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Evangelium nach Philippus

(erstellt: September 2011)

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1. Bezeugung und Überlieferung

Erstmals erwähnt Epiphanius, der → Bischof von Salamis, in seinem 374-377 verfassten „Arzneikasten gegen alle Häresien“ („Panarion omnium haeresium“ = haer.) „ein auf den Namen des heiligen Jüngers → Philippus erdichtetes → Evangelium“ bei ägyptischen Gnostikern. Er zitiert einige Zeilen, in welchen ein Erzähler (Philippus?) ein vom „Herrn“ empfangenes Passwort mitteilt, das die Seele bei ihrer Reise in den Himmel vor den Dämonenmächten, die diesen Aufstieg hindern wollen, schützt (haer. XXVI 13,2-3 [Holl, GCS 31, 292,13-293,1]). Timotheus von → Konstantinopel (De receptione haereticorum [PG 86,1,21 C]) und (Pseudo-)Leontius Scholasticus (De sectis III,2 [PG 86,1,1213 C]) berichten um 600 n. Chr., dass dem → Thomas und dem Philippus zugeschriebene Evangelien von Manichäern (→ Mani) gelesen würden.

Von den 1945/46 in der Nähe des oberägyptischen Ortes Nag Hammadi entdeckten Papyrus-Kodices (NHC) enthält Kodex II eine Schrift (NHC II,3 p. 51,29-86,19), welcher der Titel „das Evangelium nach Philippus“ (p. 86,18f) angefügt ist. Die Handschriften sind vermutlich in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts oder im fünften Jahrhundert angefertigt worden, die koptischen Texte sind mit großer Wahrscheinlichkeit Übersetzungen älterer griechischer Originale. Das von Epiphanius zitierte Stück findet sich im koptischen EvPhil nicht, lediglich das im Epiphaniuszitat vorausgesetzte Motiv von der Himmelsreise der Seele ist in NHC II p. 86,4-12 belegt (auch p. 65, 27-35; p. 70,5-9; p. 76,22-31).

2. Gattung und Inhalt

Das EvPhil ist kein „Evangelium“ (Evangelium) in der Art der kanonischen (→ Kanon) Evangelien und auch keine Spruchsammlung in der Art des → Thomasevangeliums aus NHC II,2. Es enthält Bildworte, Vergleiche, Aphorismen, knappe Erörterungen und Auslegungen zu biblischen Texten und Fragmente von Erzählungen. Nur sehr weniges davon ist auf Begebenheiten des Lebens Jesu oder ein Wort Jesu zu beziehen. Der Sprecher der wiedergegebenen Worte bleibt zumeist anonym. Der „Apostel Philippus“ wird nur einmal erwähnt, als Gewährsmann und Exeget einer Überlieferung über Joseph, den „Zimmermann“, der einen Garten gepflanzt und aus den Bäumen des Gartens das Kreuz, an welchem Jesus hingerichtet wurde, hergestellt habe. Neben → Jesus, Philippus und Joseph sind nur wenige weitere Figuren der neutestamentlichen Überlieferung namentlich erwähnt, so → Maria (p. 55,23.27; 59,7), → Maria Magdalena (p. 59,10; 63,33) und ein nicht näher identifizierter Levi (p. 63,26). Ein Rahmen, der diese kleinen Texteinheiten zusammenbindet, fehlt.

In populären Jesus-Dokumentationen hat das Textstück p. 63,33-36 einige Berühmtheit erlangt, und zwar in der ergänzten Übersetzung: „Der [Heiland liebte] Maria Magdalena mehr als [alle] Jünger, und er küsste sie [oft]mals auf ihren [Mund]“ (Übers. Schenke). Auch wenn man diesen Vorschlag, die Textlücken zu füllen, als plausibel ansieht, so ist an dieser Stelle keine Aussage über die Lebensverhältnisse Jesu beabsichtigt. Der Verfasser des EvPhil zeigt sich am irdischen Jesus nicht interessiert. Wenn er aus den kanonischen Evangelien bekannte Begebenheiten streift, wie etwa die → Jungfrauengeburt (p. 71,18-21), die → Taufe im Jordan (p. 70,34-36; 72,29-73,1), die → Verklärung (p. 58,5-10), die → Kreuzigung (p. 68,26-29; 73,13-15) und die → Auferstehung (68,31-37), so nur, um eine allegorische (→ Allegorie ) Deutung anzufügen.

Möglicherweise geht die Bezeichnung „Evangelium“ nicht auf die griechische Textvorlage zurück, sondern ist vom Schreiber der Handschrift nachträglich eingefügt (M. L. Turner, 9-10), oder ein ursprünglicher kürzerer Titel, „(Buch) nach Philippus“, wurde, evtl in Anlehnung an das in Kodex II unmittelbar vorausgehende „Evangelium nach Thomas“ (NHC II, 2), um den Begriff „Evangelium“ in p. 86,18 ergänzt (Nagel, 104-111).

Der Text NHC II, 3 lässt sich keiner bekannten Textgattung zuordnen. Er ist offensichtlich eine Kompilation älterer Quellen und wird daher oft als „Florilegium“ (Schenke, 27) oder „Materialsammlung“ (Turner, 257-261) angesehen. Möglicherweise wurden andere Werke im Hinblick auf einen Lehrvortrag bzw. eine Predigt exzerpiert (Thomassen 1997, 252-253), oder aber es handelt sich um die Mitschrift eines Zuhörers (Van Os 2007, 149).

H.-M. Schenke hat bereits 1960 nach inhaltlichen Kriterien 127 Sinneinheiten abgegrenzt, die er in seinem großen Kommentar von 1997 auf 208 Abschnitte erweitert hat. Da die Nummerierung der 127 Einheiten in Teilen der Forschungsliteratur bereits etabliert war, wurde die zusätzliche Gliederung durch die Beifügung von Kleinbuchstaben (# 3a, # 3b, # 3c) vorgenommen. Bei diesen Abschnitten handelt es sich nach Ansicht Schenkes um Exzerpte verlorener → „Philippus-Akten“ (Schenke, 7-8). Aufgrund von Dopplungen und in Abständen wieder aufgegriffenen Stichworten geht W. W. Isenberg davon aus, dass ein hypothetischer Urtext im Laufe seiner Überlieferungsgeschichte bewusst zerteilt und in der Absicht reorganisiert wurde, einen geheimnisvollen Text zu erzeugen. Er spricht von „calculated obscurantism“ (Isenberg 52).

Eine gewisse Strukturierung des Textes ist jedoch erkennbar. So beginnt das EvPhil mit Aussagen zu → „Proselyten“ (p. 51,29-52, 2), wobei es sich auf die Zeit bezieht, „als wir Christen wurden …“ (p. 52, 23-24), und es endet mit der erwarteten Erfüllung der christlichen Hoffnung (→ Eschatologie) (p. 86, 4-18). Anfang und Ende des Textes scheinen also von einer bewussten Planung zu zeugen. In der Literatur zum EvPhil sind eine Reihe von unterschiedlichen Vorschlägen gemacht worden, den Text in größere Einheiten zu gliedern. Dabei existieren durchaus Übereinstimmungen, wie etwa die Annahme eines Neueinsatzes in p. 77, 15 (Van Os 2007, 88; Borchert, 388; Turner, 146; Painchaud, 50.55).

3. Einordnung

Das EvPhil kann aufgrund einer Reihe von typischen Motiven, darunter das Wort vom himmlischen „Brautgemach“, als valentinianischer Text angesehen werden (Thomassen 1997, Schenke). Es ist allerdings keiner der bekannten Varianten des Valentinianismus eindeutig zuzuordnen. E. Thomassen (2006, 279) denkt an den orientalischen Zweig, B. van Os (2007, 192-196.209), an die westliche, italische Richtung. Von einigen Forschern wird die Zuordnung zum Valentinianismus aber abgelehnt (z. B. Bos; Lundhaug).

Ein Großteil der Bearbeiter stimmt der in der älteren Forschung (Isenberg, Sevrin, Gaffron) formulierten These zu, das EvPhil sei ein Text über die Heil vermittelnden Rituale (→ „Sakramente“). Das EvPhil könnte entweder auf eine Sakramentskatechese zurückgehen (Isenberg, 135; Van Os 2007, 107) oder aus dem Kontext einer Diskussion über den Wert und die Funktion der Rituale stammen (Schmid, 224-229). Als Beleg eines Ritualsystems im EvPhil wird meist das bei Schenke als #68 gezählte Textstück p. 67, 27-30 angeführt: „Der Herr [bereitete] alles in einem Geheimnis (mysterion): Taufe, Salbung, Eucharistie, Erlösung, Brautgemach“. Entweder handelt es sich hier um eine Liste von fünf Ritualen, von denen die zuletzt genannten Rituale der „Erlösung“ und des „Brautgemachs“ sonst unbekannte Sondersakramente wären (z.B. Bos, 805; Schenke, 381-382; Gaffron, 221-222), oder aber der Abschnitt ist nicht als Liste gedacht, dann umschreiben „Erlösung“ und „Brautgemach“ vielleicht die drei bekannten Rituale (Tripp, 257-258; Schmid, 83-128; Lundhaug, 408). Ein System aus drei Ritualen ist im EvPhil p. 69, 14-29 vorausgesetzt, wobei dort neben der → Taufe „Erlösung“ und „Brautgemach“ genannt sind.

4. Ort und Zeit

Vor allem aufgrund einiger im Text als „syrisch“ ausgewiesener Begriffe (p. 56, 8; 63, 22) wird vermutet, das hypothetisch griechische Original des EvPhil könnte im syrischen Raum entstanden sein, entweder im zweisprachig syrisch-griechischen Westsyrien um Edessa (Schenke, 5) oder im Gebiet um Antiochien (Gaffron, 66). Die Gründe für die Lokalisierung in Syrien sind allerdings nicht ausreichend (Van Os 2006).

Für die Entstehung des griechischen Originals kommt der Zeitraum vom Ende des zweiten (Van Os 2007, 205-207) bis zum vierten Jahrhundert (Isenberg 348-349) in Frage. Geht man davon aus, dass das EvPhil ein valentinianischer Text ist, so bietet das Auftreten der valentinianischen Lehrer in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts einen terminus post quem. H. Lundhaug (393) nimmt im EvPhil Reflexe der arianischen Kontroverse an. Da das verlorene Original nur hypothetisch erschlossen werden könne und insbesondere mit Sakramenten befasste Texte als „living literature“ (Lundhaug, 13; 162; 414) wohl mehrfach überarbeitet worden seien, schlägt er vor, das EvPhil als koptischen Text des vierten oder fünften Jahrhunderts zu lesen.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

2. Textausgaben

  • The Facsimile Edition of the Nag Hammadi Codices. Codex II, 1974, Leiden, 63-98.
  • The Gospel according to Philip, hg. v. B. Layton, übers. v. W. W. Isenberg, CoptGnL 2 = NHS 20, Leiden u. a. 1989, 129-217.
  • Das Philippus-Evangelium (Nag-Hammadi-Codex II, 3). Neu herausgegeben übersetzt und erklärt v. H.-M. Schenke (TU 143), Berlin 1997.
  • Übers. v. H.-M. Schenke, in: H.-M. Schenke u. a. (Hgg.), Nag Hammadi Deutsch. Studienausgabe, 2. überarbeitete Auflage, Berlin/New York 2010, 140-163.

3. Monographien und Aufsätze

  • Borchert, G. L., 1967, An Analysis of the Literary Arrangement and Theological Views in the Coptic Gnostic Gospel of Philip, Th. D. Diss, Princeton Theological Seminary.
  • Bos, G. K., 2007, Soul, Pneuma and Light in the Gospel of Philip, in: Actes du Congrès de Paris, 28 juin – 3 juillet 2004, OLA 163, 799-810.
  • Gaffron, H.-G., 1969, Studien zum koptischen Philippusevangelium unter besonderer Berücksichtigung der Sakramente, Bonn.
  • Isenberg, W. W., 1968, The Coptic Gospel According to Philip, Ph.D. Dissertation, University of Chicago, Chicago.
  • Lundhaug, H., 2010, Images of Rebirth. Cognitive Poetics and Transformational Soteriology in the Gospel of Philip and the Exegesis on the Soul, NHMS 73, Leiden, Boston.
  • Nagel, P., 2008, “Das (Buch) nach Philippus”. Zur Titelnachschrift Nag Hammadi Codex II,3: p.86,18-19, ZNW 99, 99-111.
  • Painchaud, L., 1996, La Composition de l’Évangile selon Philippe (NH II,3): une analyse rhétorique, SBL.SP 132, 35-66.
  • Schenke, H.-M., 1997, Das Philippus-Evangelium (Nag-Hammadi-Codex II, 3). Neu herausgege¬ben übersetzt und erklärt (TU 143), Berlin.
  • Schmid, H., 2007, Die Eucharistie ist Jesus. Anfänge einer Theorie des Sakraments im koptischen Philippusevangelium (NHC II 3), SVigChr 88, Leiden.
  • Sevrin, J.-M., 1972, Pratique et doctrine des sacraments dans l’Évangile selon Philippe. Tome I: Texte. Tome II: Bibliographie, notes, tables, Dissertation, Université Catholique de Louvain. Faculté de Theologie.
  • Thomassen, E., 1997, How Valentinian is the Gospel of Philip?, in: J. D. Turner (Hg.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years. Proceedings of the 1995 Society of Biblical Literature Commemoration (NHMS 44), Leiden u. a., 251-279.
  • Thomassen, E., 2006, The Spiritual Seed. The Church of the ‚Valentinians’ (NHMS 60) Leiden u. a.
  • Tripp, D. H., 1982, The ‘Sacramental System’ of the Gospel of Philip, in: StudPatr 17, Oxford, 251-260.
  • Turner, M. L., 1996, The Gospel According to Philip. The Sources and Coherence of an Early Christian Collection (NHMS 38), Leiden u. a.
  • Van Os, B., 2006, Was the Gospel of Philip written in Syria?, Apocrypha 17, 87-93.
  • Van Os, B., 2007, Baptism in the Bridal Chamber. The Gospel of Philip as a Valentinian Baptismal Instruction, Groningen, (http://irs.ub.rug.nl/ppn/303088044).

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