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Erkennen / Erkenntnis (AT)

(erstellt: März 2007)

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1. Allgemeines

Im Hebräischen wird das Erkennen durch die Wurzel ידע jd‛ zum Ausdruck gebracht, die im gesamten semitischen Sprachraum vorkommt. Im Alten Testament finden sich dafür 1068 Belege, hinzu kommen 51 aramäische Belege und 42 Belege im Sirachbuch. Statistisch gesehen gehört damit die Wurzel jd‛ zu den am häufigsten verwendeten hebräischen Vokabeln. Ihre Bedeutung lässt sich in die beiden Grundaspekte „erkennen“ und „wissen“ auseinanderlegen, ohne dass beide immer säuberlich voneinander zu trennen wären. Danach bezeichnet die hebräische Wurzel zum einen den prozessualen Erkenntnisvorgang und zum anderen sein resultatives Ziel.

1.1. Erkennen als prozessualer Vorgang

Der Weg, um zu einer Erkenntnis zu gelangen, lässt sich als ein äußerer und als ein innerer Erkenntnisakt beschreiben. Der äußere Erkenntnisakt nimmt seinen Ausgangspunkt bei einer sinnlichen Wahrnehmung, die spontan oder beabsichtigt sein kann. Dem Erkennen geht darum häufig ein Sehen (Dtn 4,35) oder ein Hören (Jer 6,18) voraus, gegebenenfalls kann die Wahrnehmung auch durch Mitteilung anderer vermittelt sein. Über das wahrnehmende Erkennen hinaus lässt sich der Erwerb von Wissen als ein durch Nachdenken vollzogener innerer Vorgang und damit als eine Verstandestätigkeit a priori fassen. In beiden Fällen ist das Herz das Erkenntnisorgan, das zum Verstehen bestimmt ist (Dtn 9,2). Dabei lässt sich die Redewendung „in seinem Herzen sprechen“ (Gen 17,17 u. ö.) oder „sein Herz auf etwas richten“ (1Sam 9,20) geradezu mit „überlegen / nachdenken“ übersetzen und das Herz entsprechend als Sitz des Verstands betrachten. Gegenüber dem deutschen Wort „Herz“ besitzt also das hebräische Wort לב lev ein viel breiteres Bedeutungsspektrum. Es umfasst neben dem Sitz der Gemütsregung und des Willens auch alle Funktionen, die wir für gewöhnlich dem Kopf und Gehirn zuschreiben: Erkenntnisvermögen, Vernunft, Verstehen, Einsicht, Bewusstsein, Gedächtnis, Wissen, Nachdenken, Urteilen, Orientierung, Verstand (Wolff, 84). Die Übergänge von der Verstandestätigkeit zu den Funktionen des Willens sind denn auch fließend, so dass sich das Erkennen im Alten Testament nie als ein rein intellektueller Vorgang fassen lässt. Vielmehr bleibt der Erkenntnisakt mit dem Wollen des Herzens verbunden und auf eine praktische Lebensführung ausgerichtet.

1.2. Erkenntnis als resultatives Ziel

Das Ziel, das durch den Erkenntnisakt verfolgt wird, besteht in der Gewinnung konkreter Erkenntnisse bzw. in der Aneignung von Wissen. Im Hebräischen wird auch dieser zweite Grundaspekt durch dieselbe Wurzel jd‛ bezeichnet. Das Fehlen einer sprachlichen Differenzierung zwischen dem Vorgang „erkennen“ und seinem Ergebnis „wissen / verstehen“ verdeutlicht nochmals ihren engen sachlichen Zusammenhang.

In weiten Teilen des Alten Testaments wird das Erreichen des Ziels als möglich und damit die Erkennbarkeit des jeweiligen Erkenntnisgegenstands als gegeben vorausgesetzt. Ob es freilich zu einer Erkenntnis kommt, hängt nicht nur an den sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, sondern auch an seinem Willen. Darum kann ein Nicht-Erkennen von Fall zu Fall als ein Nicht-Erkennen-Wollen und damit als eine Schuld des Menschen in den Blick rücken (Reiss, 75-88). In der deuteronomistischen Theologie findet dies ihren charakteristischen Ausdruck im Nicht-Hören-Wollen des Volkes Israel (1Sam 8,19).

Im Alten Testament wird freilich auch gesehen, dass Gott am Zustandekommen oder Nicht-Zustandekommen von Erkenntnis beteiligt ist. Im negativen Fall bewirkt Gott eine Verhärtung des Herzens (Ex 7,3; Jes 6,10), im positiven Fall handelt Gott – gemäß den beiden Erkenntnisakten – durch äußere Offenbarung (Jer 11,18) oder durch innere Eingebung, wofür dann die von Gott ausgesagte Redewendung „in jemandes Herz geben“ stehen kann (Ex 31,6). Dadurch erweist sich das Herz nicht nur als Schnittstelle menschlicher Erkenntnisbemühung und göttlicher Erkenntnisvermittlung, sondern auch als ihr Speicherort (Dan 7,28; Lk 2,19). Die Selbstverständlichkeit, mit der die menschliche Erkenntnisfähigkeit grundsätzlich vorausgesetzt wird, teilen jedoch nicht alle Schriften des Alten Testaments. Besonders beim → Prediger Salomo / Kohelet und im → Buch Hiob, also in der späten → Weisheit, werden die Quellen und Grenzen der Erkenntnis problematisiert und damit das menschliche Erkennen selbst reflektiert (siehe unter 2.1.)

1.3. Verbale Bedeutungsaspekte

1. ידע Qal. Das hebräische Verb ידע jāda‛ begegnet in allen Stammesmodifikationen. Die meisten Belege entfallen auf den Grundstamm, wobei sich folgende Bedeutungen unterscheiden lassen: (1) Je nachdem, ob jāda‛ den Erkenntnisvorgang oder den Wissensgewinn zum Ausdruck bringt, steht es mit den Verben בקשׁ biqqeš „suchen“, בחן bāchan „prüfen“, תור tûr „erforschen“ oder mit מצא māṣā’ „finden“ und בין bîn „verstehen“ zusammen. (2) Über den kognitiven Bereich hinaus kann jāda‛ den durch praktische Erfahrung erworbenen Sachverstand in den Blick nehmen und entsprechend das Sachkundig-Sein eines Kunsthandwerkers, Musikers, Jägers oder Seemanns aussagen (2Chr 2,6; 1Sam 16,16; Gen 25,27; 1Kön 9,27). (3) Neben diesem technischen Bescheidwissen über etwas steht jāda‛ zum Ausdruck eines persönlichen, emotionalen und vertraulichen Kennen-Lernens von Menschen. (4) Sexuellen Sprachgebrauch belegt Gen 4,1: „Adam erkannte Eva, seine Frau“. Danach bezeichnet jāda‛ die geschlechtliche Liebe von Mann und Frau, kann aber auch einen homosexuellen Umgang benennen (Gen 19,5). (5) In Verbindung mit dem Erkennen von Gut und Böse wird schließlich der Bereich sittlicher Lebensgestaltung angesprochen (siehe unter 2.3.).

2. ידע Hifil. Im Kausativstamm bedeutet jāda‛ „in Kenntnis setzen“, womit die Belehrung der Söhne durch die Väter ausgesagt werden kann (Dtn 4,9; Jos 4,22). Ist Gott das Subjekt, vollzieht sich die Wissensvermittlung im Sinne einer Offenbarung. Dabei dient das Verb sowohl zur Kundgabe göttlicher Weisung (Ez 20,11) als auch (zusammen mit dem Nifal) zum Ausdruck göttlicher Selbstoffenbarung, vornehmlich in hymnischen Aussagen (Ps 9,17; Ps 48,4; u. ö.).

1.4. Nominale Bedeutungsaspekte

Den resultativen Grundaspekt des Verbs vertritt die wichtigste, dem Infinitiv constructus im Grundstamm entsprechende Nominalbildung דעת da‛at „Erkenntnis / Wissen“. Das Alte Testament zählt 90 Belege, hinzu kommen 4 aramäische Belege und 9 Belege im Sirachbuch. Wie schon die verbalen Bedeutungsaspekte erkennen ließen, bedeutet Wissen mehr als eine rein intellektuelle Erkenntnis. Es teilt sich nicht allein durch den Verstand mit, sondern auch durch Lebenserfahrung. In der älteren Weisheit stehen darum חכמה chåkhmāh „Weisheit“ und דעת da‛at „Wissen“ gerne in einem Parallelismus membrorum (Spr 24,3-4; → Poesie). Ihre Zusammengehörigkeit lässt sich auch noch im alt- und mittelhochdeutschen wîsheit vernehmen (Lux, 16f.). Entsprechend verbindet das hebräische Wortpaar die Einsicht des Menschen in die Gegebenheiten des Lebens mit der Fähigkeit zu seiner Bewältigung und wird gegen Torheit und Unerfahrenheit abgesetzt (Spr 14,18). In der jüngeren Weisheit rücken schließlich Gottesfurcht und Erkenntnis zusammen und erweisen die Frömmigkeit als eine vorzügliche Quelle verständiger Lebensführung (Spr 2,6).

Unter den nominalen Derivaten verdient noch das mit der Endung -ôn gebildete ידעני jiddə‛onî „Wissender“ einen besonderen Hinweis. Denn im Alten Testament erscheinen sämtliche Belege (einschließlich Lev 20,27) als terminus technicus für einen sachkundigen, d.h. professionellen Totenbeschwörer oder eine Totenbeschwörerin, die sich auf die Kontaktaufnahme mit einem Totengeist versteht. Findet man durch die Nominalbildung nicht nur das Berufswissen, sondern auch die persönliche Fähigkeit bezeichnet, darf man die Übersetzung mit „Medium“ für sachgemäß ansehen (1Sam 28,9; Jes 8,19).

2. Das Erkenntnisproblem in der Weisheit

Als Quellen der Erkenntnis gelten im Alten Testament allgemein (1) die Erfahrung, (2) die Tradition und (3) die Offenbarung. Dabei schöpft die Weisheit vor allem aus den Bereichen der Erfahrung und der Tradition, die insofern eng zusammengehören, als sich das überkommene Wissen als ein über Generationen verdichteter Schatz von Erfahrungen darstellt. Dagegen spielt die unmittelbare Offenbarung kaum eine Rolle. Und sie muss es auch nicht, weil die menschliche Erkenntnisfähigkeit in der biblischen Weisheit allgemein vorausgesetzt wird. Freilich lässt sich in der jüngeren Weisheit die Tendenz beobachten, dass das Gelingen von Erkenntnis stärker an die Gottesbeziehung gebunden und damit als ein Zusammenspiel von menschlichem Suchen und göttlichem Geben verstanden wird: „Die Jahwefurcht ist Anfang der Erkenntnis.“ (Spr 1,7; Spr 9,10). Unter dieser Devise vertreten die Lehrreden in Spr 1-9 denn auch einen theologisch begründeten Erkenntnisoptimismus. Die Eindringlichkeit jedoch, mit der sie diese Möglichkeit immer wieder ins Gespräch bringen, lässt sich bereits als eine Problemanzeige deuten (Schellenberg, 217-225). Vor diesem Hintergrund wird die Erkenntnisfrage mehr und mehr virulent und führt dazu, dass das menschliche Erkennen selbst zum Thema erhoben und reflektiert wird. Die Frage, ob man diese Entwicklung als eine „Krise der Weisheit“ ansprechen soll, wird in der jüngeren Forschung eher verneint (Krüger, 44-47).

2.1. Der Prediger Salomo

Die Eigenart, mit der sich → Kohelet (3. Jh. v. Chr.) auf die Suche nach Erkenntnis begibt, lässt sich bereits an seiner Lehreröffnungsformel ablesen: „Ich sah … unter der Sonne“ (Pred 3,16; Pred 4,1; Pred 4,7 u. ö.). (1) Mit dem „Ich“, das hier redet, tritt erstmals im Alten Testament das Subjekt des Erkennens in den Gesichtskreis der Weisheit und übernimmt Verantwortung für die kritische Prüfung eines Sachverhalts. (2) Das Verb ראה rā’āh „sehen“, das hier soviel wie „beobachten / betrachten“ bedeutet, bringt die eigene Erfahrung oder das eigene Nachdenken gegenüber der Tradition ins Spiel und thematisiert dadurch den Erkenntnisvorgang selbst. (3) Durch die Formel „unter der Sonne“ wird schließlich der Bereich der Erkenntnis auf die vorfindliche und damit empirisch erforschbare Welt beschränkt. Typisch sind denn auch die Grenzfälle des Lebens, die der Prediger Salomo unter der Sonne beobachtet und gegen die allgemeingültigen Erfahrungsregeln der Tradition ins Feld führt (Pred 7,15; Pred 8,14). Der Vorrang der Weisheit wird dadurch nicht aufgehoben, aber ihr positiver Wert relativiert und ihr Leistungsvermögen gegenüber einem überhöhten Anspruch der jüngeren Weisheit begrenzt. Dafür lassen sich vor allem die „Besser als“-Sprüche anführen, die zwei mehr oder weniger wünschenswerte Verhaltensweisen gegeneinander abwägen: „Besser, dass du nicht gelobst, als dass du gelobst und nicht erfüllst.“ (Pred 5,4). Kohelet verwendet und kommentiert sie in seiner Schuldiskussion, indem er ihre traditionellen Wertungen durch eigene Erwägungen begründet, relativiert oder korrigiert (Pred 7,1-12).

Möchte man beim Prediger Salomo von einer empirischen Wende der biblischen Weisheit sprechen (Müllner, 149), lassen sich bei ihm die Grenzen der Erkenntnis durch die der menschlichen Erfahrung entzogene Zeit, durch den Tod und durch das Tun Gottes bestimmen. Dem Menschen bleiben das Vergangene (Pred 1,10), das Zukünftige (Pred 7,14; Pred 8,7; Pred 11,2.6) und die Stunde seines Todes (Pred 9,12) verborgen. Ebenso wenig vermag er das Tun Gottes (Pred 8,17), den Weg des Odems (Pred 3,21; Pred 11,5) und selbst das göttliche Wählen und Verwerfen (Pred 9,1) zu ergründen. Am Beispiel der bekannten Lehrdichtung über die qualifizierten Zeiten (Pred 3,1-9) lässt sich das Erkenntnisproblem mit Blick auf ihre Summe in Pred 3,11 nochmals verdeutlichen: (1) Gott setzt für jede Tätigkeit und ihr Gegenteil eine bestimmte Zeit: „Alles macht Gott passend zu seiner Zeit.“ (2) Der Mensch findet sich in diesem Gefüge positiv und negativ qualifizierter Zeiten vor und es ist ihm aufgegeben, sich darin zu bewegen: „Auch die Mühe hat er ihnen ins Herz gegeben.“ (im hebräischen Text ist עמל ‛āmāl „Mühe“ anstelle von עלם ‛olām „Ewigkeit“ zu lesen. Zur Begründung der Metathese vgl. Fischer, 233-237). (3) Die ganze Not des Menschen besteht darin, dass er zu handeln gezwungen ist, aber die günstigen Zeiten nicht zu erkennen vermag, über die Gott in seiner Gesamtheit schon längst entschieden hat: „Nur dass der Mensch das göttliche Handeln von Anfang bis Ende nicht herausfinden kann.“ Durch diese Einschränkung menschlichen Erkenntnisvermögens und zumal durch seine Kurzsichtigkeit, den Lauf der Welt zu überschauen, wird denn auch seine Lebensgestaltung mit vielen Unsicherheitsfaktoren belastet. Dabei muss man freilich sehen, dass Kohelet zwar die Erkenntnis göttlichen Waltens insgesamt verneint, aber die Möglichkeit einer partiellen Einsicht in die Wirklichkeit nicht bestreitet. Es wäre darum verfehlt, Kohelet als einen erkenntnistheoretischen Skeptiker zu bezeichnen, zumal die in der pyrrhonischen Skepsis beheimatete Abwertung der Sinneswahrnehmungen bei ihm keinerlei Rolle spielt. Mithin betreibt er keine grundsätzliche Erkenntniskritik, sondern beschränkt lediglich die Erkennbarkeit auf die dem Menschen zugänglichen Bereiche.

2.2. Das Buch Hiob

Das Erkenntnisproblem entzündet sich im Hiobbuch am → Tun-Ergehen-Zusammenhang, der in der biblischen Weisheit als allgemeingültig angesehen wird. Er besagt, dass es einem Menschen, der rechtschaffen handelt, in seinem Leben auch wohl ergehen wird. Diese durch die Tradition vermittelte Erkenntnis liegt freilich quer zur Erfahrung Hiobs, der ins Leiden gekommen ist, obwohl er sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. Im Gespräch zwischen Hiob und seinen drei Freunden stehen denn auch die für den Tun-Ergehen-Zusammenhang in Anspruch genommenen Erkenntnisquellen zur Debatte. Für die Tradition wird dabei die Fülle der in sie eingegangenen Erkenntnisse angeführt, deren Reichweite dem Erkenntnishorizont eines Einzelnen überlegen sei (Hi 8,18-19). Die Konsequenz freilich, dass man nach dem durch sie vermittelten Tun-Ergehen-Zusammenhang aus dem Leiden Hiobs auf ein früheres Fehlverhalten schließen müsse, das von ihm (noch) nicht bemerkt oder erkannt worden sei, hält wiederum der Erfahrung nicht stand (Hi 9,21-22). Denn auch das Glück des Frevlers, von dem der Volksmund zu erzählen weiß (Hi 21,29), relativiert bzw. widerspricht dem, was die Tradition zu erkennen gibt. Diese unterschiedlichen Gewichtungen der Erkenntnisquellen sind allerdings nur graduell und führen zu keiner Lösung des Hiobproblems.

In der Diskussion wird darum auch und verschiedentlich die Erkennbarkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs angefragt, wobei sich jedoch rhetorische Strategie und Erkenntnisreflexion mischen (Hi 11,7-8; Hi 15,7-8; Hi 36,25-26). Deutlicher treten die Grenzen des Erkennens in Hi 28 und Hi 38-41 hervor: In den Gottesreden Hi 38-41 führt Jahwe dem Hiob mit einer Reihe rhetorischer Fragen seine umfassende Unwissenheit vor Augen: „Hast du die Breiten der Erde ermessen, sag es, wenn du das alles weißt!“ (Hi 38,18). Die menschliche Erkenntnisfähigkeit steht folglich weit hinter den Ordnungen Gottes zurück. Ein Wissen um den Schöpfungszusammenhang ist dem Menschen grundsätzlich nicht möglich (Hi 42,3). Dieselbe Erkenntnisgrenze markiert auch das Lied über die Weisheit in Hi 28, das dem Hiobbuch eingefügt ist. Obwohl es erstaunliches Wissen und technischen Sachverstand des Menschen als homo faber anklingen lässt, bleibt ihm dennoch die in Gott verborgene Weisheit unzugänglich und damit umfassende Erkenntnis verschlossen (van Oorschot, 187-191).

2.3. Die Paradieserzählung

Noch einmal von anderer Seite wird die Erkenntnisfrage in der biblischen Urgeschichte im zweiten Schöpfungsbericht beleuchtet (→ Paradieserzählung). Es geht um den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von dem zu essen dem Menschen verboten war (Gen 2,16-17). Wenn hier die herkömmlich dem → Jahwisten zugerechnete Paradieserzählung in den weisheitlichen Diskurs einbezogen wird, hat dies durchaus seine Berechtigung; denn die jüngere Forschung beurteilt sie als eine frühnachexilisch entstandene und weisheitlich bearbeitete Lehrerzählung (Witte, 192-205). Ihre Auslegung wird freilich dadurch kompliziert, dass das traditionsgeschichtlich ältere Motiv vom Lebensbaum sekundär in die Erzählung eingefügt wurde (Gen 2,9bα; Gen 3,22.24) und dadurch den ursprünglich allein in der Gartenmitte stehenden Erkenntnisbaum ans Versende von Gen 2,9 drängte. Welchen Erkenntnisgewinn das Essen von seinen Früchten bringt, hängt entscheidend an der Deutung der Wendung „Erkennen von Gut und Böse“ (Gen 2,9.17; ferner Gen 3,5.22). Dass es sich um eine intellektuelle Fähigkeit handelt, lässt sich mindestens aus 1Kön 3,9 entnehmen, der Bitte Salomos um ein „verständiges Herz“, das ihm zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ermöglichen soll. Diese Fähigkeit zur sittlichen Urteilsbildung wird an anderen Stellen mit der in der Adoleszenz erreichten geistigen Reife verbunden (vgl. Dtn 1,39; 2Sam 14,17; Jes 7,15), so dass sich das Paradies als ein Garten des menschlichen Erwachsenwerdens verstehen lässt. Auch wenn die Erzählung keinen Zweifel duldet, dass die Menschen erst durch Gebotsübertretung zur Erkenntnis von Gut und Böse gelangen, setzt dieser Akt die Freiheit zur Entscheidung bereits voraus. Zieht man die Linie weiter bis zur Sintflutgeschichte, lässt sich der Beitrag der Paradiesgeschichte zum Erkenntnisthema bestimmen: Der Mensch besitzt zwar die volle Erkenntnisfähigkeit im sittlichen Bereich und ist in dieser Hinsicht „gottgleich“ (Gen 3,22). Aber die Aktualisierung seiner Freiheit führt ihn nicht zum Tun des Guten, sondern lässt ihn in seinem Herzen auf Böses sinnen (Gen 6,5). Dadurch wird ein Grundproblem menschlichen Daseins in den Diskurs einbezogen: Ethisches Erkenntnisvermögen und praktischer Erkenntnisvollzug klaffen auseinander und entfernen den Menschen von Gott. Die Vertreibung aus dem Paradies (noch ohne Bezug zum Lebensbaum) lässt sich als narrative Umsetzung dieser Entwicklung auslegen.

Alternativen zur Deutung auf die sittliche Entscheidungskompetenz des Menschen sind: (1) Die sexuelle Deutung, die das Wissen um Gut und Böse auf das Entdecken von Freud und Leid der Liebe bezieht. (2) Die funktionale Deutung, die das Erkennen von Gut und Böse mit der freien Entscheidung darüber gleichsetzt, was dem Leben förderlich oder was ihm schädlich ist. (3) Die universale Deutung, die Gut und Böse als einen Merismus auslegt und dadurch die Erkenntnis als umfassendes göttliches Wissen bestimmt.

2.4. Jesus Sirach

Etwa 1-2 Generationen nach Kohelet wirkt der Weisheitslehrer Jesus Sirach / Ben Sira (Anfang 2. Jh. v. Chr.). Einflüsse des Hellenismus, die das Erkenntnisthema berühren, lassen sich bei ihm nachweisen: Er kennt das Reisen in fremde Länder als eine die Erfahrung bereichernde Erkenntnisquelle (Sir 39,4-5) und schätzt das Wissen des Arztes, dessen Hilfe er dem Kranken neben dem Gebet empfiehlt (Sir 38,1-14). Im Vergleich mit Kohelet ist seine Lehre noch breiter auf Erziehung und Bildung junger Erwachsener ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund mag sich erklären, dass Jesus Sirach die menschliche Erkenntnisfähigkeit wieder optimistischer beurteilt. Das bedeutet freilich nicht, dass er hinter die oben skizzierte Erkenntnisreflexion der späten Weisheit zurückgeht. Vielmehr entwickelt er eine schöpfungstheologische Grundlage, die es ihm weiterführend erlaubt, die Komplexität des Erkenntnisthemas auszubalancieren und eigene Akzente zu setzen:

(1) Gott hat den Menschen als Subjekt des Erkennens geschaffen: „Er bildete Zunge, Augen und Ohren und gab ihnen ein Herz, um zu verstehen. Mit Verstand und Erkenntnis erfüllte er sie und zeigte ihnen Gutes und Böses.“ (Sir 17,6-7 [Lutherbibel: Sir 17,5-6]). Danach besitzt jeder Mensch durch seine Geschöpflichkeit ein Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse und ist verantwortlich für seine Erkenntnisbemühung. Ob sie zum Erfolg führt, bleibt dennoch an Gott als den Erkenntnisgeber gebunden, von dem alle Weisheit ausgeht (Sir 1,1; Sir 23,20; Sir 39,6 [Lutherbibel: Sir 23,29; Sir 39,8]).

(2) Grundsätzlich ist der Mensch auch in der Lage, die Schöpfungswerke in der Natur zu erkennen, weil Gott sie nach ihren Zwecken in Harmonie und Schönheit geschaffen hat (Sir 42,15-25), eine Vorstellung, die Jesus Sirach mit der stoischen Philosophie teilt (Wicke-Reuter, 30-31). Allerdings vermag der Mensch nur einen Bruchteil davon mit seinem Verstand zu erfassen, so dass auch diese Spuren göttlicher Ordnung und vorausschauender Leitung zu der einen umfassenden Weisheit führen, die hinter allen Dingen verborgen und unergründlich waltet.

(3) Bleibt dadurch der Abstand von Schöpfer und Geschöpf gewahrt und dem Menschen universale Erkenntnis entzogen, wird dieser Mangel hinreichend durch den im Gesetz offenbarten Gotteswillen kompensiert: „Begehrst du Weisheit, halte die Gebote, dann wird sie dir der Herr geben.“ (Sir 1,26 [Lutherbibel: Sir 1,32]; vgl. Sir 17,11; Sir 19,20; Sir 24,23-34 [Lutherbibel: Sir 17,9; Sir 19,18; Sir 24,32-47]). Damit gewinnt Jesus Sirach einen weiteren Erkenntnisgrund: Er empfiehlt die Tora resp. die sich bildende kanonische Form der hebräischen Bibel (vgl. die Vorrede zum Sirachbuch) als eine vierte und wesentliche Erkenntnisquelle neben der Erfahrung, Tradition und Offenbarung und setzt sie zur Weisheit positiv ins Verhältnis. Der grundsätzlich allen Menschen offen stehende Zugang zur Erkenntnis wird durch die Tora vollends erschlossen. Damit findet die Weisheit ihren gültigen Ausdruck im Gesetz und ihren besonderen Ort in Israel, wie sie selbst bezeugt: „In der Stadt, die der Herr gleicherweise liebt, ließ er mich ruhen / und Jerusalem wurde mein Machtbereich.“ (Sir 24,11 [Lutherbibel: Sir 24,15]).

3. Der Erkenntnishorizont in der Apokalyptik

Während Jesus Sirach Gesetz und Weisheit zusammenführt, beschreitet die jüdische → Apokalyptik einen anderen Weg. Das Gesetz ist zwar Israel gegeben, aber die Weisheit wird dadurch nicht erreicht: „Als die Weisheit kam, um unter den Menschen Wohnung zu nehmen, und keine Wohnung fand, kehrte die Weisheit an ihren Ort zurück und nahm unter den Engeln ihren Sitz.“ (äthHen 42,2). Konsequenterweise gibt es zu der himmlisch verborgenen Weisheit nur einen einzigen Zugang, nämlich den über eine besondere Offenbarung (Traum, Vision), die durch apokalyptische Offenbarungsmittler kundgetan wird. Dadurch erfährt die Offenbarung eine außerordentliche Aufwertung als Erkenntnisquelle. Hinter sie treten Tradition und Erfahrung vollends zurück. Dieser Sachverhalt und damit das Auseinandertreten von Gesetz und Weisheit lässt sich auch in der Kanonfrage fassen. So erzählt das vierte Esrabuch von der Wiederherstellung der Heiligen Schriften nach ihrer Verbrennung (→ Esra-Schriften, außerbiblische). In 40 Tagen lässt der biblische Esra 94 Bücher aufschreiben: 24 sind zur öffentlichen Verlesung bestimmt, das sind die „kanonischen“ Schriften der hebräischen → Bibel, die übrigen 70 Bücher bleiben als apokalyptische Geheimschriften den Weisen vorbehalten (4Esr 14,44-47). Damit verfügen die Apokalyptiker über ein exklusives Offenbarungswissen. Die Erkenntnisgrenzen der späten Weisheit, die sich an der erfahrbaren Welt orientieren, werden übersprungen und der Erkenntnishorizont über Natur und Geschichte hinaus auf den kosmischen Raum und die bevorstehende Endzeit ausgedehnt.

Entsprechend lassen sich zwei Arten von Apokalypsen unterscheiden: Jenseits- oder Himmelsreisen, die Auskunft über die Topographie der sichtbaren und unsichtbaren Welt geben, und Geschichtsapokalypsen, die das Geschehen in der Endzeit erschließen. Auch hier konzentriert sich das apokalyptische Wissen nicht primär auf die empirische Geschichte als eines historischen Geschehens, sondern auf die Metahistorie, die den dahinter verborgenen Geschichtsplan Gottes enthüllt (Haag, 134f.).

Die einzige apokalyptische Schrift, die in den hebräischen Kanon gelangte, ist das → Danielbuch. In seinem ersten Teil Dan 1-6 wird das Offenbarungswissen durch Träume vermittelt, die notwendig einer Deutung bedürfen. Dabei lässt sich das Verb jāda‛ im Haf‛el geradezu mit „deuten / erklären“ übersetzen (Dan 2,9; Dan 4,3; u.ö.). Allein Daniel erweist sich zur Traumdeutung durch Gott befähigt (Dan 2,19-23). Im zweiten Teil Dan 7-12 folgen Visionen, die vom Menschensohn, dem Weltgericht, den Jahrwochen und den Ereignissen der Endzeit handeln. Als Offenbarungsmittler tritt hier wie auch sonst in der apokalyptischen Literatur ein „Deuteengel“ (lat. angelus interpres) auf den Plan, der die Visionen erklärt und zugleich ihre Auslegung himmlisch autorisiert (Dan 7,16; Dan 8,19).

4. Die Gotteserkenntnis im Alten Testament

An den zahlreichen Stellen im Alten Testament, an denen Gott das Objekt der Erkenntnis bildet, überwiegt der verbale Sprachgebrauch „Gott / Jahwe erkennen“. Wie nicht anders zu erwarten, bedeutet Gotteserkenntnis im biblischen Kontext mehr als den Erwerb eines intellektuellen Wissens um Gott. Erkenntnisziel ist auch und besonders ein angemessenes Gottesverhältnis sowie eine an ihm orientierte Lebenspraxis. Darum können zum Ausdruck des Erkenntnisvorgangs weitere Verben hinzutreten wie דרשׁ dāraš „(Gott) suchen“, ירא jāre’ „fürchten“, האמין hæ’ämîn „vertrauen“ und עבד ‛ābad „dienen“. Da der Gott Israels nicht an und für sich, sondern vielmehr in seinem Wirken an oder für jemanden erkannt wird, gewinnt die Gotteserkenntnis stets auch eine existentielle Dimension. Darum wird sie häufig mit der Forderung an das Volk Israel verknüpft, Jahwe als ihren Gott anzuerkennen. Trotzdem bleibt die Möglichkeit der Gotteserkenntnis nicht allein Israel vorbehalten, sondern steht auch den fremden Völkern offen (Jes 45,6).

4.1. Das Buch Hosea

Folgt man der neueren Prophetenforschung, die für die Entstehung der Prophetenbücher jeweils einen längeren und komplexen Redaktions- und Fortschreibungsvorgang annehmen, lässt sich die Diskussion um die Gotteserkenntnis am Hoseabuch exemplarisch darstellen. Danach lassen sich vier Phasen der Reflexion und Identitätsbestimmung Jahwes nachzeichnen: (1) Erkenntnis Gottes in der Außen- und Innenpolitik Israels, (2) im israelitischen Kult, (3) in der Geschichte des Gottesvolkes und (4) im fertigen Prophetenbuch (Kratz, 3-18).

Die erste Phase gehört in die Zeit der assyrischen Bedrohung (8. Jh. v. Chr.), in der Israel versucht, sich durch politische Bündnisse gegen die Assyrer abzusichern: „Ephraim (= Israel) ist wie eine Taube, / leicht zu betören, ohne Verstand. Ägypten riefen sie / nach Assur liefen sie.“ (Hos 7,11). Grund für das vergebliche Sicherungsbemühen ist eine verfehlte Gotteserkenntnis, weil Israel nicht begreift, dass Jahwe selbst im Gericht handelt und die → Assyrer gegen Israel anstürmen lässt.

In der zweiten Phase reflektiert das Hoseabuch, dass Jahwe im israelitischen Kult noch immer unter seiner → Baal-Erscheinung verehrt wird: „Lasst uns streben nach Erkenntnis, / nach der Erkenntnis Jahwes. Er kommt so sicher wie das Morgenrot; / er kommt zu uns wie der Regen, / wie der Frühjahrsregen, der die Erde tränkt.“ (Hos 6,3). Auch hierbei handelt es sich um eine verfehlte Gotteserkenntnis, weil Jahwe anders als über die Fruchtbarkeit mit seinem Volk verbunden ist. Gotteserkenntnis bedeutet danach, dass sich Israel von dem im staatlichen Kult heimisch gewordenen Gottesbild ablöst und sich dem Jahwe zuwendet, der nicht nur als der ersehnte rettende, sondern auch als der fremde strafende Gott handelt und dadurch sein Verständnis als Reichs- und Dynastiegott transzendiert. In der Gotteserkenntnis wird nunmehr zwischen Jahwe und Baal differenziert und durch ihr Auseinandertreten ein neues Gottesverständnis gewonnen.

Die Neuentdeckung Jahwes führt in der dritten Phase, die bereits auf den Untergang der Staaten Israel und Juda zurückschaut, zu einem Wiedererkennen und Identifizieren Jahwes in seinem geschichtlichen Handeln: „Ich bin Jahwe, dein Gott, / vom Lande Ägypten her. Ich lasse dich nochmals in Zelten wohnen / wie in den Tagen der (ersten) Begegnung.“ (Hos 12,10). Damit wird das Exodusgeschehen in der Vorzeit Israels als das erste und konstitutive Handeln Jahwes an seinem Volk erinnert und als eine Quelle der Gotteserkenntnis in die Diskussion eingeholt.

Die vierte Phase setzt den literarischen Abschluss der Prophetenschrift voraus und überführt sie in eine weisheitliche Lebenslehre: „Wer weise ist, verstehe dies / wer verständig ist, erkenne es: Ja, gerade sind die Wege Jahwes / und die Gerechten wandeln auf ihnen, / aber die Frevler kommen auf ihnen zu Fall.“ (Hos 14,10). Dadurch wird das fertige Buch selbst zu einer Quelle der Gotteserkenntnis erklärt und die prophetische Erkenntnis Jahwes in Politik, Kult und Geschichte Israels zu einem Paradigma, das die göttliche Führung im Leben des Einzelnen erkennen lässt.

4.2. Die Priesterschrift

Innerhalb der → Priesterschrift begegnet das Thema der Gotteserkenntnis in der → Exodus- und → Plagenerzählung und wird in der zentralen Gottesrede Ex 6,2-9 eingeführt, in der Gott dem Mose seinen Namen „Jahwe“ offenbart. Besonderes Gewicht erhält die Erkenntnisaussage dadurch, dass sie direkt an die Bundesformel angeschlossen wird: „Ich werde euch für mich zum Volk nehmen und werde für euch Gott sein, damit ihr erkennt, dass ich Jahwe euer Gott bin, der euch herausführt, weg von der Fronlast der Ägypter.“ (Ex 6,7). Von dort läuft eine wichtige Verbindungslinie zu Ex 29,45-46, einem priesterschriftlichen Kerntext, in dem die Gotteserkenntnis sowohl mit der Herausführung aus Ägypten als auch mit der Einwohnung Gottes in Israel als ihrem Ziel verknüpft wird. Unter diesem Spannungsbogen erscheinen weitere, futurisch formulierte Erkenntnisaussagen, die mit den ägyptischen Plagen (Ex 7,5), dem Meerwunder (Ex 14,4.18) und der Speisung Israels in der Wüste (Ex 16,6.12) verbunden sind. Was die Subjekte der Gotteserkenntnis betrifft, ist weiter zu differenzieren zwischen Erkenntnisaussagen, die sich an Israel wenden, und solchen, die sich auf Nichtisraeliten resp. auf die Ägypter beziehen: „Dann werden die Ägypter erkennen, dass ich Jahwe bin, wenn ich meine Hand ausstrecken und die Israeliten aus ihrer Mitte herausführen werde.“ (Ex 7,5; vgl. Ex 14,4.18). Auch diese Aussagen haben ihren Erkenntnisgrund in der Herausführung als dem grundlegenden Befreiungsgeschehen Israels, dienen aber zusätzlich als Machterweise Jahwes. Die Gotteserkenntnis wird danach universal auf die gesamte Völkerwelt ausgeweitet, wie dies auch bei Ezechiel (Ez 21,10; Ez 36,23) und bei Deuterojesaja (Jes 43,10; Jes 45,6; Jes 49,26) belegt ist.

4.3. Das Buch Ezechiel

Welche herausragende Rolle die Gotteserkenntnis im → Ezechielbuch spielt, zeigt die in eine Formel gegossene Erkenntnisaussage: „Dann wirst du (werdet ihr / werden sie) erkennen, dass ich Jahwe bin.“ Insgesamt lassen sich 54 Belege dieser Formel zählen, hinzu kommen 18 erweiterte Wendungen (Zimmerli, 42-45). In der Regel begegnet die Erkenntnisformel als Ziel- und Schlussaussage eines Prophetenwortes oder eines darin entfalteten Gedankens. Dabei ist von besonderer theologischer Bedeutung, dass sich die meisten Erkenntnisaussagen direkt an die Ankündigung eines Gerichtshandelns Gottes anschließen, sei es, dass Jahwe durch Schwert, Hunger und Pest oder durch Vertreibung aus dem Land sein Strafgericht am eigenen Volk vollzieht (Ez 5,13; Ez 6,7.10.13.14; Ez 7,4.9.27; Ez 11,10.12; u.ö.). Hierher gehören dann auch die Erkenntnisaussagen in Gerichtsworten gegen die Fremdvölker, in denen ebenfalls der → Zorn Jahwes den zentralen Erkenntnisgrund bildet (Ez 25,5.7.11.14.17; Ez 26,6; Ez 28,22.23.26; u.ö.).

In den weiteren Fällen, in denen die Erkenntnisformel in eine Heilsankündigung eingebunden ist, darf nicht übersehen werden, dass sie das inzwischen vollzogene Gericht voraussetzen (Ez 16,62; Ez 17,24; Ez 28,24.26; u.ö.) und dadurch die Verwüstung des Landes im Hintergrund ihrer Heilsbotschaft festhalten. Sie stammen entweder aus Kreisen der ersten Gola (6./5. Jh. v. Chr.), die mit ihrer Rückkehr aus dem Exil eine Wende zum Heil verbinden, oder gehören zu einer diasporaorientierten Redaktion (4. Jh. v. Chr.), die eine Sammlung des unter die Völker zerstreuten Israel und damit seine Wiederherstellung erwartet (vgl. Ez 20,42.44; Ez 36,23; Ez 37,6).

Die bereits apokalyptische Züge tragende Erzählung von → Gog aus Magog verbindet die Gotteserkenntnis mit der Vernichtung des endzeitlichen Feindes und seiner gegen Jerusalem anstürmenden Völkerheere. Jahwe selbst führt hier den entscheidenden Kampf und er siegt, damit die gesamte Völkerwelt seinen Namen und seine Herrlichkeit erkennt (Ez 38,23; Ez 39,6.7.22).

4.4. Das Deuteronomium

Im → Deuteronomium erhält die Gotteserkenntnis ihren besonderen Ort in den paränetischen Geschichtsrückblicken. Diese sollen den Israeliten nochmals die Zeichen und Wunder Jahwes bei der Herausführung aus Ägypten vor Augen stellen und sie durch ihre Vergegenwärtigung zu der Erkenntnis anleiten, dass Jahwe allein die Geschichte bestimmt und es außer ihm keinen Gott gibt (Dtn 4,32-35; Dtn 11,2-7). Dabei verdeutlicht die Wendung „es sich zu Herzen nehmen“ (Dtn 4,39), dass ein bloßes Erkennen nicht ausreicht. Vielmehr bedarf es einer praktischen Aneignung, die ihren wesentlichen und willentlichen Ausdruck im Halten der Gebote findet. Im Deuteronomium stehen darum Gotteserkenntnis und Gesetzesgehorsam zusammen (Dtn 7,9-11; Dtn 11,8).

Ergänzend zur Vergegenwärtigung der Geschichtstaten Jahwes in den Summarien erinnert das sog. → Deuteronomistische Geschichtswerk dann auch an Gottes Verheißungen und an seine durch Propheten übermittelten Botschaften, die alle eingetreten sind und keine einzige ausgeblieben ist (Jos 23,14; 1Sam 3,19f; 2Kön 10,10).

4.5. Resümee

Im Alten Testament wird Gott nicht an und für sich erkannt, sondern in seinem Wirken an und für jemanden. Gotteserkenntnis umschließt darum immer auch ein existentielles Verhalten, das zur Anerkennung Gottes führt und in der Liebesforderung seinen angemessenen Ausdruck findet: „Du sollst Jahwe, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,5). Lässt sich damit die Frage abschließend beantworten: Wie wird Gott erkannt? Das Alte Testament gibt auf die Erkenntnisfrage keine einheitliche Antwort, sondern führt in einen Diskussionsprozess hinein. Dennoch lässt sich in den verschiedenen Stellungnahmen beobachten, dass dem Erkenntnisvorgang in der Regel ein Handeln Jahwes vorausgeht, das sich als erkenntnisleitend erweist.

Zusammenfassend lassen sich danach folgende erkenntnisleitende Momente unterscheiden. Gott wird erkannt: (1) An seinem Gericht, das er an seinem eigenen und den fremden Völkern vollstreckt; (2) an seinen Geschichtstaten, die in der Herausführung Israels aus Ägypten ihren paradigmatischen Ausdruck finden; (3) an seinen Zeichen und Wundern, durch die er seine Macht und Stärke der gesamten Völkerwelt offenbart; (4) an seinen Verheißungen und Worten, die ausnahmslos eintreffen; (5) an den Spuren seiner Weisheit, die sich in der schönen Ordnung der Welt finden lassen und auf ihn als den Schöpfer hinweisen; (6) an der Offenbarung seiner verborgenen Zukunft, die er durch spezielle apokalyptische Offenbarungsmittler ausrichten lässt und verbürgt (Sach 2,13). Schließlich wird all dies durch das Studium der Tora bzw. der Heiligen Schrift zu einer grundlegenden Quelle der Gotteserkenntnis, die über Heil und Unheil des Einzelnen wie auch des Volkes entscheidet.

Umfassende Gotteserkenntnis kann der Mensch nicht erlangen. Hinter die Erkenntnisreflexion der späten Weisheit führt kein Weg zurück. Trotzdem wird sie im Alten Testament als eine eschatologische Hoffnung festgehalten; denn Gott wird in der künftigen Heilszeit seine Weisung in die Herzen der Menschen schreiben, so dass ihn alle erkennen und anerkennen (Jer 24,7; Jer 31,34). Volle Gotteserkenntnis gehört auch zu den Verheißungen, die sich mit dem messianischen Reich verbinden: „Keiner handelt mehr böse, keiner handelt verderbt / auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist voller Erkenntnis Jahwes / wie Wasser das Meer bedeckt.“ (Jes 11,9; vgl. Jes 33,5-6). Und schließlich wird der Messias, der in seinem kommenden Reich als König herrschen wird, mit dem Geist Jahwes ausgestattet sein, der ihm Erkenntnis und Gottesfurcht verleiht (Jes 11,2; Jes 53,11).

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