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Evangelium der Maria

Andere Schreibweise: Evangelium nach Maria; Mariaevangelium; Gospel of Mary (engl.)

(erstellt: April 2020)

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1. Bezeugung und Überlieferung

Das Evangelium der Maria (EvMar) ist in drei unvollständigen Abschriften erhalten. Da der Text weder bei den Kirchenvätern noch in den Kanonlisten Erwähnung findet, blieb das EvMar der modernen Forschung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unbekannt. Der umfangreichste Text befindet sich im sog. Codex Berolinensis Gnosticus (BG) 8502 aus dem fünften Jahrhundert, welcher neben dem EvMar noch drei weitere Schriften im sahidischen Dialekt der → koptischen Sprache enthält: das → Apokryphon des Johannes, die Weisheit Jesu Christi und die → Tat des Petrus. Anhand der Seitennummerierungen lässt sich sagen, dass das EvMar wahrscheinlich die ersten 19 Seiten des Codizes bedeckte. Allerdings sind nur neun dieser Seiten erhalten (7,1-10,23; 15,1-19,5). Der Beginn des Evangeliums (1-6) sowie Teile der Rede Marias (11-14) fehlen. Davon abgesehen befindet sich der Codex jedoch in einem hervorragenden Zustand. Neben der koptischen Version existieren zwei griechische Fragmente aus dem dritten Jahrhundert, die im 20. Jahrhundert nahe der antiken Stadt Oxyrhynchus entdeckt wurden. Papyrus Rylands (PRyl) 463 enthält das Material von 17,5-22 und 18,5-19,5 der koptischen Fassung, Papyrus Oxyrhynchus (POxy) 3525 enthält das Material von 9,5-10,13. Beide Fragmente entstammen verschiedenen Handschriften, sind schlecht erhalten und bieten kein Material zur Rekonstruktion der Lücken des koptischen Textes. Obwohl es sich bei der koptischen Fassung des EvMar höchstwahrscheinlich um eine Übersetzung des ursprünglich griechischen Textes handelt, dienten ihr die erhaltenen griechischen Fragmente nicht zur Vorlage.

Zwischen den griechischen Fragmenten und der koptischen Version bestehen zahlreiche Unterschiede, welche aber hauptsächlich die Wahl der Worte und der Formulierungen betreffen. Es gibt keine größere Differenzen in der Form von Umstellungen oder Auslassungen, die darauf schließen lassen könnten, dass das EvMar im Laufe seiner Überlieferung umfassend redaktionell überarbeitet wurde. Welcher Text bei abweichenden Lesarten der ursprünglichere ist, muss im Einzelfall entschieden werden. Obwohl die griechischen Fragmente älter sind und in der Sprache des Originals vorliegen, sind sie nicht zwangsläufig zuverlässiger. So weist PRyl mindestens ein bis zwei eindeutige Fehler auf. Der Vergleich der Seitenzahlen zeigt, dass die griechische Fassung des EvMar im PRyl wohl etwas länger war als die koptische des BG. Die überraschend breite und frühe Bezeugung des EvMar spricht dafür, dass der Text von seiner Abfassung im zweiten Jahrhundert bis zur Anfertigung des BG im fünften Jahrhundert oft vervielfältigt und gelesen wurde. Der Titel „Evangelium nach Maria“ findet sich im BG (19,3-5) und lässt sich im PRyl ergänzen. Die Titelform gleicht jenen der kanonisch gewordenen Evangelien.

2. Einleitungsfragen

2.1. Herkunft, Zeit der Entstehung und Verfasserschaft

Der Abfassungsort des EvMar ist unklar. Aufgrund des Fundorts der drei Textfragmente und der Annahme eines dem Text zugrundeliegenden „gnostischen“ Mythos‘, argumentieren einige Wissenschaftler für eine Abfassung in Ägypten, was allerdings stark umstritten ist. Die Tatsache, dass es überwiegend in Ägypten zu Papyrusfunden kam, lässt sich dadurch erklären, dass das dort vorherrschende trockene Klima den Erhalt von Papyrus begünstigt. Weiterhin wurden die meisten der in Oxyrhynchus gefundenen jüdischen und frühchristlichen Texte außerhalb Ägyptens abgefasst. Aufgrund der herausragenden Rolle, die Levi im EvMar einnimmt, plädiert Hartenstein für eine Abfassung in Syrien. Dies begründet sie damit, dass Texte wie das → Petrusevangelium oder die syrische Didaskalia, welche Levi als Erstzeugen der Auferstehung Jesu nennen, in Syrien lokalisiert werden. De Boer macht auf die Ähnlichkeiten zu den → paulinischen Briefen und dem → Johannesevangelium aufmerksam und nimmt einen Entstehungsort in Kleinasien an.

Die genaue Datierung des EvMar ist ebenfalls umstritten. Um die Schrift zeitlich einzuordnen, werden in der Forschung inhaltlich-theologische Argumente angeführt. So verweise ein hinter dem Text stehender realer Konflikt um Führungsfunktionen von Frauen bzw. eine reale Debatte zwischen verschiedenen frühchristlichen Gruppierungen („häretisch“ vs. „orthodox“) auf eine Abfassung zu Beginn des zweiten Jahrhunderts, wohingegen die Nähe des Textes zu mittelplatonischen Ideen eine Abfassung in der Mitte und die Aufnahme von sog. gnostischen Vorstellungen eine Abfassung in der zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts nahelegen. Die erhaltenen griechischen Fragmente weisen jedenfalls auf eine Abfassung vor Beginn des dritten Jahrhunderts hin. Da es sich bei den Fragmenten höchstwahrscheinlich um spätere Kopien einer griechischen Vorlage handelt, muss der Entstehungszeitpunkt des EvMar einige Zeit vor der Datierung des ältesten Papyrusfragments PRyl liegen. Tuckett legt überzeugend dar, dass das EvMar mit großer Wahrscheinlichkeit im zweiten nachchristlichen Jahrhundert verfasst wurde, betont aber „any greater precision is difficult to attain with any certainty, but […] a date in the first half of the second century might fit […] slightly better“ (Tuckett 2007, S. 12). Eine Frühdatierung des Textes ins erste Jahrhundert ist sehr unwahrscheinlich, da das EvMar die kanonisch gewordenen Evangelien vorauszusetzen scheint.

2.2. Abfassungssprache und literarische Gattung

Es kann mit großer Sicherheit angenommen werden, dass das EvMar ursprünglich auf Griechisch verfasst wurde. Diese Annahme wird durch die Existenz der griechischen Fragmente unterstützt, welche die frühesten uns erhaltenen Textzeugen sind und welche keinen Grund zur Annahme einer anderen Abfassungssprache bieten.

Das EvMar wird in der Forschung üblicherweise als „Offenbarungsdialog“, „Erscheinungsdialog“ oder „Offenbarungsrede“ bezeichnet. Texte dieser Art zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer nachösterlichen Erscheinung Jesu vor seinen JüngerInnen berichten, worauf ein Dialog folgt, in welchem Jesus als Offenbarer (verborgener) Lehren auftritt. Obwohl der Anfang des EvMar und somit die Erzählung der Erscheinung Jesu fehlt, sprechen der Dialog, die Jüngerunterweisung und Jesu Schlussaufforderung zur → Mission für eine solche Zuordnung. Ungewöhnlich ist jedoch der zweite Teil der Schrift, in welchem Maria nach dem Weggang Jesu die Rolle seiner Stellvertreterin einnimmt und die JüngerInnen unterweist. Insbesondere der Bericht ihrer → Vision unterscheidet sich vom literarischen Charakter des übrigen Texts. Bei der Selbstbezeichnung als → „Evangelium“ (BG 19,3-5) kann es sich durchaus um eine sekundäre Ergänzung handeln. Um die Selbstbezeichnung des Textes zu respektieren, wählt Hartenstein die Bezeichnung „Dialog-“ oder „Erscheinungsevangelium“.

2.3. Personen

Die Charaktere des EvMar sind aus der christlichen Tradition gut bekannt, weshalb der Autor diese nicht weiter eingeführt hat. Neben Jesu JüngerInnen werden fünf Individuen erwähnt: Jesus, Maria, Petrus, Andreas und Levi. Jesus wird im EvMar weder beim Namen genannt noch als „Christus“ angesprochen, sondern als „Erlöser“ (vgl. BG 7,2), „Seliger“ (BG 8,12) oder „Herr“ (BG 10,11) bezeichnet. Die Namen seiner JüngerInnen sowie die Ähnlichkeit einiger Sprüche zur Überlieferung der kanonisch gewordenen Evangelien zeigen, dass im EvMar Jesus gemeint ist. Dies wird weiterhin durch Anspielungen auf die → Aussendungsszene der kanonischen Evangelien (v.a. Schlusserscheinung in Mt 28,16-20) unterstützt. Zudem verweist die Anmerkung „jener [wurde] nicht verschont“ (BG 9,10f) auf das Leiden und den Tod Christi.

Eine weitere zentrale Figur ist Maria. Obwohl sie nicht näher beschrieben wird, scheint es plausibel, dass es sich bei ihr um → Maria Magdalena handelt. Dies legt zunächst einmal die Schreibweise ihres Namens als Μαριάμμη (koptisch: ⲙⲁⲣⲓϩⲁⲙⲙⲏ) statt Μαρία (ⲙⲁⲣⲓϩⲁ) nahe. Dieses Argument zweifeln Wissenschaftler wie z.B. Shoemaker jedoch an, der behauptet, dass der Name Μαριάμμη in einigen griechischen Fragmenten zur Bezeichnung der → Mutter Jesu verwendet wird. Eine Identifizierung mit Jesu Mutter scheint aber schon deshalb problematisch, weil ihr besonderer Status den Neid der Jünger hervorruft. Shoemaker schlägt eine weitere Option vor: Er deutet Maria als “composite figure [… having] absorbed elements of both the Magdalene’s and the Virgin’s identities” (Shoemaker 2001, S. 560). Abgesehen davon ähnelt ihre Darstellung im EvMar der Darstellung von Maria Magdalena in einigen sog. gnostischen Texten, wobei Maria nur im → Philippusevangelium und in der → Pistis Sophia explizit als Maria Magdalena bezeichnet wird. Interessanterweise stellen beide Texte eine enge Verbindung zwischen Maria Magdalena und der ebenfalls erwähnten Mutter Jesu her, weshalb sie sich Shoemaker zufolge nicht zur Klärung der Identität Marias im EvMar eignen, sondern vielmehr die Komplexität der Marienfrage betonen. Aufgrund der Tatsachen, dass Maria im EvMar als die wichtigste Jüngerin Jesu und in Ähnlichkeit zur Maria Magdalena der neutestamentlichen Tradition dargestellt wird, hält jedoch die Mehrheit der Wissenschaftler eine Identifizierung mit Maria Magdalena nach wie vor für wahrscheinlicher. Hierbei darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Mutter Jesu in den kanonisch gewordenen Evangelien eine ähnlich prominente Stellung einnimmt. Ferner verweist Shoemaker auf die vor allem im syrischen Raum verbreitete frühe Tradition der Mutter Jesu als Erstzeugin der Auferstehung, womit die von Hartenstein u.a. postulierte Anspielung in BG 10,10f auf Joh 20,18 eine Identifizierung mit Maria Magdalena nicht notwendigerweise wahrscheinlicher macht.

2.4. Inhalt und Aufbau

Inhaltlich ergibt sich für den Text eine Zweiteilung in (1) das Gespräch zwischen dem Erlöser und den JüngerInnen und in (2) Marias Rede. Diese Teile sind durch die Rahmenerzählung sowie durch die Person Jesu und Parallelen in der Darstellungen von Jesus und Maria miteinander verbunden. Da der Beginn des EvMar fehlt, beginnen die erhaltenen Versionen mit dem Ende des Dialogs. (1) Jesus beantwortet die Fragen der JüngerInnen nach der Auflösung der Materie und dem Ursprung der Sünde (BG 7,1-8,11). Nach einigen letzten Anweisungen verschwindet der Erlöser und lässt seine JüngerInnen verängstigt und trauernd zurück. Infolgedessen tritt Maria auf und versucht Mut zuzusprechen, woraufhin die JüngerInnen beginnen, über die „Worte des Erlösers“ (BG 8,15-9,24) zu diskutieren. (2) Im Folgenden bittet Petrus Maria um die Mitteilung derjenigen Worte, die die anderen JüngerInnen nicht kennen. Maria erzählt von einer Vision und einem Gespräch, das sie mit dem Erlöser führte. Maria tritt hier als privilegierte Jüngerin auf. Ihre Rolle ähnelt der des Lieblingsjüngers im → Johannesevangelium (BG 10,1-17,7). Nach diesen Worten verfällt sie in Stille (BG 17,7f). Andreas kann allerdings nicht glauben, dass diese Worte wirklich vom Erlöser stammen und verweist auf die Andersartigkeit der Lehre (BG 17,10-15). Zudem äußert Petrus Einwände und fragt: „[E]r [der Erlöser] hat doch nicht etwa mit einer Frau heimlich vor uns, nicht öffentlich, geredet? [...] Hat er sie mehr als uns erwählt?“ (BG 17,18-22). Als Reaktion beginnt Maria zu weinen und sich selbst zu verteidigen. Levi kommt ihr zur Hilfe, indem er sagt, dass „der Erlöser sie würdig gemacht hat“ (BG 18,11). Schließlich fordert Levi die JüngerInnen dazu auf, den Anweisungen des Erlösers zur Verkündigung und Predigt zu folgen, woraufhin alle – nach PRyl nur Levi – Jesu Verkündigungsauftrag nachkommen (BG 19,1f).

Über den Inhalt der fehlenden Seiten lässt sich nur spekulieren. Der Anfang des Textes berichtete wohl – wie für Texte dieser Art üblich – von der Erscheinung Jesu, was durch die Erzählungen seines Weggangs in BG 9,5, seine Schlussermahnungen und seinen Auftrag zur Mission in BG 8,12-22 impliziert wird. Die fehlenden Seiten 11-14 scheinen zu Marias Schilderung ihrer Unterhaltung mit Jesus zu gehören, welche in BG 10,12 begonnen wurde und in BG 17,7 ihren Abschluss findet. Anschließend an BG 10 folgten wahrscheinlich weitere Anmerkungen zum bereits in BG 10,21 erwähnten Verstand, woraufhin möglicherweise zur Thematik des Seelenaufstiegs übergeleitet wurde. Hier wurde zunächst der Dialog der Seele mit den ersten beiden Mächten wiedergegeben, wobei der letzte Teil des Disputs mit der zweiten Macht (Begierde) in BG 15,1-10 erhalten ist.

Die Zweiteilung des Textes hat zu verschiedenen Theorien bezüglich der Entstehung und des Aufbaus des EvMar geführt. So argumentierte Till, dass die Schrift aus zwei ursprünglich selbstständigen Texten zusammengefügt worden sei. Dies begründete er damit, dass Maria erst gegen Ende des ersten Teils auftrete, in welchem sie ansonsten keine Rolle spiele. BG 9,5-10,10 könnte seiner Meinung nach nachträglich eingefügt worden sein, um die beiden Teilen miteinander zu verbinden. Der Titel „Evangelium nach Maria“ ergebe auch dann Sinn, wenn er ausschließlich auf den zweiten Teil des Textes bezogen werde. Ähnlich plädierte Puech für eine Zusammensetzung des EvMar aus zwei ursprünglich unabhängigen Schriften, was er in den unterschiedlichen Textgattungen der beiden Teile – Gespräch des Auferstandenen mit seinen Jüngern und Visionsschrift – angedeutet sah. Pasquier ging davon aus, dass das EvMar im Laufe seiner Überlieferung eine Überarbeitung erfahren habe. Aufgrund des scheinbar widersprüchlichen Verhaltens der Jünger und des Petrus in BG 9,20-24 bzw. 10,1-6 sowie im Anschluss an Marias Rede in BG 17,10ff wertete sie den Abschnitt zwischen BG 9,20 und 17,9 als sekundäre Zufügung, wobei BG 9,20-10,10 dazu diene, BG 10,10-17,9 als neue Offenbarung in den Text zu integrieren.

Allerdings betonen insbesondere neuere Untersuchungen zum EvMar die literarische und inhaltliche Einheit der Schrift und entkräften die verschiedenen Kompositionstheorien, indem sie die zahlreichen innertextlichen Bezüge und Verweise betonen, welche die Textstücke miteinander verbinden. Da das EvMar lediglich in fragmentarischer Form erhalten ist, lassen sich keine letztgültigen Aussagen über das Vorkommen Marias im ersten Teil machen und bei den scheinbar widersprüchlichen Jünger- und Petrusdarstellungen kann es sich durchaus um Plotentwicklungen handeln. Nachdem uns der Text ausschließlich in der jetzigen Form seiner Überlieferung vorliegt und sich angebliche Spannungen erklären lassen, sind keine Quellenhypothesen zur Erklärung der vorliegenden Textgestalt von Nöten. Da das EvMar offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen in sich vereint, ist es durchaus vorstellbar, dass die Schrift ihr Material aus verschiedenen Quellen bezogen hat.

3. Religionsgeschichtliche Einordnung

Das EvMar enthält eine Vielzahl unterschiedlicher Themen. Vor allem geht es um das Thema der Erlösung, also um die Frage, wie der Mensch aus seinem unheilvollen Zustand in der Welt den Weg zum Heil erlangen kann. Im Anschluss an eher philosophische Ausführungen zur Auflösung und Rückkehr alles Seins in seinen Ursprung und zur Sünde (BG 7,1-8,11), wird von einem Seelenaufstieg berichtet (BG 15,1-17,7), der an sog. gnostische Texte erinnert. Grundsätzlich wird im EvMar die Meinung vertreten, dass der Mensch selbst an seiner Erlösung mitwirken kann und muss. Er kann den „Menschensohn“ finden, der bereits in seinem Innern vorhanden ist (BG 8,18-21), und hat die Möglichkeit den „vollkommene Mensch“ hervorzubringen (BG 18,16f).

Dabei stellt sich die Frage, wie „gnostisch“ das EvMar ist. In der Forschung wurde der „gnostische“ Charakter des EvMar lange Zeit einfach angenommen. Diese Einschätzung wurde jedoch in den letzten Jahren zunehmend infrage gestellt. Ein Grund für diese Entwicklung liegt darin, dass die Kategorie „Gnosis“ als solche in der jüngeren Forschung zunehmend problematisiert wird. Außerdem fehlen der Schrift – jedenfalls in der uns erhaltenen Fassung – typische „gnostische“ Merkmale; der Text enthält weder einen gnostischen Schöpfungsmythos noch ist von einem bösen Schöpfergott („Demiurg“) oder einer negativen Bewertung der Schöpfung die Rede. Allerdings scheinen andere Charakteristika wie das Thema der Selbsterkenntnis, das Wissen um die wahre Identität des Menschen sowie Fragen nach dessen Herkunft und Ziel im Text enthalten zu sein. Zudem ähnelt insbesondere der Bericht von Marias Vision in Sprache und Vorstellung anderen „gnostischen“ Texten. Darüber hinaus hat Tuckett darauf aufmerksam gemacht, dass die oftmals postulierte Nähe des EvMar zu platonischen und → stoischen Lehren die Art und Weise demonstriere, wie die „Gnosis“ Ideen aus der griechischen Philosophie aufgenommen und kreativ weiterentwickelt habe. Das EvMar lässt sich also insofern als „gnostisch“ bezeichnen, als es Ähnlichkeiten zu anderen „gnostischen“ Texten aufweist.

4. Neuere theologische Themen

4.1. Das EvMar als Zeugnis einer historischen Auseinandersetzung?

In der Forschung wird seit einiger Zeit diskutiert, ob dem EvMar historischer Konflikte um die Stellung von Frauen in den Gemeinden und um verschiedene Lehrinhalte seiner Entstehungszeit zugrunde liegen. Die auftretenden Personen werden hierbei als Repräsentanten der verschiedenen Positionen gesehen. So werden Maria und Levi als Vertreter der einen Gruppe gesehen, wohingegen Petrus und Andreas die andere, „orthodoxere“ Gruppe vertreten. Der Konflikt befindet sich wahrscheinlich noch in einem anfänglichen Stadium, da sich beide Gruppen – vielleicht angesichts einer drohenden Gefahr von außen (vgl. BG 18,10) – um Dialog bemüht zeigen. Das EvMar steht in dieser Konfliktsituation auf der Seite von Maria und Levi und argumentiert für die Gültigkeit von Visionen als Offenbarung neuer Lehren sowie für die geschlechtsunabhängige Lehrautorität.

4.2. Das EvMar im Fokus historischer Frauenforschung und feministischer Theologie

Aufgrund der herausragenden Rolle, die Maria – eine Frau – im EvMar einnimmt, hat der Text das Interesse der → feministischen Theologie und der theologischen Frauenforschung auf sich gezogen. Man erhoffte sich durch das EvMar nähere Informationen zur historischen Figur Maria Magdalenas, die man hinter dem Text vermutete, und ging davon aus, dass das EvMar den Hauptbeweis für die führende Rolle Marias an der Seite Jesu liefere, welche vom patriarchalisch geprägten biblische Kanon unterdrückt worden sei. Zudem wurde das EvMar herangezogen, um die Stellung der Frau im frühen Christentum zu untersuchen und zu zeigen, dass Frauen durchaus (spirituelle) Führungspositionen in den ersten christlichen Gemeinden innehaben konnten.

Maria nimmt im EvMar zweifellos eine bedeutende Rolle ein. Dies kommt bereits dadurch zum Ausdruck, dass die Schrift Marias Namen trägt (BG 19,3-5), wodurch diese als eine der Hauptakteure des EvMar und als Garantin der im Text enthaltenen Lehren charakterisiert wird. Maria ist neben dem Erlöser der aktivste Charakter im gesamten Text. Sie vertritt den Erlöser nach seinem Weggang und wird in Parallelität zu ihm dargestellt. Sie tröstete und ermutigt die verängstigten JüngerInnen, erinnert sie an die Worte des Erlösers und unterweist sie in vorbildhafter Weise. Dabei nimmt ihr Redebeitrag fast die Hälfte der Schrift ein. Die JüngerInnen erkennen Marias besondere Stellung an und akzeptieren zunächst, dass es Worte gibt, die der Erlöser nur ihr mitgeteilt hat. Petrus betont die herausragende Liebe des Erlösers, der Maria mehr liebte als alle Frauen (BG 10,2f). Levi bestätigt diese besondere Liebe und geht sogar darüber hinaus, indem er betont, dass der Erlöser Maria mehr als „uns“, d.h. mehr als alle anderen, geliebt habe (BG 18,14f). Der Erlöser lässt Maria seine besondere Wertschätzung zukommen, indem er sie zur Empfängerin besonderer Offenbarungen macht, sie seligpreist und lobt, weil sie bei seinem Anblick nicht wankt (BG 10,14f).

Allerdings ist Marias Auftreten und Handeln im EvMar stark mit ihrer geschlechtlichen Identität verknüpft. So wird im Text dreimal explizit auf ihr Frausein verwiesen: Petrus bezeichnet sie als Meistgeliebte unter den Frauen (BG 10,3) und äußert im Anschluss an ihre Rede Zweifel daran, dass der Erlöser im Geheimen mit einer Frau gesprochen haben könnte (BG 17,18-20). Für ihn scheint es unvorstellbar, dass Männer auf eine Frau hören (BG 17,20-22). Auch Levi, welcher der daraufhin weinenden Maria zur Hilfe eilt, nennt sie in seiner Verteidigung nicht bei ihrem Namen, sondern spricht lediglich von „der Frau“ (BG 18,9). Obwohl Andreas seine Kritik an Marias Rede mit dem Inhalt der enthaltenen Lehren begründet und nicht auf ihre Person verweist, diskutiert er seinen Einwand nicht mit Maria persönlich. Vielmehr wendet er sich an die „Brüder“ und spricht in der 3. Pers. Sgl. über sie (BG 17,10-15). Er lehnt Marias Lehren ab, weil sie angeblich nicht mit dem übereinstimmen, was die JüngerInnen bereits kennen. Levi, der weder Marias Status noch den Inhalt ihrer Lehren bezweifelt, verteidigt sie zwar, begründet dies jedoch lediglich unter Verweis auf die Wahl- und Handlungsfreiheit des Erlösers. Er scheint Andreas‘ Wunsch nach einer exklusiv männlichen Diskussion zu akzeptieren und unternimmt keinen Versuch Maria wieder in das Gespräch zu integrieren. So bleibt Marias Rückfrage an Petrus (BG 18,2-5) unbeantwortet, Andreas‘ Einwurf wird nicht weiter diskutiert und Maria schweigt. Am Ende bleibt offen, wer dem Verkündigungsauftrag nachkommt. Somit bleibt Maria trotz ihrer besonderen Beziehung zum Erlöser in einer isolierten Position, sie scheint den männlichen Jüngern nicht gleichberechtigt.

Es bleibt offen, inwiefern das EvMar Frauen in den ersten Gemeinden inspiriert hat. Einerseits legen die breite Bezeugung des EvMar sowie die Tatsache, dass man den Text übersetzt hat, einen gewissen Einfluss des Textes in den frühen christlichen Gemeinden nahe. So konnten sich Frauen möglicherweise auf Marias Auseinandersetzung mit Petrus berufen, um ihre eigene Position in den Gemeinden zu unterstreichen, wobei die lehrende und sich selbst taufende Thekla der Paulusakten sicherlich ein einflussreiches Beispiel darstellte (vgl. Tertullian, De baptismo 17,5). Andererseits argumentiert das EvMar vor allem für Maria und ihre Stellung, für anderen Frauen bezieht die Schrift keine Position. Ob die exponierte Stellung Marias Konsequenzen für andere Frauen hat, bleibt unklar. In der modernen Forschung hat die Entdeckung des EvMar jedoch dazu beigetragen, dass das Bild von Maria Magdalena als „große Sünderin“ revidiert wurde. Der neugeschriebene Mythos der selbstständigen und emanzipierten Nachfolgerin Jesu kann Frauen heute als Vorbild dienen und hat Maria Magdalena Titel wie „apostle to the apostles“ (Schüssler Fiorenza), „the first apostle“ (Brock) oder „the first woman apostle“ (King) eingebracht. Das EvMar ist dabei – auch wenn es sicherlich keine Rückschlüsse auf die historische Maria Magdalena zulässt oder Beweise für die führende Rolle von Frauen in den ersten Gemeinden liefert – ein wichtiger Beleg für die Bedeutung Maria Magdalenas in der frühchristlichen Literatur.

Literaturverzeichnis

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