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Essener

Andere Schreibweise: antik: Essäer; engl. Essenes; frz. Esséniens

(erstellt: Oktober 2015)

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Mit den Termini „Essener“ (gr. ʾΕσσηνοί / Essēnoi; lat. Esseni) bzw. „Essäer“ (ʾΕσσαῖοι / Essaioi), bei Epiphanius später noch „Ossäer“ (ʾΟσσαῖοι / Ossaioi), wird in einer Reihe jüdischer, paganer und später christlicher Texte (→ 2.) auf eine religiöse Bewegung innerhalb des antiken Judentums verwiesen. Als eine der drei großen, von Josephus erwähnten ‚Religionsparteien‘ (αἱρέσεις / haireseis) stehen die Essener neben den → Pharisäern und → Sadduzäern, doch sind sie im Unterschied zu diesen weder im NT noch in der Rabbinischen Literatur erwähnt. Nach der mehrheitlichen Sicht der Forschung sind sie mit der in den Textfunden von → Qumran zu erkennenden Gruppe, dem yachad, zu verbinden. Wenn diese Verbindung zutrifft, dann sind die gruppenspezifischen (engl. „Sectarian“) Texte von Qumran als hebräische Originalquellen aus dieser Bewegung zur Bestimmung ihres Selbst- und Weltverständnisses in erster Linie auszuwerten, während die antiken Essenertexte als Sekundärzeugnisse nur eine Außenperspektive repräsentieren. Vor den Qumranfunden hatte die Forschung nur die griechischen und lateinischen Essenertexte zur Verfügung, und auch nach den Funden war die Deutung der Qumranfunde und der Anlage von Chirbet Qumran oft noch lange und unkritisch von den Aussagen von → Josephus und → Philo bestimmt.

1. Die Bezeichnung und ihre Herleitung

Die Bezeichnung Essener (und ihre Varianten) ist in den antiken Zeugnissen nicht als Selbstbezeichnung, sondern nur als Fremdbezeichnung belegt. Wie sich die betreffenden Kreise (hebräisch oder aramäisch) selbst nannten, ist unsicher bzw. allenfalls aus den Qumran-Texten und den dort belegten Selbstbezeichnungen zu konjizieren.

Erklärungen des Namens wurden bereits in der Antike gegeben. Philo (Prob 12) bringt ihn mit griech. ὅσιος / hosios = heilig zusammen. Neuzeitliche Forscher haben eine Ableitung von dem aramäischen status determinatus אסיא (ʼasyāʼ) = Heiler (unter Verweis auf Philos „Therapeuten“) oder von hebr. עשה (ʽaśāh) = tun, nach 1QpHab VII 11 „Täter der Torah“ vorgeschlagen. Weiter wurden Ableitungen von dem Ortsnamen Essa (῎Εσσα / Essa), also „die Leute von Essa“ (= → Gerasa) oder von den von den ἐσσήνες / essēnes genannten Asketen am ephesinischen Artemisheiligtum (→ Artemis) vorgebracht. Plausibler (wenngleich nicht direkt belegt) scheint eine Herleitung von aram. חסיא (chasayyāh) „die Frommen“ bzw. hebr. חסידים (chasîdîm). Damit könnte ein Verbindung angedeutet sein zu den Ἀσιδαῖοι (Asidaioi = „die Frommen“) der Makkabäerzeit (1Makk 2,42; 1Makk 7,13; 2Makk 14,6), obwohl die dort genannte „Versammlung der Frommen“ allenfalls eine Vorläufergruppe des späteren yachad der Qumran-Texte gewesen sein kann.

In dem ebenfalls aus der Zeit vor dem yachad stammenden aramäischen Levi-Dokument (4Q213a 3-4 6) ist wohl die Form חסיה (chasyāh) „die Frommen“ belegt, das hebr. Äquivalent חסיד bzw. die Plural-Form חסידין (chasîdîn) findet sich in Brief aus dem Wadi Murabba‘at (Mur 45 6) als Teil einer Ortsbezeichnung „Festung der Frommen“. Auch wenn der Bezug dieser Briefstelle auf die Ruinen von Qumran und somit der Bezeichnung „Fromme“ auf deren (ehemalige) Bewohner nicht sicherzustellen ist, könnte der Beleg die vorgeschlagene Etymologie stützen, da er belegt, dass man zur Bar-Kochba-Zeit unter den Aufständischen noch von einer Niederlassung von „Frommen“ in der Gegend am → Toten Meer wusste.

2. Die antiken Quellen

2.1. Primär- und Sekundärquellen

Grundlegend wird eine Gruppe so genannter „Essener“ (ʾΕσσαῖοι, ʾΕσσηνοί, Esseni) erwähnt bei:

  • Philo von Alexandrien, Quod omnis liber probus sit 75-91; Apologia pro Iudaeis (bei Euseb, PraepEv VIII 11,1 / 18); De vita contemplativa (wo eine Gruppe von „Therapeuten“ beschrieben wird, für die eine Beziehung zu den zu Beginn der Schrift erwähnten Essenern erwogen wird, über die Philo in einer anderen, verlorenen Schrift De virtutibus gehandelt hat);
  • Plinius der Ältere, Historia naturalis V 73;
  • Flavius Josephus, De bello Iudaico I 78-80; 111-113; 119-161; 566-8; III 9-12; V 142-145; Antiquitates Iudaicae XIII 171-172; XV 371-379; XVIII 18-22; De vita sua 10-12.

In zweiter Linie taucht diese Gruppe in den folgenden Texten auf:

  • Hippolyt, Refutationes IX 18,2 / 28,2; Solinus, Memorabilia XXXV 10-1 und Dio Chrysostomos (nach einer Notiz bei Synesios von Kyrene, Dio 3,2); hinsichtlich dieser Belege wird erörtert, ob sie über Josephus und Plinius hinaus auch zusätzliche unabhängige Informationen bieten (s. Taylor, Sources, 184-188).
  • Martianus Capella, De nuptiis philologiae VI 679 ist eine Kurzfassung von Plinius (Taylor, Sources, 174); Porphyrius (De Abstinentia IV 11 / 13) basiert auf Josephus. Der Häresiologe Epiphanius, Panarion XIX 1,1; 2,3; bietet in seinem Bericht über „Ossaioi“ an der Ostseite des Toten Meeres, die er aufgrund der Herleitung von „Jesse“ = Isai auch noch „Issaioi“ nennt und mit den Elkesaiten verwechselt, wenig Vertrauenswürdiges.

Die primären antiken Zeugnisse sind Josephus (vor allem das große Essenerreferat Bell II 119-161), Philo (Prob und Apol) und Plinius. Daneben erwähnt Josephus mehrfach einzelne Essener und spricht an mehreren Stellen von den drei „Schulen“ / „Religionsparteien“ der Pharisäer, Sadduzäer und Essener.

2.2. Die einzelnen Zeugnisse

2.2.1. Plinius

Plinius erwähnt die Esseni in seiner 77 n. Chr. fertiggestellten Naturgeschichte (V 73) als einen merkwürdigen „Stamm“ (gens) am Westufer des Toten Meeres, der „ohne jede Frau…, ohne Geld, nur in Gemeinschaft von Palmen lebe“ und sich nur durch den Zustrom lebensmüder Beitretender fortpflanze. „infra hos“, d.h. stromabwärts, lägen Engada (= En Gedi) und die Festung Masada. Auf dieser Lokalisierung basiert die kurz nach den Qumran-Funden schon 1948 von Eleasar Lipa Sukenik vorgeschlagene und dann von der Mehrzahl der Forscher übernommene Zuschreibung von der Anlage von Qumran und der dortigen Textfunde an Essener. Freilich ist für Plinius, der Judäa im Frühjahr 70 n. Chr. mit → Vespasian besucht hatte, eine eigene Kenntnis der Gegend am Toten Meer fraglich. Die ethnographische Notiz über den eigenartigen „Stamm“ scheint aus einer Quelle über Kuriositäten zu stammen (Taylor, Sources, 183-184). Weitere Details seiner Notiz tragen daher zum Bild der Essener wenig bei.

2.2.2. Philo

Philo erwähnt die Essener als Beispiel des edlen Charakters der jüdischen Religion dreimal (neben Prob 75-91 und Apol in einer verlorenen Schrift De virtutibus, die er am Anfang von VitCont erwähnt). Unter den Weisen nennt er neben persischen → Magi und indischen Gymnosophisten 4000 ʾΕσσαῖοι / Essaioi in → Palästina, die als wahre ‚Verehrer‘ (θεραπεύται / therapeutai) Gottes wegen ihrer → Heiligkeit so genannt würden, da sie Gott durch Heiligung ihres Sinnes statt durch → Tieropfer verehrten (Prob 75). Er beschreibt ihr einfaches, tugendhaftes Leben mit philosophischen Zügen der Vollkommenheit: Neben den Charakteristika aller Juden kennzeichne sie der Verzicht auf → Sklaven (Prob 79), → allegorische Auslegung der Schriften (Prob 84), Leben in Gemeinschaften (Prob 85), gemeinsame Kleidung und Nahrung (Prob 86) sowie Sorge für Kranke und Alte (Prob 87). Ob man aus dem Bericht die Ablehnung von Opfern und radikalen Pazifismus herauslesen darf, ist fraglich (Taylor, Sources, 175), da es Philo vor allem um die Tugenden dieser Weisen im Unterschied zum Tempelpriestertum und zum geschäftigen Leben geht. Philo dürfte dabei auf Quellen rekurrieren, die er aber stark nach philosophischen Idealen auswertet.

Als Pendant zu den aktiv lebenden Essenern beschreibt er eine kontemplativ lebende Gruppe von ‚Therapeuten‘ am Mareotischen See bei → Alexandrien. Unklar und strittig ist, ob diese Beschreibung eine aus einer Quelle geschöpfte und verfälschte Wiedergabe von Aussagen über die Essener am Toten Meer ist, ob man hinter dieser Gruppe überhaupt einen Zweig der Essener sehen darf oder ob diese eher eine ganz andere Gruppe alexandrinischer Juden darstellen (Taylor, Sources, 177), die Philo den Essenern parallelisiert, ohne dass historische Beziehungen bestünden. Die Beschreibung ist als philosophischer Idealbericht zu würdigen; eine eigene Kenntnis der Essener hatte Philo wohl nicht.

2.2.3. Josephus

Josephus schließlich bietet die detailliertesten Referate. Strittig ist, ob und inwiefern er darin von Quellen abhängig ist oder ob und inwiefern seine Notizen von eigener Kenntnis zeugen. Auch wenn seine Behauptung, alle philosophischen ‚Schulen‘ seiner jüdischen Welt durchlaufen zu haben (Vita 11) unglaubwürdig ist und er die Essener also kaum aus eigener Erfahrung kennt, dürfte er durch seine Rolle im → Jüdischen Krieg Essenern persönlich begegnet sein und einiges über ihre Lebensführung gewusst haben. Insbesondere erwähnt er einen Essener Johannes als Kommandeur in → Galiläa (Bell II 567; III 11). Freilich bietet Josephus wie Philo nur eine Außenperspektive. Die erste Erwähnung von Essenern unter den drei „Religionsparteien“ (αἱρέσεις / haireseis) Pharisäer, Sadduzäer und Essener fällt in die Zeit des → Hasmonäers Jonathan (152-143 v. Chr.). Die Parteien werden in Analogie zu den griechischen philosophischen Schulen der → Stoiker, → Epikuräer und → Pythagoräer beschrieben und in hellenistischen Termini nach ihren Positionen zu Schicksal und Unsterblichkeit charakaterisiert. Das Drei-Schulen-Schema könnte einer Quelle entstammen. Josephus fügt dann die „vierte Philosophie“ der → Zeloten hinzu, die er für den Aufstand verantwortlich macht, während er die anderen Gruppen, vor allem die Essener, als friedfertig und fromm beschreibt. Daneben bietet er Anekdoten über die namentlich genannten „Essäer“ Judas, Simon und Menachem, die in einer eigentümlichen politischen Prophetie (und Kritik an den Hasmonäern) den Tod des Antigonos, das Ende des Aristobulos und das Königtum des Herodes weissagen. In den Referaten Bell II 119-161 und Ant XVIII 18-22 werden Lebensstil und Lehren der Essener detailliert beschrieben. Wenn Josephus in Bell II 119-161) eine Quelle benutzt, was angesichts der Ausführlichkeit des Berichts wahrscheinlich ist, dürfte er diese doch selbst umfassend ausgestaltet haben (Mason, Authorship). In apologetischer Absicht beschreibt Josephus die Essener als ideale Gruppe tugendhafter, friedlicher und frommer Juden (Ant XVIII 20), die mehr als als alle anderen Juden in Bruderliebe verbunden seien (Bell II 119). Josephus erwähnt ihr Gütergemeinschaft, das geregelte Aufnahmeverfahren mit Probezeit und einem heiligen Eid beim Eintritt, die → Arkandisziplin gegenüber Außenstehenden, rigide Strafen bei Vergehen, er erwähnt eine Geringschätzung der → Ehe und die Erziehung fremder Kinder, die besondere Bemühung um die Schriften der Väter, die schärfste Sabbat-Observanz unter allen Juden, Waschungen mit kaltem Wasser, gemeinsame Mahlzeiten in entsprechender → Reinheit und Loyalität zu den Regierenden. Hinzu kommen manche kuriosen Beobachtungen, etwa dass sie sich weiß kleiden, ihre Notdurft am → Sabbat nicht verrichten und sonst mit einer Hacke eine Grube graben und die Exkremente bedecken (Bell II 148), dass sie vor Sonnenaufgang Gebete „an sie“ richten (Bell II 128), Öl meiden (Bell II 127) und nicht nach der rechten Seite ausspucken (Bell II 147).

Der Bericht hat aufgrund seiner vielen Details und auffälliger Entsprechungen zu den Regeltexten aus Qumran (Gütergemeinschaft, Aufnahmeverfahren, Arkandisziplin, Strafen, Sabbatobservanz, Reinheit, Gemeinschaftsmahl) die Diskussion nach dem Verhältnis der Essener zur Qumran-Gemeinschaft bestimmt.

3. Historische Auswertung

Zwischen den Berichten der drei antiken Autoren bestehen freilich deutliche Differenzen hinsichtlich der Bezeichnung (Essener vs. Essäer), der ethnischen Einordnung (Juden nach Josephus und Philo; ein „Stamm“ nach Plinius), ihrer geographischen Verbreitung (Plinius: am Toten Meer; Josephus und Philo: in allen Städten und Dörfern Judäas), aber auch sachlich: Waren sie eine Philosophengruppe (Philo) oder prophetisch-politisch aktiv (so die prophetischen Essäer bei Josephus)? Waren sie todesverachtende → Märtyrer (Josephus, Bell II 152-153) oder eine pazifistische Gemeinschaft (Philo, Prob 48)? Verzichteten sie auf Opfer (Philo, Prob 75), oder schickten sie Weihegaben zum Tempel (Josephus, Ant XVIII 19)? Waren sie ehefeindlich (Philo, Apol 14-17; Plinius) oder heirateten sie unter bestimmten Voraussetzungen (Josephus, Bell II 121)?

Angesichts dieser Differenzen und anderer Indizien hat die Forschung für Philo und Josephus die Benutzung von Quellen vermutet. Zuletzt nahm Bergmeier (Essener-Berichte, 114-116) vier Quellen des Josephus an: Essäer-Anekdoten, eine Drei-Schulen Quelle, eine hellenistisch-jüdische Essäer-Quelle, die auch Philo vorgelegen hatte, und eine über die Qumran-Gemeinde gut informierte pythagoraisierende Quelle für das Referat in Bell II. Freilich ist die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, solche Quellen noch klar zu isolieren, in der neueren Forschung deutlich gewachsen (Mason; Frey), und für Josephus ist mit gewissen Kenntnissen und (wie bei Philo) idealisierenden sowie apologetischen Tendenzen zu rechnen. Spezifische Interessen könnten die Unterschiede zwischen den Berichten z.B. über Ehelosigkeit und Heirat, Pazifismus und Widerstand, politische Prophetie und ein ruhiges Landleben erklären, anderes mag auf Quellenverwendung zurückgehen und auf unterschiedliche Teilgruppen oder Perioden der Bewegung zu beziehen sein. Generell bietet auch das detaillierteste Referat des Josephus mehr über Sitten und Kuriositäten und weniger über den Glauben und die Lehre der Essener, was wohl auf die Arkandisziplin dieser Gruppe zurückzuführen ist (Bell II 142; s. 1QS IV 5-6; IX 16-17; X 24-25). Theologische Aspekte sind bei Josephus in hellenistische Termini gefasst (Unsterblichkeit der Seele; Schicksal), die kaum der Sprache der palästinisch-jüdischen Gruppe entsprechen. Rätselhafte Details wie die Erwähnung von Gebeten vor Sonnenaufgang „zur Sonne“ lassen sich kaum auf pythagoreische Einflüsse hin auswerten, sondern könnten eher ein unpräzises Verständnis der an Sonnenlauf und Kalender orientierten Gebete zeigen. Details der Schriftinterpretation und der → eschatologischen Erwartung oder Fragen von Kalender und Reinheit bleiben unerwähnt.

Während viele Übereinstimmungen zwischen dem Essenerreferat des Josephus und der Gemeinderegel 1QS (z.B. zu Gütergemeinschaft und Mählern) oder auch anderen Regeltexten aus Qumran relativ unspezifisch bleiben, sind es vor allem zwei Details, die einen Bezug der Regel aus 1QS und anderer Regeln des yachad auf gleiche oder verwandte Gruppen nahelegen: das Verbot des Ausspeiens (II 147; vgl. 1QS VII 13) und die Meidung von Öl (Bell II 122), die verständlich ist, wenn Öl → Unreinheit überträgt (4QMMT B 55-58; CD XII 15-17). Es wäre unplausibel, so detaillierte Regeln ganz verschiedenen Kreisen zuzuschreiben. Daher ist (mit VanderKam, Identity 488-490; Taylor, Sources, 193) mit einer Verbindung des yachad mit den „Essenern“ zu rechnen. Freilich muss jede Beschreibung essenischer Sitten und Lehren nach den ‚klassischen‘ Zeugnissen ungenau bleiben, da sie auf einer bloßen Außenperspektive beruht.

4. Die Qumran-Funde und die Essener

Wenn ein Bezug zwischen dem yachad der Qumran-Texte und den Essenern anzunehmen ist bzw. der yachad den Essenern zuzuordnen ist, so ist doch die präzise Beziehung beider fraglich. Während die ältere Forschung die Regeln 1QS, 1QSa, CD und andere gruppenspezifische Texte wie die Hodayot (1QHa) oder den Habakuk-Pescher (1QpHab) auf eine einzige Gemeinschaft bezog (und diese oft noch mit der Ortslage von Qumran verband), ist die neuere Forschung hier wesentlich differenzierter. Die Frage, wie der yachad bzw. die „Qumran-Gemeinde“ zu fassen ist, ist zuletzt deutlich in Bewegung gekommen.

Während D von mehreren Ansiedlungen (genannt „Lagern“) spricht, deren Bewohner verheiratet sind und Kinder haben und auch nach 1QSa Frauen und Kinder zur Gemeinschaft gehören, spricht S ebenfalls von mehreren Gemeinschaften (mit einem Quorum von 10 Männern), aber erwähnt Frauen und Kinder nicht. Zudem differieren die verschiedenen Handschriften von D und S in einzelnen Details, d.h. beide Regeln existierten in verschiedenen Rezensionen, und ältere Formen wurden noch kopiert, nachdem neuere entstanden waren (Metso), und auch zwischen den Regeln von S und D gibt es zahlreiche Differenzen. Schon früh nahmen Forscher an, dass beide Texte für verschiedene Zweige der Bewegung (verheiratete und zölibatäre Essener) gedacht seien oder Entwicklungsstadien der Bewegung repräsentierten, wobei die Abfolge unterschiedlich bestimmt wurde.

Deutlich ist jedenfalls, dass der yachad keine völlig uniforme Organisation war, sondern eher eine ‚Dachorganisation‘ von Gemeinschaften an verschiedenen Orten (Collins, Yahad, 85-86). Die unterschiedlichen ‚Rezensionen‘ der Regeln könnten von diesen Orten nach Qumran gebracht worden sein könnten (Schofield; Collins, Communities). Trotz der Differenzen lassen sich bestimmte Gemeinsamkeiten der Theologie und Weltanschauung festhalten.

Zu bedenken ist weiter, dass nach neuerer archäologischer Einsicht (Magness) die Anlage von Qumran erst nach der Abfassung der wichtigsten Regeltexte (1QS, 1QSa, CD) in Betrieb genommen wurde und diese Regeln noch für eine Pluralität von „Lagern“ (CD) bzw. Orten (1QS) in Judäa verfasst sind, nicht spezifisch für die Ortslage am Toten Meer. Dies entspricht den Angaben von Philo und Josephus, die mit Essenern in vielen Orten Judäas rechnen.

Eine modifizierte Essenerhypothese kann daher den (differenziert und flexibel verstandenen) yachad mit der Bewegung bzw. Religionspartei der Essener zusammenbringen, ohne dass genau zu spezifizieren wäre, ob beide deckungsgleich sind oder der Terminus „Essener“ eine weitere Bewegung bezeichnet. Klar ist jedenfalls, dass diese Bewegung nicht auf die Ortslage von Qumran zu beschränken ist. Das für die Qumran-Texte lange beherrschende (und durch die ältere Deutung der antiken Essenertexte mit beeinflusste) Kloster-Paradigma ist definitiv überholt.

5. Ältere Deutungen der Essenertexte und ihre Nachwirkungen

Vor den Qumran-Funden waren die antiken Essenertexte bereits Gegenstand einer wechselvollen Deutungsgeschichte (Wagner; Frey, Jesus, 12-14). Wesentlich war insbesondere, dass die Texte von Philo und Josephus von der großen Mehrheit der Kirchenväter seit Euseb (h.e. II 16-17) und Hieronymus (vir. ill. 11) auf christliche Asketen gedeutet worden war.

Damit war ein Paradigma entstanden, das mit wenigen Ausnahmen (wie z.B. Photius, cod. 103-104) durch das ganze Mittelalter hindurch Bestand hatte. Kritik regte sich erst bei einigen reformatorischen Theologen, die die ‚Möncherei‘ als späten Rückfall ins jüdische Gesetz verwerfen wollten und die Therapeuten und Essener Philos als jüdische → Asketen deuteten, während ihre Gegner unter Verweis auf die Väter die Christlichkeit der Therapeuten und Essener (und damit auch des Mönchtums) und dabei z.T. auch Jesus und seine → Mutter, → Johannes den Täufer und die → Apostel zu Essenern machten. In der Zeit der Aufklärung wandelte sich das Paradigma, und die Essener erschienen als ein besonders reiner ‚Orden‘, eine Art ‚Ur-Loge‘, in der man eine besonders reine, noch undogmatische Form des Christentums oder auch eine für ägyptische oder persische Weisheit, griechische → Mysterien oder zoroastrisches Denken offene Gruppierung sehen wollte.

Seit Johann Georg Wachter (in seiner Schrift De primordiis Christianae reliigionis, 1713) vermutet hatte, Jesus sei von den Essenern (= ‚Therapeuten‘) instruiert gewesen, wurden immer wieder Verbindungen zwischen Essenismus und Christentum aufgestellt. Ernest Renan wollte das Christentum als eine Spielart des Essenismus ansehen, Jakob Klausner alles Nicht-Pharisäische am → Urchristentum auf essenische Einflüsse zurückführen, und Gelehrte der religionsgeschichtlichen Schule deuteten (unter dem Einfluss von Josephus) den Essenismus als besonder stark von nichtjüdischen (pythagoreischen, persischen) Einflüssen geprägt.

Diese Deutungen wurden z.T. aufgenommen, als ab 1948 die Qumran-Texte und die Anlage von Qumran mit Essenern verbunden wurden, so dass die alten Traditionen der Essenerdeutung ‚vor Qumran‘ auch auf die Deutung der Textfunde Einfluss genommen haben. Das ‚Kloster-Paradigma‘ deutete Qumran, seine Anlage und seine Regeln nach dem anachronistischen Vorbild christlichen Mönchtums; immer wieder wurde versucht (so in populären Veröffentlichungen), Johannes den Täufer oder auch Jesus und → Paulus von Qumran her beeinflusst zu sehen; vor allem aber wollte man in der Anfangszeit der Qumran-Forschung (so etwa K.G. Kuhn) annehmen, dass durch das qumranische Milieu ‚unjüdische‘ Traditionen (z.B. des → Dualismus) aus dem Persischen in das frühe Christentum eingeflossen seien, der Essenismus also die Distanz des Urchristentums vom (klassisch-rabbinischen) Judentum erkläre.

Alle diese Spekulationen sind obsolet, wenn man das Selbstverständnis des yachad aus den Qumran-Texten erhebt und diese Bewegung als eine dezidiert jüdisch-traditionsorientierte, priesterlich dominierte Bewegung ansieht, deren strenge → Halacha in Reinheits- oder Sabbatfragen in einem denkbar großen Kontrast zu Jesus und dem Urchristentum gestanden haben dürfte. Jedenfalls ist auch das Verhältnis des Essenismus zum Urchristentum anhand der gruppenspezifischen Qumran-Texte zu erheben, nicht anhand der antiken Essenerzeugnisse.

Literaturverzeichnis

1. Quellensammlungen

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2. Lexikonartikel

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  • Wagner, S., 1960, Die Essener in der wissenschaftlichen Diskussion vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin

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