erstgenannten Verben sind im Hebräischen Bewegungsverben, sie können den Grund oder Ausgangspunkt der Flucht und / oder Zielpunkt der Flucht in den Vordergrund stellen. Die Verben haben gemeinsam, dass sie Reaktionen auf Negativfaktoren benennen, und zwar auf Gefahren, Bedrohungen oder Ängste, denen mit der Fluchtbewegung abgeholfen werden soll; Heimlichkeit ist dabei meistens nicht ausgedrückt. Während also die zuerst genannten Verben für „fliehen“ im engeren Sinn eher auf den Fluchtvorgang selbst abheben, geht es bei Verben wie פלט palaṭ, מלט malaṭ, שׂרד śarad, נצל naṣal und עוּז ‘ûz um das Ergebnis, im Idealfall die erlangte neue Sicherheit bzw. Rettung. Beide Typen von Verben können auch kombiniert auftreten (besonders נוּס nûs oder ברח baraḥ mit nachfolgendem מלט malaṭ, vgl. z.B. Gen 19,20; 1Sam 19,10.12.18; Jer 46,6; Am 9,1), aber auch, dann quasi austauschbar, im Parallelismus membrorum (→ Poesie) stehen. Als einzelne sind sie kontextuell sogar austauschbar mit allgemeineren Bewegungsverben wie „(weg)fliegen“ (Nah 3,16-17), „(weg)gehen“ (Jer 9,9), „(weg)ziehen“ (vgl. Gen 28,10 mit Gen 27,43) oder „sich entfernen“ (Ps 55,8) oder auch mit passivierten Formen von Verben wie „versprengen“ (Jes 16,3) oder „wegstoßen“ (Hi 18,18). Wegen dieser Austauschbarkeit mit einfachen Bewegungsverben wird keineswegs jede gewollte oder eigentlich ungewollte Migration ausdrücklich als Fluchtbewegung dargestellt, man vgl. Abrahams Auswanderung aus Haran nach Kanaan in Gen 12,1-6 (Terminologie: [weg]gehen, [weg]ziehen) mit der durch die Verhältnisse erzwungenen nach Ägypten in Gen 12,10-19 (Terminologie: hinuntergehen). Außerdem gibt es Worte, die in vielen Fällen das Thema Flucht wachrufen; dazu gehört insbesondere die Wurzel גוּר gûr „sich als Fremder niederlassen“ (als Nomen: Fremder). Schließlich redet auch ein Vers wie Jer 44,7 mit seinen drastischen Formulierungen („ausrotten von Juda“) von Flucht ohne eigentliches Fluchtvokabular.

Das umfangreiche Thema Flucht findet sich sehr viel häufiger als nur bei den spezifischen Verben, wenn auch zum Teil nur implizit, angedeutet oder mitgedacht. Oft signalisiert auch nur der sozialrechtliche Terminus „Fremder“ – einen eigenen dauerhaften sozialrechtlichen Status „Flüchtling“ gibt es nicht –, dass ein Text tatsächlich auch bzw. besonders von Flüchtlingen bzw. Migrantinnen und Migranten spricht: Wer flüchtet, lebt nachher fern der Heimat als „Fremder“ (vgl. dazu z.B. 2Sam 4,3).

Es gibt einige eher metaphorische Verwendungen des engeren Fluchtvokabulars, die meistens einen Mangel anzeigen, hier aber nicht weiter behandelt werden: die Flüchtigkeit des Lebens ( Hi 9,25; Hi 14,2), das Schwinden der Lebenskraft (Dtn 34,7), das Fliehen des Schlafs (Gen 31,40; Est 6,1; Dan 6,19 [aram.]; vgl. auch Jes 38,15). Neutral gesprochen „fliehen“ am Abend die Schatten (Hhld 2,17; Hhld 4,6). In einem positiven Bild ist auch die Rede davon, dass Schmerz und Seufzen „fliehen“, verschwinden (Jes 35,10).

1.2. Flucht bei gewalttätigen Auseinandersetzungen

1.2.1. Flucht im und vor Krieg

Dieses Thema wird in den alttestamentlichen Texten ganz häufig und auch regelmäßig mit den genannten relevanten Verben, speziell mit der Wurzel נוּס nûs „fliehen“, also sehr explizit angesprochen. Am häufigsten geht es um fliehende Kämpfer in kriegerischen Auseinandersetzungen, besonders häufig auch um ihre fliehenden Anführer (Gen 14,10; Jos 10,16; Ri 1,6; Ri 4,15.17; Ri 8,12; 1Kön 12,28; 1Kön 20,20.30; 2Kön 9,23.27; 2Kön 14,19; 2Chr 10,18; 2Chr 25,27; Ps 68,13; Jes 22,3; Jer 39,4; Jer 52,7, vgl. 2Kön 25,4): Sie versuchen sich durch Flucht der Verantwortung, der Niederlage im Kampf und möglicher Kriegsgefangenschaft zu entziehen bzw. sogar ihr nacktes (Am 2,16) Leben zu retten (so ausdrücklich 2Kön 7,7; Jer 48,6; Jer 51,6; → Krieg). Man kann dabei auch nur dem Tod entrinnen (fliehen) und sich doch in Kriegsgefangenschaft wiederfinden (Ez 6,9). Das erste Beispiel einer Flucht in der Bibel findet sich in Gen 14,10 und dann sehr häufig als Ergebnis von Kämpfen (generalisiert: Dtn 28,7.25). Die Tatsache der Flucht ist in diesen Fällen letzter Ausdruck der umfassenden, schmerzlichen, zuweilen schmachvollen Niederlage. Wer als Krieger im fremden Gebiet kämpft, kann sich natürlich „nach Hause“ flüchten, wie viele Texte betonen (1Sam 4,10; 2Sam 18,17; 2Sam 19,9; 2Kön 8,21; 2Kön 14,12; 2Chr 25,22; Jes 13,14; Jer 50,16). In ganz wenigen Fällen dient eine – vermeintliche – Flucht allerdings taktischer Raffinesse, um den Gegner dadurch in eine Falle zu locken (Jos 8,5ff; Ri 20,32).

Neben der Flucht der Kämpfenden wird häufiger die Flucht (auch) der Zivilbevölkerung in oder aus kriegerischen oder bürgerkriegsähnlichen Situationen erwähnt. Meist handelt es sich um Binnenflucht in unwegsame und unwirtliche Gebiete wie Wüsten oder Gebirge (vgl. etwa Gen 14,10; Jos 8,15.20; Ri 20,45.47; Ez 7,16; Ps 55,8) oder auch in schützende Städte und Stätten (z.B. Jos 10,20; Ri 9,51; 1Kön 12,18; 1Kön 20,30; 2Kön 14,19; Jer 4,6). Sprachlich besonders hart sind dabei Fluchtformulierungen ohne Richtungsangabe (z.B. Jer 50,3, vgl. auch Jer 49,30). Allerdings werden selbst die erhofften Schutzräume ihrer Schutzfunktion nicht immer gerecht (schrecklich: 1Makk 5,43-44; 1Makk 10,84), weswegen man sie bisweilen wieder meiden muss (Jer 6,1). Einen längeren Textzusammenhang mit einer Flucht auch der Zivilbevölkerung ins Ausland bietet Jer 40-44, wo die Auswanderungswilligen dann „Fremde“ in Ägypten sein werden, wie mehrfach betont wird, allerdings Auswanderung gegen JHWHs erklärten Willen; gegen Ägypten als Fluchtland vgl. auch Jes 30,1-3.

Meistens wird in den Texten den vor Krieg flüchtenden Ausländern, gar Feinden, keine Empathie entgegengebracht, öfter natürlich den fliehenden Judäern (z.B. Ob 14). Eine klare Ausnahme stellen – zugunsten flüchtiger Moabiterinnen und Moabiter (→ Moab) – Jes 15,5 und Jes 16,2-4 dar. Durchaus parteiisch werden die Moabiter auch in Jer 48,6 zur Flucht aufgefordert bzw. in Jer 48,19 einfühlsam nach ihren Fluchtgründen befragt. Vielleicht spiegelt diese Empathie zugunsten moabitischer (Kriegs)Flüchtlinge das → Rutbuch: In Moab erging es der Familie des allerdings aus wirtschaftlichen Gründen geflohenen Betlehemiters Elimelech von Seiten der Moabiter nach der Darstellung des Buches nicht schlecht. Dass Kriegsflüchtlinge besonderer Fürsorge bedürfen (Wasser, Brot, Schutz vor Auslieferung), formuliert Jes 21,14-15 sehr eindrücklich (vgl. Jer 49,30; Ob 14). Wie schwer oder gar unmöglich die Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimat sich gestalten kann, implizieren Texte wie Jer 44,14.28.

1.2.2. Flucht vor Auseinandersetzungen in Familie und Sippe

Auch dieses Thema ist in der Bibel fast von Anfang an präsent, zum ersten Mal im Zusammenhang der Eifersucht der → Sara gegenüber → Hagar, die deshalb vor ihrer Herrin in die Wüste flieht bzw. ihrer Herrin davonläuft (vgl. Gen 16,6-8; mit ברח baraḥ). Es ist besonders interessant, dass die Parallelerzählung diese Flucht als Verstoßung bzw. „Wegschicken“ darstellt (Gen 21,10-14). Innerfamiliäre Absetzbewegungen finden sich in der Jakobserzählung, in der das Thema „Flucht“ geradezu tonangebend ist (→ Jakob vor → Esau: Gen 27,43; Gen 35,1.7; vgl. Hos 12,13; → Jakob vor → Laban: Gen 31,19ff). Schließlich gehört es häufiger in den Zusammenhang dynastischer Streitigkeiten, die schon wieder militärischen Charakter haben können (vgl. z.B. Ri 9,21; Ri 11,3; 2Sam 15,24; 2Sam 19,10; 1Kön 2,28f).

1.2.3. Flucht von Einzelpersonen aus politischen Motiven

Eng mit den zuletzt genannten Texten zusammen hängen auch jene Texte mit einer Fluchtmotivation, die aus politischer Verfolgung oder dynastischer Konkurrenz herrührt, nicht selten nach einem Aufstandsversuch. Die Flucht geht normalerweise unter den Schutz eines Mächtigeren ( 1Sam 19,18: → David zu → Samuel vor → Saul) oder ins nicht kontrollierte Ausland, so z.B. in philistäische Städte (1Sam 21,11 und 1Sam 27,1-4: David vor Saul nach → Gat; vgl. auch 2Sam 19,10: David vor → Absalom) oder auch sehr häufig nach Ägypten als Fluchtland Nr. 1 (1Kön 11,17.40: der Edomiter Hadad bzw. → Jerobeam I. vor → Salomo bzw. 1Kön 11,23: der Aramäer Reson vor Hadad-Eser, dazu 1Kön 12,2). → Elia flieht angesichts der Todesdrohung durch → Isebel in die Wüste (1Kön 19,3; zur → Wüste als sicherem Zufluchtsort vgl. auch Ps 55,8 und Ri 20,47). → Elisa muss sich nach der Salbung Jehus vor möglicher Verfolgung sofort in Sicherheit bringen (2Kön 9,3.10). Es gehört im Übrigen zur Ironie in der Bibel – aber auch der realen Welt des antiken Israel / Juda –, dass Ägypten als das Land, aus dem Israel geradezu paradigmatisch flieht bzw. fliehen musste, zugleich das bedeutendste Einwanderungsland gewesen sein dürfte: Ägypten war für Israel / Juda also im doppelten Sinne das wichtigste Fluchtland.

1.3. Flucht vor Strafverfolgung nach vorausgehender Tötung

Die Beispiele für Flucht nach der Tötung eines Menschen finden sich fast alle in den normativen Texten des Alten Testaments und werden meist mit der Wurzel נוּס nûs „fliehen“ gebildet. Unterhalb der Schwelle „Tötung“ gibt es bezeichnenderweise praktisch keine normativen Rechtstexte, die sich ausdrücklich dem Thema „Flucht“ widmen, mit der Ausnahme der Sklavenflucht. Da es Gefängnisse und Gefängnisstrafen (→ Kerker) noch nicht gab, gibt es auch keine „Flucht aus dem Gefängnis“. Das Thema „Fluchtexistenz“ aufgrund einer beabsichtigten Tötung tritt erstmals mit dem Mord → Kains vehement auf (Gen 4,12-14), wo die nachfolgende Ort- und Heimatlosigkeit des Mörders hervorgehoben wird (vgl. auch die eindrückliche Formulierung in Jos 20,6 bzgl. der Rückkehrmöglichkeit in die „Heimatstadt“). Das Thema ist weiter in der Moseerzählung verankert (Ex 2,15: → Mose setzt sich nach → Midian ab und lebt dann dort als „Fremder“: Ex 2,22; an diese Fluchtszene wird in Apg 7,29 erinnert), spielt auch in den Davidserzählungen eine Rolle (2Sam 13,37-38: → Absalom zu seinem königlichen Großvater nach Geschur) und wird mit der Frage nach dem Asylort bei unabsichtlicher Tötung vielfach in den Rechtstexten (Ex 21,12-14; Num 36,1-34; Dtn 4,41-43; Dtn 19,1-13; Jos 20,1-9), aber auch in weisheitlichen Kontexten (Spr 28,17) behandelt. In der Weisheitsliteratur kann auch grundsätzlicher von der Fluchtexistenz des „Frevlers“ die Rede sein, ohne dass dafür der Frevel als Tötungsdelikt identifiziert wird (Spr 28,1; Hi 15,20.23; Hi 18,18-19; Hi 20,5.8; vgl. auch Ps 109,10, wo die Kinder des Frevlers zu einer unsteten Bettelexistenz verurteilt sind). Zur Flucht der Täter bei einem politischen Mord vgl. außerdem 2Kön 19,37.

1.4. Flucht aus Sklaverei und Unterdrückung

Dass Flucht aus der → Sklaverei auch in Israel vorkam, belegt auf unverdächtige Weise die kurze Erwähnung der beiden ins philistäische Gat entlaufenen Sklaven des → Schimi (1Kön 2,39-40). Schimi holt sich die beiden aus Gat zurück, was der Text für offenkundig problemlos machbar hält. Allerdings gibt es sozusagen eine gewisse Ironie bei dieser Geschichte: Wer entlaufenen Sklaven hinterherläuft, braucht sich nicht darüber zu wundern, dass das Unheil auf ihn zurückfällt (1Kön 2,46: Ermordung Schimis). Beabsichtigt ist vielleicht sogar, dass dem Leser bei der Lektüre dieser kleinen Erzählung die für den ganzen Vorderen Orient außerordentliche Regelung Dtn 23,16-17 im Hinterkopf auftauchen soll: Entlaufene Sklaven dürfen in Israel ihren Herrn nicht ausgeliefert werden – dies wird als strenges Verbot, allerdings ohne Sanktionen, formuliert. Vielmehr genießen entlaufene, schutzsuchende Sklaven den Schutzstatus eines Fremden bzw. einen Status, der diesem gleichkommt. In den altorientalischen Gesetzescorpora wird es demgegenüber normalerweise relativ schwer bestraft, einen flüchtigen Sklaven nicht auszuliefern. Es ist sehr gut denkbar, dass diese biblische, historisch gesehen sicher idealistische Neuregelung mit dem Theologumenon von Befreiung, Herausführung, Flucht aus Ägypten zusammenhängt (zur „Flucht Israels aus Ägypten“ vgl. Ex 14,5 mit ברח baraḥ). Allerdings ist die „Flucht aus Ägypten“ nicht ausschließlich ein Theologumenon: Auch historisch sind aus der Zeit des vermuteten Exodus durchaus ägyptische Quellen bekannt, die offenlegen, dass Flucht ausgebeuteter Zwangsarbeiter aus dem gut gesicherten Ägypten durchaus ein Thema im → Neuen Reich war.

Ex 14 zeigt im Übrigen paradigmatisch, wie fließend die Übergänge zwischen dem Thema Flucht ( Ex 14,5) und dem Thema Vertreibung (vgl. Ex 12,31-33 und Ex 13,17) sein können (vgl. Am 7,12-13, wo → Amos vom Priester → Amazja des Landes verwiesen und gleichzeitig zur „Flucht“ aufgefordert wird). Im Hebräischen kommt der Zusammenhang zwischen Flucht und Vertreibung auch sehr gut darin zum Ausdruck, dass der Hifil, also der Kausativ der beiden wichtigsten Fluchtverben נוּס nûs (Dtn 32,30) und ברח baraḥ (1Chr 8,13; Neh 13,28), „zur Flucht veranlassen“ bedeutungsgleich mit „vertreiben“ ist. Dass auch Deportation bzw. Exil und Flucht Schnittmengen haben, mindestens in der Form, dass zwangsumgesiedelte Kriegsgefangene die Flucht und Rückkehr in die alte Heimat ersehnen, zeigt beispielhaft ein Text wie Ps 137.

1.5. Flucht vor Hungersnot und Naturkatastrophen

Das Alte Testament spricht vielfach und an prominenter Stelle vom normalerweise temporären Ausweichen in fruchtbarere Gebiete, wenn die kritischen klimatischen Bedingungen insbesondere Trockenheit, Missernten und → Hungersnot verursachen. In solchen Fällen wird allerdings nie engere Fluchtterminologie verwendet, vielmehr allgemeineres Migrationsvokabular. Die Existenz im Ausland wird sehr oft als „Fremdlingsdasein“ gekennzeichnet, womit also die sozialrechtliche Stellung solcher „Wirtschaftsflüchtlinge“ in der fremden Umwelt bezeichnet wird: Man vgl. dazu Gen 12,10 bzgl. → Abraham und → Sara („Hinabziehen nach Ägypten“ als „Fremder“; vgl. dazu auch Gen 20,1: ohne ausdrückliche Hungersnot), ähnlich Gen 26,1-11 bzgl. → Isaak und → Rebekka („Gehen ins philistäische Gerar“ als „Fremder“). In der → Josefserzählung ziehen mitten in einer großen Hungersnot (Gen 46f) die Brüder mit dem Vater Jakob Josef nach Ägypten hinterher und leben dort fortan als „Fremde“ (Gen 47,4), ein gutes Beispiel, wie schon in der Antike Nachzug über Netzwerke funktionierte. Man merkt den Texten insgesamt auch an, dass solche Migration, die hinter den Texten als real erfahren aufscheint, häufig nichts anderes als Landflucht in die städtischen, kulturell-ökonomischen Zentren gewesen sein wird. Nach 1Kön 17,9ff weicht → Elia auf göttliche Anordnung bei der großen Trockenheit ins phönizische → Sarepta aus, um dort bei einer Witwe das Überleben zu fristen (ohne den Terminus technicus „Fremder“). In der Parallelerzählung rät sein Schüler → Elisa zu Beginn einer siebenjährigen Hungersnot seinerseits einer Witwe mit ihrem Sohn, außer Landes zu gehen, sodass sie sich in Philistäa als „Fremde“ niederlässt (2Kön 8,1-2). Nach dem → Rutbuch schließlich veranlasst eine Hungersnot in → Betlehem Elimelech und seine Frau Noomi zur Auswanderung nach → Moab, wo sie solange als „Fremde“ leben (Rut 1,1), bis sich das Gerücht vom Ende der Hungersnot in der alten judäischen Heimat verbreitet (Rut 1,6). Interessanterweise wird dabei die nachmalige Existenz in der Heimat als schwieriger und gefährdeter dargestellt als das Dasein in Moab.

1.6. Erfahrungen von Flucht und Hilfen für Flüchtlinge

Der Normalfall einer Flüchtlings- und Migrationsexistenz, an die sich viele Hoffnungen, vor allem auf das nackte Überleben, knüpfen, sieht bzw. sah freilich anders aus und das Wissen darum merkt man den Texten auch an. Gerade die Texte von der sog. „Gefährdung der Ahnfrau“ in Gen 12; Gen 20 und Gen 26 (→ Preisgabeerzählung) stellen deutlich die sexuelle Gefährdung flüchtender Frauen heraus – ja, man kommt heute sogar kaum umhin, denn Gen 12,13 auch als das Zureden eines Zuhälters zur Prostitution zu lesen (vgl. auch Jes 16,2). Flüchtende laufen Gefahr, dass niemand sie unterstützt und sie sich selbst überlassen bleiben („niemand wird sie sammeln“: Jer 49,5). Wie auch immer man die Ortsangaben in Ps 120,5 konkret oder metaphorisch deuten mag, stand hinter dem Weheruf (→ Totenklage) in der damaligen realen Welt grundsätzlich: Die Existenz als Fremde bzw. Fremder im Ausland, sei es ein Kriegs- oder sonstiger Flüchtling, galt als grundsätzlich bedroht und prekär (Hos 9,17); schon der Fluchtweg, gar der Grenzübergang konnte tödliche Gefahren bergen (Ri 12,1-6). Aber auch innerlich ist die Heimatlosigkeit des Flüchtlings ein schweres Schicksal, wie der emotionalisierende Vogelvergleich in Spr 27,8 zeigt. Flüchtlinge konnten mit ihren fremden Lebensgewohnheiten (Gen 43,32), ihrer Wirtschaftsweise (Gen 46,34) oder ihrer Religionsausübung Anstoß erregen (Ex 8,22). Der Schutzstatus des geflüchteten Fremden war revidierbar, Vertreibung praktisch jederzeit möglich, wie Klgl 4,15 aufscheinen lässt. Überhaupt zeigt das Gefälle von der Josefserzählung zur Exoduserzählung, komprimiert im kleinen geschichtlichen Credo in Dtn 26 (vgl. auch Jes 52,4 und Ps 105,23): Allzu leicht konnte aus einer flüchtenden, heimatlosen, dem Umkommen nahen Existenz, die zunächst den Schutzstatus des Fremden genoss (Dtn 26,5), Marginalisierung, Unterdrückung und Ausbeutung hervorgehen (Dtn 26,6). Dazu können nicht zu rechtfertigende Überfremdungsängste der aufnehmenden Gesellschaft wesentlich beitragen (Ex 1,8ff). Solche Entsolidarisierung mit Migranten, Flüchtenden bzw. Fremden wird freilich vom Text wie von JHWH (Dtn 26,7) verurteilt und korrigiert. Es ist beachtlich, wie dicht im Alten Testament gegenüber den altorientalischen Gesetzescorpora eine Gesetzgebung zugunsten von „Fremden“ – also auch und besonders von Flüchtlingen – dominiert, dazu kommen einschlägige prophetische Passagen. Nirgendwo wird dieser Zusammenhang deutlicher zum Ausdruck gebracht als in der Tora, in Dtn 10,18-19, wo JHWHs Liebe speziell zu den „Fremden“ hervorgehoben wird. Die Bibel bringt insofern Flüchtlingen – gedacht ist wohl sehr häufig an „Wirtschaftsflüchtlinge“ – eine außerordentliche Empathie entgegen, verbunden mit starken ethischen und religiösen Appellen: In Dtn 26 ist das ganze israelitische Glaubensbekenntnis in den Versen 5-10 auf die Solidarität mit dem Fremden in V.11 ausgerichtet, der dort doppelt als Flüchtling (nach Ägypten, aus Ägypten) gezeichnet wird.

Allerdings ist in diesen Zusammenhängen biblisch nicht von „Gastfreundschaft“ die Rede, obwohl in manchen Übersetzungen für גוּר gûr sich als Fremder niederlassen, als Nomen: → Fremder) das Stichwort „Gast“ auftaucht, denn antike Gastfreundschaft „beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit“ (Schäfer-Lichtenberger / Schottroff 161).

Dass es auch andere natürliche Push-Faktoren als Trockenheit, die zur Flucht und sogar zur Migration nötigen, geben kann, zeigen Texte wie Gen 19,20 (Naturkatastrophe), Sach 14,5 (Erdbeben) oder Hi 27,22 bzw. Ps 55,9 (Unwetter), auch Am 5,19 (wilde Tiere). Mehrfach ist im Übrigen auch die Rede von der Flucht nicht vor, sondern von Tieren, gerne in Vergleichen, die die Zeichnung menschlicher Flucht dramatisieren (Jes 16,2; Jer 4,25; Jer 9,9; Nah 3,17; Spr 27,8). Zu Pull-Faktoren für Migration (und Flucht) vgl. man einerseits eine solche Formulierung wie „ein Land fließend von Milch und Honig“ (Ex 3,8 u.ö.) für Israel, andererseits Lobreden über Ägypten wie in Num 11,5. Ein Flüchtlings- bzw. Migrationsgeschick wird in einigen äußeren Umständen auch sehr plastisch von den → Gibeonitern in Jos 9 beschrieben. Jos 9 zeigt im Übrigen, dass auch der erschlichene Rechtstitel eines Flüchtlings bzw. Fremden Rechtsschutz genießen kann (pacta sunt servanda).

1.7. Wovor man sonst noch alles flüchten kann / soll

Fast zwangsläufig bietet die männerzentrierte Vorstellungswelt der Bibel das Zerrbild einer sexuell aktiven, verheirateten und deshalb mehrfach verwerflichen Frau, die ein Mann natürlich auf alle Fälle meiden, „fliehen“ muss. Narratives Vorbild für diese „Flucht vor sexuellen Übergriffen“ ist der biblische Josef ( Gen 39,7-20), aber gerade die Weisheitsliteratur warnt häufiger vor solchen nymphomanen Typen (die „fremde Frau“: Spr 5,8; Sir 9,3, vgl. auch Pred 7,26).

Freilich kann einen auch der Mangel an einer Frau zu einer flüchtigen, haltlosen Existenz machen ( Sir 36,30 [Lutherbibel: Sir 36,27], im Hebräischen mit genau denselben Worten wie Gen 4,12-14!). Auf der anderen Seite spiegelt Nah 3,5-7 wohl die Erfahrung wieder, dass missbrauchte bzw. entehrte Frauen gemieden, „geflohen“ wurden. Ps 31,12 formuliert die vielen Psalmen zugrundeliegende Erfahrung ausdrücklich, dass Schwerkranke in altorientalischen Gesellschaften nach Kräften marginalisiert, gemieden wurden und in ihren sozialen Kontakten eingeschränkt waren. Spr 24,1 sagt deutlich, dass man den Umgang mit „bösen Menschen“ gänzlich meiden soll, also den Frevler der alttestamentlichen Überlieferung. Von dort aus ist es nur noch ein kurzer Weg zu der Formulierung, dass man auch mögliche Sünden bzw. Versündigungen meiden bzw. fliehen soll (Sir 21,2).

1.8. Gott und Flucht

1.8.1. Gott / JHWH will bzw. verursacht die Flucht von Menschen

In nicht wenigen Fällen geht Flucht ausdrücklich auf den Willen JHWHs zurück, beruhend auf JHWHs berechtigtem Zorn, insofern als Strafe (vgl. individuell schon Gen 4,12-14). Flucht kann kollektiv gegenüber Juda angekündigt oder gefordert werden, so wie etwa in Jer 4,6, wo die nutzlose „Aufforderung zur Flucht“ ein intensivierendes Stilmittel im Rahmen des Leichenklageliedes Jer 4,5-8 darstellt. Ähnlich grausam ist auch schon Hos 9,17 im Kontext der Vv. 15-17 gegenüber Israel, wobei sich dort Deportation und Flucht sprachlich offenkundig überblenden: Ein Deportierter, Verbannter führt eine entwurzelte, heimatlose Fluchtexistenz, ein Geschick, das schlimmer „ist als der physische Tod“ (Jeremias, 126). Solche Flucht kann chaotisch sein (Jes 30,16) oder auch aussichtslos, wenn JHWH zur völligen Vernichtung entschlossen ist; vgl. die sehr eindrückliche Formulierung in Am 9,1: Die Objekt- bzw. Ortlosigkeit der möglichen Flucht (gehäufte Fluchtterminologie!) betont das Desparate für Israel. Angesichts von JHWHs Gericht gibt es niemanden, keinen „Fluchthelfer“, mit dem man JHWH entrinnen könnte (Jes 10,3).

Noch häufiger, speziell in den Fremdvölkersprüchen der Propheten → Jesaja und → Jeremia, findet sich allerdings das Fluchtthema bzw. die Fluchtaufforderung als Problem der anderen, gegen Israel / Juda agierenden Völker (vgl. etwa Jer 48,6; Jer 49,8.30; Jer 51,6, vgl. auch Jes 45,20). In der erzählenden Literatur ist die von JHWH verursachte Flucht seiner oder Israels Gegner sehr präsent unter dem Vorstellungskreis des sog. Gottesschreckens.

1.8.2. Gottesschrecken

Die mit dem Gottesschrecken verbundene Flucht von Israels Feinden findet sich erstmals in der Exoduserzählung; von dieser Vorstellung ist die offenkundig überraschende Flucht der nachrückenden Ägypter bei der → Meerwundererzählung getragen (Ex 14,25-27, ähnlich z.B. Ri 7,21-22; 2Kön 7,7; Jes 33,3; Ps 68,2). Solche panische Flucht ist also Teil des Komplexes „JHWH-Krieg“ (→ Krieg). Wahrscheinlich steht hinter 2Kön 3,27 ursprünglich ein ähnlicher Israel zur Flucht bzw. zum Rückzug veranlassender Gottesschrecken von Seiten des moabitischen Gottes → Kemosch. Zur panischen Flucht im Zusammenhang mit dem Kriegspalladium, der →Lade, vgl. man den Ladespruch in Num 10,35.

1.8.3. Gott / JHWH will eigentlich keine Flucht oder will sie gelingen lassen

Flucht an sich ist freilich überhaupt keine gottgewollte Existenz, sondern grundsätzlich ein Strafgeschick. In Gottvertrauen besteht wohl schon beim historischen Jesaja im 8. Jh. v. Chr. die Chance, Flucht zu vermeiden bzw. zu verhindern ( Jes 28,16; Jes 30,16). Ohnehin ist JHWH auch ganz häufig derjenige, der eine Flucht gelingen lässt, dann natürlich eher in Heilsworten, speziell auch bei Jesaja, zum Teil verbunden mit dem „Rest“-Gedanken (vgl. Jes 10,20; Jes 37,31 // 2Kön 19,30). Ohnehin ist JHWH in den Psalmen betont derjenige, zu dem der Beter positiv → Zuflucht nehmen kann. Im Gebet kann sich der Beter dann metaphorisch als Fremder, als Flüchtling bei Gott bezeichnen (Ps 39,13 u.a.). Wie oben schon erwähnt, gibt es für Flüchtlinge im Status der Fremden eine überraschende Vielzahl starker alttestamentlicher Schutzvorschriften.

1.8.4. Flucht des Meeres oder Leviatans vor JHWH

Neben Menschen kann, aus polytheistischen Zusammenhängen herkommend, auch das Meer, können die Wasser, die Urfluten (Tehom) vor JHWH „flüchten“, wie entsprechend im ugaritischen Mythos des 2. Jt.s v. Chr. der Meeresgott → Jammu vor dem Wettergott → Baal flüchtet oder in Babylon → Tiamat vor → Marduk. Das sind Reste des polytheistischen Götterkampfes, der in poetischen Texten des Alten Testaments entmythisiert bzw. historisiert vorliegt (vgl. dazu Ps 104,7; Ps 114,1-5, auch Ex 15,8-10). In diesen mythischen Vorstellungskreis gehört auch die Rede von der „flüchtigen Schlange“ (gemeint: Leviatan), vgl. Jes 27,1; Hi 26,13 (anders, die Größe Leviatans betonend, der nicht flüchtet: Hi 40,23). Neutestamentlich finden sich Reste dieses mythischen Themas, zusätzlich anthropologisiert, in der Flucht des Teufels nach Jak 4,7.

1.8.5. Menschliche Flucht vor JHWH

Neben den Texten mit dem Gottesschrecken, die ausdrücklich von der tatsächlichen Flucht der Feinde vor JHWH reden ( Num 10,35; Ps 68,2), und neben Hos 7,13, einem Vers, der kritisiert, dass Israel vor bzw. von JHWH wegläuft, findet sich die Frage, ob man vor JHWH fliehen könne, nur in zwei Texten explizit traktiert: Vornehmlich im → Jona-Buch (Jon 1,3.10; Jon 4,2) und dann auch in Ps 139,7-12, in beiden Fällen mit dem eher „familiären“ Verb ברח baraḥ „entlaufen / sich davonmachen“. Während Jona erfolglos versucht, vor JHWH und seinem prophetischen Auftrag bis zum „äußersten Meer“ (Ps 139,7), nämlich nach → Tarsis zu fliehen, erwägt Ps 139,7ff hypothetisch und zugleich verneinend, ob es Bereiche der Wirklichkeit gibt, in die JHWHs Macht nicht hineinreicht (Himmel, Unterwelt, Flügel der Morgenröte, äußerstes Meer, Finsternis, Nacht). Beiden Texten liegt offenkundig das Problem zu Grunde, dass JHWHs Nähe bzw. seine Botschaft auch als bedrückend, bedrängend erfahren werden kann. Beide Texte, die offenkundig schon einen alttestamentlich späten, universalen Horizont haben, verneinen die Frage nach der Möglichkeit einer Flucht vor dem Gott JHWH, dessen Macht auch in die Bereiche des Chaos und des Todes reicht (vgl. Am 9,1-4). Anders noch die Hiobfigur zu Beginn der Hiobdialoge (→ Hiob): Sie rechnet noch nicht damit, dass JHWHs Macht bis in die Unterwelt hinunterreicht, und äußert insofern in verschiedenen Variationen eskapistisch ihren Todeswunsch (vgl. insbesondere Hi 3,3.11; Hi 6,9; Hi 7,15.21; Hi 10,18-22). Dieser Wunsch findet freilich im Hiobbuch keine Erfüllung und kann es auch wegen der Rahmenerzählung nicht (Hi 2,6).

2. „Flucht“ im Neuen Testament

Das Neue Testament hat keine gegenüber dem Alten Testament selbstständige Fluchtthematik, verstärkt aber bestimmte Themen.

Am bekanntesten ist die matthäische Szene mit der wohl kaum historischen Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten und der Rückkehr von dort ( Mt 2,13-15.19-23), dazwischen der bethlehemitische Kindermord durch Herodes (Mt 2,16-18). Um seine Familie zu retten, hat es der matthäische Josef wie der Josef der Genesis mit Träumen zu tun; beide weichen zum Überleben nach Ägypten aus. Die Reinszenierung und Anknüpfung an das Alte Testament wird mit dem Zitat aus Hos 11,1 in Mt 2,15 überdeutlich. Praktisch zeitgleich zu Matthäus betont → Flavius Josephus verschiedentlich in seinen Werken, dass Ägypten zeitgenössisch das beliebteste Ziel judäischer Flüchtlinge, vor allem der Wirtschaftsflüchtlinge war, insofern scheint auch hinter Mt 2 ein realer Hintergrund auf. Die zweite bedeutende und auch eigene Thematisierung von Flucht ist die sehr wahrscheinlich historische Flucht der – männlichen – Anhänger Jesu nach seiner Verhaftung in Jerusalem (Mt 26,56; Mk 14,50-52); anders, ohne Flucht, kommt allerdings die lukanische und johanneische Darstellung aus. Beide bisher genannten Fluchtszenen gehören eher dem Typ „Flucht vor politischer Verfolgung an“. Eine dritte wirkungsgeschichtlich bedeutsame Variante dieses Motivs liegt in Apk 12,3-6 vor (Flucht der Frau mit dem Kind vor dem Drachen in die Wüste), eine vierte in der Jüngerbelehrung Jesu in Mt 10,23, in deren Hintergrund offensichtlich Verfolgungs- und Fluchterfahrungen der frühen Christen stehen. Wenn die Frauen nach der Epiphanie am leeren Grab „fliehen“ (Mk 16,8), gehört dies typischerweise zum Schreckenscharakter, den solche Erscheinungen auslösen.

Daneben kennt das Neue Testament auch apokalyptisch gewendete prophetische Ankündigungen von Flucht vor Krieg und seinen Folgen (vgl. Mk 13,14 par Mt 24,16; Lk 21,21; Flucht ins Gebirge). In ebenso apokalyptischer Manier kündigen Mt 3,7 par Lk 3,7 und Mt 23,33 die Unausweichlichkeit des göttlichen Gerichts an, vor dem man sich nicht in Sicherheit bringen kann.

Das Neue Testament baut insbesondere das eher spätalttestamentliche Motiv der „Flucht vor der Sünde“ aus (Unzucht: 1Kor 6,18; Götzendienst: 1Kor 10,14; Habsucht: 1Tim 6,10-11; Begierden der Jugend: 2Tim 2,22; vgl. außerdem umgekehrt den „fliehenden Teufel“ in Jak 4,7 und den „fliehenden Tod“ in Apk 9,6).

Am ehesten ohne eigentliche Parallele im Alten Testament sind die fliehenden Hirten der Schweine von Gerasa ( Mk 5,14 par Mt 8,33; Lk 8,34), ebenso wie die fliehenden Hirten und Schafe im Zusammenhang der johanneischen Rede vom guten Hirten (Joh 10,5.12; die schlechten Hirten knüpfen allerdings kontrastiv an den alttestamentlichen David an: 1Sam 17,34-35). Ein eigenes Thema „Flucht“ liegt nicht vor. In Apg 5 und Apg 12 taucht übrigens mit den Aposteln bzw. mit Petrus als Protagonisten das Thema (wunderbare) Flucht aus dem Gefängnis auf. Die – notwendige – Flucht der Apostel vor Verfolgung führt nach Darstellung der Apostelgeschichte zur Verbreitung des Evangeliums, konzentriert ausgedrückt in Apg 14,5-7.

Ethisch gesehen greift das Neue Testament auf die rechtlichen und prophetischen Fremdenbestimmungen des Alten Testaments zurück. In der matthäischen Weltgerichtsrede entscheidet sich alles an der Hilfe für Hungrige, Durstige, Fremde, Nackte, Kranke, Gefangene ( Mt 25,35-36). Deutlicher als in diesen matthäischen Worten kann man Flüchtlingsexistenzen kaum zeichnen. Wie man nach dem Alten Testament in den Flüchtlingen dem Gott des Exodus begegnet, so im Neuen Testament in den bedürftigen Fremden Jesus Christus. Wer die Not der Flüchtenden ignoriert, gar ausnützt, für den ist das ewige Feuer bereitet (Mt 25,41).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff (ברח baraḥ, נוּס nûs, נדד nadad, פלט palaṭ)
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995 (נוּס nûs; פלט palaṭ)
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Flüchtlingsarbeit / Flüchtlingsprobleme)
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
  • Herders Neues Bibellexikon, Freiburg 2008
  • Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Göttingen 2008

2. Weitere Literatur

  • Altman, A., 2002, On some basic concepts in the law of people seeking refuge and sustenance in the ancient Near East, ZAR 8, 323-342
  • Awabdy, M.A., 2014, Immigrants and Innovative Law. Deuteronomy’s Theological and Social Vision for the גר (FAT II/67), Tübingen
  • Bach, R., Die Aufforderung zur Flucht und zum Kampf im alttestamentlichen Prophetenspruch (WMANT 9), Neukirchen-Vluyn 1962
  • Jeremias, J., Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983
  • Michel, A., 2005, Wem nützen Glaubensbekenntnisse? Eine Reflexion auf das heilsgeschichtliche Credo in Deuteronomium 26, ThQ 185, 38-51
  • Schäfer-Lichtenberger, Chr. / Schottroff, L., Art. Fremde / Flüchtlinge, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Göttingen 2008, 158-162
  • Söding, Th., 2015, Das Refugium des Messias. Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, IKaZ 44, 343-354

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