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Exegese, Feministische

(erstellt: Juli 2018)

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1. Feministische Exegese

Wissenschaftliche feministische Bibelauslegung blickt mittlerweile auf eine über 40jährige Geschichte zurück. Gegenstand feministischer Exegese ist die Rekonstruktion der vergessenen oder unsichtbar gemachten Geschichte von Frauen und ihrer Lebenswirklichkeiten in biblischer Zeit und der Auslegungsgeschichte. Ausgangspunkt feministischer Theologien sind Einsichten in die strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen und Männern in Gegenwart und Geschichte, Erfahrungen von Diskriminierung in Gesellschaft, Kirchen und in wissenschaftlichen Diskursen. In den verschiedenen Fachdisziplinen bieten sie Analysen und Infragestellungen herrschender Geschlechterkonstruktionen und damit verbundener Machtverteilung. Das Geschlechterverhältnis wird dabei nicht isoliert in den Blick genommen, sondern als Teil eines komplexen Geflechts von Macht-, Ausgrenzungs- und Unterdrückungsstrukturen. Geschlechtergerechtigkeit wird in einem umfassenden Sinn als Frage von Gerechtigkeit in einer konkreten Zeit und gesellschaftlichen Situation verstanden. Feministische Exegese ist aktuell ein theoretischer Zugang zum multidisziplinären Feld der theologischen Genderstudies, welche die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschlechterdifferenz mit feministischen Anliegen verbindet. Feministische Theologien basieren auf der Vorannahme, dass Wissenschaft nie objektiv sein kann, immer von eigenen Erfahrungen, Fragen und Interessen geprägt ist, auch wenn diese nicht offengelegt werden. Sie treten dafür ein, dass Frauen als gleichberechtigte Subjekte in der Forschung wahrgenommen werden. Dafür bedienen sie sich eines differenzierten hermeneutischen und pluralen methodischen Instrumentariums.

2. Anfänge feministischer Bibelauslegung

Feministische Theologien sind kontextuelle Theologien, die von ihren Anfängen in den 1960 / 70 Jahren an mit gesellschaftlichen Frauenbewegungen verbunden waren, ihre Wurzeln reichen jedoch weiter zurück. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte die Suffragette Elizabeth Cady Stanton zusammen mit anderen Frauenrechtlerinnen „The Women‘s Bible“, einen zweibändigen Kommentar, in dem alle Stellen aufgeführt sind, die aus ihrer Sicht für Frauen wichtig sind: solche, die benutzt wurden, um die Rechtsungleichheit von Frauen zu begründen und solche, in denen sie als Lehrerinnen, Prophetinnen und Autoritäten sichtbar werden. Das Buch sollte denjenigen, die für Stimmrecht und bürgerliche Gleichstellung kämpften, eine Argumentationshilfe gegen Kirchen und andere Institutionen bieten, die an der gesellschaftlichen Unterordnung von Frauen festhalten wollten und sich dabei auf die Bibel beriefen.

Auch im deutschsprachigen Raum gab es im Zusammenhang der kirchlichen Frauenbewegung vom Beginn des 20. Jahrhunderts an vereinzelte Auslegungen zu Aspekten von Frauengeschichte in biblischen Schriften oder zu einzelnen Frauengestalten (einen Überblick bietet Marie-Theres Wacker 1995, 7-25). Erste Ansätze feministischer Exegese entstanden durch Impulse aus den Niederlanden, maßgeblich durch Catharina Halkes (1979), und Übersetzungen aus dem US-amerikanischen Bereich. Frank Crüsemann und Hartwig Thyen entwickelten 1978 erste Grundlagen einer Sozialgeschichte von Frauen in biblischer Zeit. 1980 erschienen das Buch „Frauen um Jesus“ von Elisabeth Moltmann-Wendel und ein von Willy Schottroff und Wolfgang Stegemann herausgegebener Band: „Frauen in der Bibel“. Weitere wichtige Impulse kamen aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie (Tamez 2015).

2.1. Orte feministischer Bibelauslegung

Auf der Schnittstelle zwischen Feminismus und Exegese hatten feministische Bibelauslegungen in Deutschland zunächst ihren Ort in der kirchlichen Frauenbewegung, in Frauenwerkstätten, der kirchlichen Frauenarbeit, Akademien und Netzwerken. Wichtige Impulse boten feministisch-theologische Bibelarbeiten auf den Deutschen Evangelischen Kirchentagen. An den Hochschulen wurde feministische Exegese zunächst nur durch (autonome) Lehraufträge und Praxisprojekte aus studentischer Initiative gelehrt. An den katholischen Fakultäten Münster und Bonn wurden in den 1990er Jahren Lehrstühle für Feministische Theologie bzw. Theologische Frauenforschung eingerichtet, die mit den Alttestamentlerinnen Marie-Theres Wacker und Irmtraud Fischer besetzt wurden. An der Universität Kassel hatten in dieser Zeit die feministischen Theologinnen Luise Schottroff (NT) und Helen Schüngel-Straumann (AT) Professuren für biblische Theologie inne. Trotz weitgehend ausbleibender Institutionalisierung sind in diesem Kontext zahlreiche Forschungsarbeiten und Grundlagenwerke entstanden. Aktuell (Stand 2018) ist die Professur für feministische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Neuendettelsau mit der Alttestamentlerin Renate Jost besetzt, die Leitung der Arbeitsstelle für theologische Geschlechterforschung an der Universität Münster mit der Alttestamentlerin Marie-Theres Wacker und die Juniorprofessur für feministische Theologie / theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel mit der Neutestamentlerin Claudia Janssen. Darüber hinaus vertreten Professor*innen auf Lehrstühlen für Altes oder Neues Testament feministische Exegese bzw. theologische Genderstudies als einen inhaltlichen Schwerpunkt oder Querschnittsdimension ihres Faches. Vielfältige Veröffentlichungen des katholischen Bibelwerks und der evangelischen Frauenarbeiten wie z.B. das „Fernstudium feministische Theologie“ (EFiD 2005.2015: geschlechterbewusste Theologie) zeigen zudem, dass der Praxisbezug für die Weiterentwicklung feministischer Bibelauslegung von bleibender Wichtigkeit ist.

3. Feministische Hermeneutik

Feministische Hermeneutik reflektiert theoretisch die Bedingungen und Instrumentarien der Auslegung bzw. des Verstehens (Noller 1995,20). Dazu gehören die Analyse des Kontextes, in dem die biblischen Schriften entstanden und tradiert worden sind und die Entwicklung hermeneutischer Schritte als Grundlage für feministische Auslegungen:

3.1. Patriarchats- bzw. Kyriarchatsanalyse

Feministische Exegese baut auf der grundlegenden Erkenntnis auf, dass die Bibel und vor allem auch deren Auslegungen in patriarchale Zusammenhänge eingebunden sind. Die Bibel wird nicht unmittelbar als Buch mit befreiendem Potenzial gedeutet, sondern (auch) als Teil des Problems. Elisabeth Schüssler Fiorenza benennt als gemeinsame Basis der unterschiedlichen feministischen Interpretationen drei Punkte (2005, 19): 1. die Grundannahme, dass die Bibel im Kontext einer patriarchalen bzw. kyriarchalen Gesellschaft entstanden ist, 2. in androzentrischer (männerzentrierter) Sprache verfasst wurde und 3. auch heute in patriarchalen bzw. kyriarchalen Zusammenhängen gelehrt wird. Sie versteht unter Patriarchat bzw. Kyriarchat (von griechisch: kyrios = Herr / Meister und archein = regieren/ herrschen) ein Gesellschaftssystem, das auf dem aristotelischen Modell des patriarchalen Haushaltes, der Väterherrschaft, basiert. Es hat verschiedene Komponenten, die in gegenseitigen, sich überschneidenden Beziehungen von Über- und Unterordnung stehen und seine Erhaltung stützen: Sexismus, Rassismus, Klassenherrschaft, Militarismus, Imperialismus und Naturausbeutung.

In neueren Entwürfen wird dieses Modell unter Einbeziehung der Theorie der Intersektionalität modifiziert. Diese wurde ursprünglich von der Rechtswissenschaftlerin Kimberly Crenshaw entwickelt, um die ‚Überkreuzungen’ (engl. intersections) und Wechselwirkungen von Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse analysieren zu können, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird (Walgenbach 2012). Nach Schüssler Fiorenza versteht eine kritische, intersektionale, entkolonialisierende, feministische Analytik Kyriarchat als ein heuristisches (vorfindliches) Konzept, „mit dessen Hilfe sich die multiplikativen Interaktionen von Gender, ‚Rasse‘, Klasse und imperialen Strukturen ebenso erforschen lassen wie ihre diskursiven Ein- und ideologischen Fortschreibungen.“ (Schüssler Fiorenza 2015, 24)

Ziel kritisch-feministischer Interpretationen ist es, die Bibel als Ressource für gesellschaftlich-politische Veränderungsprozesse zu erschließen und zur Veränderung ungerechter Bedingungen in Gesellschaft, Kirche und Theologie beizutragen, soziale Transformationsprozesse anzuregen und (spirituell) zu begleiten.

3.2. Hermeneutische Schritte

Grundlegend für die Entwicklung feministischer Exegese waren die hermeneutischen Schritte, die Elisabeth Schüssler Fiorenza entwickelt und in vier Aspekten dargestellt hat (2005, 19; 1988): 1. Hermeneutik des Verdachts; 2. Hermeneutik der Verkündigung; 3. Hermeneutik des Erinnerns: 4. Hermeneutik der kreativen Aktualisierung. Ausgehend von einer grundlegenden Patriarchatskritik bzw. Kyriarchatskritik macht sie deutlich, dass sich die Form des Textes und dessen androzentrische Sprache nicht von den Inhalten trennen lassen, weil sie Wirklichkeit so konstruieren, dass Frauen nicht wissen können, ob sie angesprochen sind oder nicht. So könne es in der Bibel keine unmittelbar für Frauen befreienden Traditionen geben. Sie sei bei der Abfassung und in der Auslegungsgeschichte als politisches Instrument gegen die Befreiung von Frauen eingesetzt worden (Schüssler Fiorenza 1988, 199). Die Hermeneutik des Verdachts richtet sich auf die biblischen Texte, ihre Grammatik und deren androzentrische Weltsicht, mit dem Ziel, ihre ideologischen Funktionen sichtbar zu machen. Darüber hinaus richtet sie sich auf zeitgenössische und aktuelle Kommentare und Interpretationen, die Vorurteile transportieren und ein bestimmtes Wertesystem etablieren wollen, aber auch auf das eigene Vorverständnis derjenigen, die die Texte auslegen (Schüssler Fiorenza 2005, 254).

Die Hermeneutik des Verdachts ist auch auf Bibelübersetzungen anzuwenden. Jede Übersetzung ist eine Interpretation und interessengeleitet, gleiches gilt für Wörterbücher und Lexika. Der männliche Plural im Griechischen ist oft inklusiv, meint also beide Geschlechter. In den meisten Übersetzungen wird er jedoch grammatisch männlich wiedergegeben. Die Bibel in gerechter Sprache (2006.42011) fragt in ihrer Übersetzung jeweils danach, ob auch Frauen gemeint sind, wenn eine Gruppe im grammatisch männlichen Plural angesprochen wird und macht sie dann auch sprachlich sichtbar: z.B. „Jüngerinnen und Jünger“ oder „jüdische Menschen“ statt „die Juden“ (zum Thema gerechte Sprache in Bibelübersetzungen vgl. Köhler 2012).

Für Feministische Exegese ist es grundlegend, das eigene Vorverständnis und Interesse an der Auslegung offen zu legen, die eigene Parteilichkeit (für Frauen) zu benennen und neue Perspektiven einzunehmen. Denn der Blick von den gesellschaftlichen Rändern eröffnet das Bewusstsein dafür, wer in den gesellschaftlichen Machtkonstellationen profitiert und wer verliert.

4. Methoden feministischer Exegese

Die Pluralität der verwendeten exegetischen Methoden umfasst sowohl historisch-kritische Ansätze im Blick auf Textkritik und Übersetzungen als auch literaturwissenschaftliche Zugänge wie Narratologie, Textlinguistik, Literary cristicism, Reader-Response-Criticism oder Semiotik und auch tiefenpsychologische Ansätze. Zur Rekonstruktion von Frauengeschichte in neutestamentlicher Zeit werden sozialgeschichtliche und religionsgeschichtliche Methoden feministisch rezipiert (Wacker 1995, 61-79. 2016). In den letzten Jahrzehnten wurde verstärkt auch auf die Rezeptionsgeschichte geschaut und die Perspektive der Lesenden in den Blick genommen. Marie-Theres Wacker führt den Methodenpluralismus auf das Anliegen feministischer Exegese zurück, eine gegenüber der herrschenden Forschung differierende Sicht auf die biblischen Texte und ihre Kontexte zu werfen: „Die Pluralität der verwendeten exegetischen Methoden verweist darauf, dass der Anspruch der historischen Kritik, mit Rekurs auf den Autorsinn des Textes die eindeutige und gültige kritische christliche Exegese zu begründen, seine Plausibilität verloren hat und von einer faktischen Pluralität der Exegesen abgelöst worden ist.“ (1996, 250) Postkoloniale Theolog*innen kritisieren, dass die Bibel bei der Kolonisierung und Missionierung als Machtinstrument missbraucht wurde und auch feministische Exeget*innen weiterhin unreflektiert Methoden verwenden, die allein auf dem Wissenskanon des globalen Norden und dessen hegemonialer Logik beruhen. Sie beziehen sich auch auf mündliche Traditionen und Überlieferungen ihrer Herkunftsländer, um biblische Texte zu interpretieren und sie sich neu anzueignen (vgl. Dube 2000; Vander Stichele / Penner 2005).

5. Rekonstruktion von Frauengeschichte in neutestamentlicher Zeit

5.1 Feministische Sozialgeschichte

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung basiert auf den Grundlagen befreiungstheologischer Hermeneutik und setzt „unten“ an, bei den „Letzten“ der Gesellschaft, den Marginalisierten und Ausgeschlossenen. Sie fragt so konkret wie möglich nach den Lebensbedingungen der Menschen, ihrem Alltag, ihren Berufen, den medizinischen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten.

Feministische Bibelauslegung macht zudem deutlich, dass für die Beurteilung einer jeden gesellschaftlichen Situation die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter gestellt werden muss. Sie hat das Ziel, die Alltagsrealität von Frauen im Haus, auf dem Feld, bei der Erwerbsarbeit als Fischerinnen, Feldarbeiterinnen, Sklavinnen, Wasserträgerinnen, Prostituierte, Tagelöhnerinnen, Weberinnen, Ammen... in ihrer Bedeutung als Quelle von Offenbarung neu zu entdecken (Schottroff 1994, 103ff). Um diese Hintergründe der neutestamentlichen Erzählungen erkennen zu können, reicht es oft nicht aus, biblische Texte zu untersuchen. Sie setzen häufig Selbstverständlichkeiten voraus, die ohne weitere Informationen nicht zu verstehen sind. Die wichtigsten Bezugspunkte für sozialgeschichtliche Bibelauslegung bilden neben philosophischen, medizinischen und historischen Schriften andere Quellen wie Inschriften, Kauf,- oder Heiratsurkunden, Grabinschriften, Papyri, die den alltäglichen Handel betreffen, z.B. Verkäufe von Sklav*innen, Rechnungen... Für die Rekonstruktion von Frauengeschichte ist es besonders wichtig, diese nicht-literarischen Quellen zu Rate zu ziehen, denn die meisten antiken Schriften wurden von Männern verfasst, die das Leben von Frauen entweder nicht zur Kenntnis nahmen, es bewusst unsichtbar machten oder einschränken wollten. Diese Tatsache macht es schwer, an authentische Stimmen von Frauen zu gelangen: „Wahrscheinlich werden wir die frühchristlichen Frauen niemals miteinander diskutieren, debattieren und streiten oder einander Trost zusprechen hören. Wir können höchstens hoffen, ein paar Gesprächsfetzen aufzufangen und einen flüchtigen Blick durch den Türspalt werfen zu können,“ resümiert Bernadette Brooten (1985, 79).

5.2 „Unrettbar frauenfeindlich“?!

Umstritten ist vor allem die Einordnung der Briefe des Paulus (Sutter Rehmann 2001): So zählt Luise Schottroff die paulinischen Briefe wie die Texte der Evangelien zum Schatz der urchristlichen Überlieferung mit großem befreienden Potenzial (1995, 206-209). Elsa Tamez versteht Paulus als „Autor im Plural“, der Alltagserfahrungen vieler Frauen und Männer zum Ausdruck bringe (1998, 52). Elisabeth Schüssler Fiorenza (1999) vertritt hingegen die Ansicht, dass sie autoritäre Texte seien, die dogmatisch eine Lesart der ursprünglich befreienden Botschaft Jesu festlegen wollten und damit eine frauenfeindliche kirchliche Hierarchie christologisch legitimierten. Sie bezeichnet alle Versuche, hier befreiende Inhalte zu finden, als „Rettungsversuche unrettbar unterdrückerischer Texte“. Unumstritten ist hingegen die Einordnung von Texten als „frauenfeindlich“, die sexuelle Gewalt und / oder Sprech- und Lehrverbote für Frauen wie z.B. 1Kor 14,34ff befürworten (M. Crüsemann 1996).

5.3. Exegese in Auseinandersetzung mit christlichem Antijudaismus

Ein zentrales Anliegen feministischer Exegese ist die Überwindung des christlichen Antijudaismus. Im Rahmen einer Theologie nach Auschwitz sieht sie es als wichtige Aufgabe an, antijüdische Stereotypen und Denkschemata zu erkennen und Alternativen zu entwickeln – in dem Bewusstsein, dass es im deutschen Kontext bisher keine vollständig nicht-antijudaistische christliche Theologie gibt.

Angeregt wurde die Debatte um den Antijudaismus (auch) in der feministischen Theologie Ende der 1980er Jahre von den jüdischen Theologinnen Judith Plaskow und Susannah Heschel, die kritisierten, dass feministische Theolog*innen unreflektiert antijüdische Stereotype christlicher Theologie fortschrieben, wie z.B. die Darstellung Jesu als den „neuen Mann“, der Frauen aus einem patriarchalen, frauenunterdrückenden Judentum befreit. Der Band: „Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus“ (Schottroff / Wacker 1996) bildet die daraufhin entstandenen exegetischen Diskussionen und deren Ergebnisse ab. So stellt Luise Schottroff der gängigen Vorstellung eines gesetzesfreien Heidenchristentums, das sich sehr früh vom Judentum abgesetzt hat, das Bild der Jesusbewegung als jüdischer Befreiungsbewegung innerhalb der Pax Romana entgegen, die von Frauen und Männern jüdischer und nichtjüdischer Herkunft getragen wurde (1995, 27-33). In späteren Veröffentlichungen, die imperiumskritische Theorien aufnehmen, zeigt sie, dass die in den Evangelien geschilderte Konflikte mit Pharisäer*innen und Schriftgelehrten weniger als Auseinandersetzungen über theologische Positionen, sondern vielmehr als Auseinandersetzungen über das Verhalten gegenüber dem Imperium Romanum verstanden werden müssen (Schottroff 2015).

Feministische Exegese versucht, so viele Informationen wie möglich über die Zugehörigkeit der Jesusbewegung und der frühen Gemeinden zum Judentum zu erhalten und dafür zeitgenössische jüdische Quellen und auch aktuelle jüdisch-theologische und Auslegungen der biblischen Texte zu nutzen. So verbinden aktuelle exegetische Entwürfe zu den paulinischen Schriften feministische Exegese mit Ergebnissen der „New Perspective on Paul“ und der Post-Shoah-Theologie (Ehrensperger 2004).

6. Aktuelle Entwicklungen

Aktuell stehen in der wissenschaftlichen Exegese nicht länger einzelne Frauengestalten oder die Rekonstruktion von Frauengeschichte im Mittelpunkt des Interesses. Diese Themen werden abgelöst durch umfassende Fragen zum Geschlechterverhältnis oder zu Einzelaspekten wie z.B. Männlichkeitskonstruktionen in den Texten oder der Frage nach Körper / Leiblichkeit, Sexualität und Gewalt, die mit feministischer Hermeneutik unter Einbeziehung von gender- und queertheologischen Ansätzen bearbeitet werden (Eisen u.a. 2013). Neben Impulsen aus den postkolonialen Studien bietet das interreligiöse Gespräch mit jüdischen und islamischen Theolog*innen wichtig Impulse für christlich-feministische Exegese (Wacker 2016; Baker 2013; Sirri 2017; Aslan u.a. 2013).

Zwei großangelegte Veröffentlichungsprojekte bieten einen Überblick über den aktuellen Stand feministischer Exegese: 1. die auf 20 Bände angelegte Enzyklopädie: „Die Bibel und die Frauen“, die Erträge der Exegese mit Forschungen zur Rezeptionsgeschichte verbindet. Sie wird in vier verschiedenen Sprachen parallel publiziert: deutsch, spanisch, italienisch, englisch (Fischer u.a. 2010ff). 2. das auf 60 Bände angelegte Kommentarwerk in englischer Sprache: „Wisdom Commentary“. Es bietet zu jedem biblischen Buch einen feministischen Kommentar, der mit einer intersektionellen Perspektive weitere Aspekte wie Gender, Ökonomie, Ökologie und andere gesellschaftspolitisch relevante Themen einbezieht und allgemeinverständlich vermittelt (Reid 2015ff).

Literaturverzeichnis

1. Verwendete Literatur

  • Aslan, Ednan / Hermansen, Marcia / Medeni, Elif (Hg.), Muslima Theology. The Voices of Muslim Women Theologians, Frankfurt / Main 2013
  • Baker, Cynthia, Jüdische feministische Bibelwissenschaften, in: Elisabeth Schüssler Fiorenza/ Renate Jost (Hg.), Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, 153-168
  • Bibel in gerechter Sprache, Ulrike Bail u.a. (Hg.), Gütersloh 2006.42011, www.bibel-in-gerechter-sprache.de
  • Brooten, Bernadette, Frühchristliche Frauen und ihr kultureller Kontext. Überlegungen zur Methode historischer Rekonstruktion, in: F. W. Marquardt u.a. (Hg.), Einwürfe zur Bibel. Lektüre und Interessen, München, 1985, S. 62-93
  • Crüsemann, Frank / Thyen, Hartwig, Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen u.a. 1978
  • Crüsemann, Marlene, Unrettbar frauenfeindlich. Der Kampf um das Wort von Frauen in 1 Kor 14 (33b) 34-35 im Spiegel antijudaistischer Elemente der Auslegung, in: Luise Schottroff / Marie-Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden / New York / Köln 1996, 199-223
  • Dube, Musa, Postcolonial Feminist Interpretations of the Bible, St Louis 2000
  • Ehrensperger, Kathy, That We May Be Mutually Encouraged: Feminism and the New Perspective on Paul, London / New York 2004
  • Eisen, Ute / Gerber, Christine/ Standhartinger, Angela (Hg.), Doing Gender – Doing Religion. Fallstudien zur Intersektionalität im frühen Judentum, Christentum und Islam, Tübingen 2013
  • Evangelische Frauen in Deutschland (EFiD) u.a. (Hg.), Theologie geschlechterbewusst - kontextuell neu denken, Frankfurt 2015. (2005: Fernstudium feministische Theologie)
  • Fischer, Irmtraud / Groot, Christiana de / Navarro Puerto, Mercedes / Valerio, Adriana (Hg.), Die Bibel und die Frauen. Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie, Stuttgart u.a. 2010 ff
  • Halkes, Catharina J. M. / Buddingh, Daan (Hg.), Wenn Frauen ans Wort kommen. Stimmen zur feministischen Theologie, Gelnhausen u.a. 1979
  • Köhler, Hanne, Gerechte Sprache als Kriterium von Bibelübersetzungen. Von der Entstehung des Begriffs bis zur gegenwärtigen Praxis, Gütersloh 2012
  • Moltmann-Wendel, Elisabeth, Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus, Gütersloh 11980
  • Noller, Annette, Feministische Hermeneutik. Weg einer neuen Schriftauslegung, Neukirchen-Vluyn 1995
  • Plaskow, Judith, Anti-Judaism in Feminist Christian Interpretation, in: E. Schüssler Fiorenza (Hg.), Searching the Scriptures, Volume One: A Feminist Introduction, New York 1993, 117-129
  • Reid, Barbara E. u.a. (Hg.), Wisdom Commentary, Liturgical Press, Collegeville 2015ff
  • Schottroff, Luise, „… Alles was sie euch lehren, das tut …“ (Mt 23,3). Pharisäer und Pharisäerinnen im Matthäusevangelium, in: Rainer Kessler / Carsten Jochum Bortfeld (Hg.), Schriftgemäß. Die Bibel in den Konflikten der Zeit, Gütersloh 2015, 141-161
  • Schottroff, Luise, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, München 1994
  • Schottroff, Luise / Wacker, Marie-Theres (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden u.a. 1996
  • Schottroff, Willy / Stegemann, Wolfgang, Traditionen der Befreiung. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, Bd. 2: Frauen in der Bibel“, München u.a. 1980
  • Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel, Freiburg / Schweiz 1988
  • Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Gleichheit und Differenz. Gal 3,28 im Brennpunkt feministischer Hermeneutik, in: Berliner Theologische Zeitschrift 16 (1999) 212-231
  • Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Weisheitswege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2001
  • Schüssler Fiorenza, Elisabeth, Zwischen Bewegung und Akademie: Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert, in: Elisabeth Schüssler Fiorenza / Renate Jost (Hg.), Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, 13-29
  • Sirri, Lana, Einführung in islamische Feminismen, Berlin 2017
  • Stanton, Elizabeth Cady, The Woman’s Bible Part I. Comments on Genesis, Exodus, Leviticus, Numbers and Deuteronomy. Part II. Comments on the Old and New Testaments from Joshua to Revelation, Boston 1895-98
  • Sutter Rehmann, Luzia, Die aktuelle feministische Exegese der paulinischen Briefe. Ein Überblick, in: Claudia Janssen / Luise Schottroff / Beate Wehn (Hg.), Paulus. Umstrittene Traditionen – lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001, 10-22
  • Tamez, Elsa, Feministische Bibelwissenschaften in Lateinamerika und der Karibik, in: Elisabeth Schüssler Fiorenza/ Renate Jost (Hg.), Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, 47-63
  • Tamez, Elsa, Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998
  • Vander Stichele, Caroline / Penner, Todd (ed.), Her Master’s Tools? Feminist and Postcolonial Engagements of Historical-Critical Discourse, Atlanta 2005
  • Wacker, Marie-Theres, Dem / den Anderen Raum geben. Feministisch-christliche Identität ohne Antijudaismus, in: Luise Schottroff / Marie-Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden u.a. 1996, 247-269
  • Wacker, Marie-Theres, Geschichtliche, hermeneutische und methodologische Grundlagen, in: Luise Schottroff / Silvia Schroer / Marie-Theres Wacker, Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995, 3-33
  • Wacker, Marie-Theres, Zum Stand der christlich-feministischen Exegese: Frauen ins Zentrum stellen, in: Herder Korrespondenz 70. Jg. (2016), Heft Spezial 1, 22-25. https://www.herder-korrespondenz.de/heftarchiv/70-jahrgang-2016/marias-toechter-die-kirche-und-die-frauen/zum-stand-der-christlich-feministischen-exegese-frauen-ins-zentrum-stellen [16.3.2018 Zugriff]
  • Walgenbach, Katharina, Intersektionalität - eine Einführung (2012). URL: www.portal-intersektionalität.de [16.3.2018 Zugriff]

2. Weiterführende Literatur

  • Newson, Carol A. / Ringe, Sharon H. (Hg.), The Women’s Bible Commentary, London 1992
  • Schottroff, Luise / Wacker, Marie-Theres (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998
  • Schüssler Fiorenza, Elisabeth (ed.), Searching the Scriptures Vol. 1: A Feminist Introduction, New York 1993; Vol. 2: A Feminist Commentary, New York 1994
  • Levine, Amy-Jill (ed.), Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings, Sheffield 2001ff. (Sammelbände zu einzelnen neutestamentlichen Schriften)

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