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Epigraphik (NT)

(erstellt: Januar 2009)

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1. Definition

„Die Epigraphik oder Inschriftenkunde gehört zu den wichtigsten und unentbehrlichen Hilfs- und Teilwissenschaften der Altertumswissenschaft, die sich mit einer Art von Quellen beschäftigt, die unmittelbar und unverändert aus dem Altertum erhalten geblieben sind und daher wie archaeologische Denkmäler und Funde und die Münzen und Papyri originale Zeugnisse ihrer Zeit darstellen. Sie sind damit auch um Jahrhunderte älter als unsere ältesten Handschriften literarischer Texte“ (Meyer, 1).

Die moderne Bezeichnung Epigraphik leitet sich vom griechischen Wort ἐπιγραφή ab, das zwar auch die Bedeutung „Inschrift“ haben kann, jedoch die Grundbedeutung „Aufschrift, Titel, Zuschreibung“ aufweist. Das altgriechische Wort für Inschrift ist hingegen ἐπίγραμμα, das im heutigen Sprachgebrauch im engeren Sinne für eine metrische Inschrift und die Gattung der Epigramme verwendet wird. In ähnlicher Weise kann das lateinische Wort inscriptio vereinzelt auch „Inschrift“ bedeuten, meint aber im Allgemeinen das „Aufschreiben“, die „Aufzeichnung, Aufschrift, Überschrift“ (vgl. Meyer, 3). Ein geläufiges Wort für „Inschrift“ ist hingegen titulus, wie auch das Neue Testament belegt: Die dreisprachige Kreuzesinschrift wird in Joh 19,19f. mit dem Lehnwort τίτλος bezeichnet.

Diese Stelle im → Johannesevangelium ist ein Hinweis auf das weite Feld, mit dem sich die Epigraphik beschäftigt. Die Inschriftenkunde begrenzt sich keineswegs allein auf Texte, die mehr oder minder feierlich in einen Block aus Marmor oder anderem Gestein sowie in gewachsenen Fels gemeißelt worden sind. Ebenso vielfältig wie die Intentionen beim Verfassen eines langen Textes oder einer kurzen Notiz sind auch die dafür von antiken Menschen ausgewählten Beschreibstoffe: Für Texte, die von großer Bedeutung sind und die lange erhalten bleiben sollen, werden kostbare und dauerhafte Materialen wie Stein oder Metall gewählt, für Texte, die zum kurzzeitigen Gebrauch im Alltag gedacht sind, reichen günstige und möglicherweise auch vergängliche Materialien wie Scherben oder Wachstafeln aus. Die Epigraphikerinnen und Epigraphiker widmen sich folglich beschrifteten Bronzetafeln, die vor allem für Gesetze Verwendung fanden, ebenso wie Graffiti an Hauswänden oder Stempeln auf Gefäßböden, die den Hersteller angeben.

2. Die Relevanz von Inschriften

Das weite Spektrum der epigraphischen Quellen lässt bereits erahnen, welcher besondere Wert ihnen innerhalb der Altertumswissenschaft zukommt. Die antiken Inschriften sind Quellen aus erster Hand, da sie im Gegensatz zu literarischen Texten nicht in Form von immer wieder abgeschriebenen Manuskripten, sondern als Original vorliegen. Sie sind insbesondere auch deswegen für die Erforschung der antiken Lebenswelt Zeugnisse von unschätzbarem Wert, weil sie über viele Aspekte der staatlichen Verwaltung und eine Vielzahl von wirtschaftlichen Aktivitäten, aber vor allem über viele Bereiche des täglichen Lebens informieren, über welche die antiken Schriftsteller gänzlich oder weitgehend schweigen. Anders als in der uns überlieferten Literatur kommen in den Inschriften auch mittlere und untere Bevölkerungsschichten zu Wort. Die „sprechenden Steine“ lassen die Antike lebendig und anschaulich werden, indem sie den archäologischen Überresten oft erst ihren „Sitz im Leben“ zuweisen und die Alltagswelt antiker Menschen aller sozialen Schichten heutigen Leserinnen und Lesern vor Augen führen.

3. Die Publikation von Inschriften

Der oftmals schlechte Erhaltungszustand der epigraphischen Zeugnisse zwingt bisweilen dazu, Teile der Texte zu rekonstruieren. Aber selbst unversehrt erhaltene Inschriften mit makellosen Buchstaben stellen eine Herausforderung für heutige Leserinnen und Leser dar: Grund dafür sind die überwiegende Verwendung der lectio continua ohne Worttrenner und Satzzeichen, der Einsatz von Ligaturen, d.h. platzsparenden Buchstabenkombinationen mit gemeinsamen Elementen, und – vor allem in lateinischen Inschriften – der Gebrauch zahlreicher Abkürzungen (sigla), die oft nur im Zusammenhang zu entschlüsseln sind. Ein M kann z.B. in einer Grabinschrift Teil der Formel D(is) M(anibus) für die Weihung an die Totengötter sein oder aber den Ehemann oder die Ehefrau, den m(aritus) bzw. die m(arita), bezeichnen, die Abkürzung für das praenomen M(arcus) sein, im militärischen Kontext für den Soldaten, den m(iles), stehen, als Zahlenangabe 1.000 bezeichnen u.v.m. (für eine Übersicht der lateinischen Abkürzungen vgl. Walser, 283-286; Paasch Almar, 440-500).

Um die Unsicherheiten des Textbestandes kenntlich zu machen, das Erscheinungsbild der Inschriften möglichst nachvollziehbar wiederzugeben und die Leserinnen und Leser zu eigenen Textrekonstruktionen anzuregen, werden Inschriften in Einzeleditionen und Inschriftencorpora zumeist in den Zeilen des Originals und unter Verwendung diakritischer Zeichen abgedruckt. Üblicherweise wird dabei das Leidener Klammersystem verwendet, das hier am Beispiel collegium vorgestellt wird (vgl. Schumacher, 15-17; Paasch Almar, 8).

Abkürzungen (sigla) auf dem Stein werden in runden Klammern aufgelöst.

Beispiel: Wird auf dem Stein die Abkürzung COL verwendet, erscheint im Text col(legium).

Buchstaben, die ursprünglich auf dem Stein standen, aber nicht mehr erhalten sind, werden in eckigen Klammern ergänzt.

Beispiel: Ist der Stein hinter COLLEG abgebrochen, erscheint im Text colleg[ium].

Buchstaben, die sich nie auf dem Stein befunden haben, aber zu einer korrekten Form fehlen, werden in spitzen Klammern ergänzt.

Beispiel: Steht auf dem Stein irrtümlich COLEGIUM, erscheint im Text colegium.

Überflüssige Buchstaben auf dem Stein werden durch geschweifte Klammern als Fehler gekennzeichnet.

Beispiel: Hat der Steinmetz auf dem Stein versehentlich COOLLEGIUM geschrieben, erscheint im Text co{o}llegium.

Buchstaben, die auf dem Stein nicht eindeutig zu lesen sind, werden durch einen Punkt unter dem Buchstaben gekennzeichnet.

Beispiel: Ist auf dem Stein nur noch COI LEGIUM zu erkennen, erscheint im Text colḷegium.

In der Inschrift fehlende Buchstaben, die nicht zu rekonstruieren sind, werden im Text durch […] wiedergegeben.

Beispiel: Sind die Buchstaben zwischen dem C und dem S durch Witterungseinflüsse unlesbar geworden und kann die Lücke nicht sinnvoll gefüllt werden, erscheint im Text C[…]S.

Nachträglich getilgte Buchstaben werden in doppelte eckige Klammern gesetzt.

Beispiel: Der Kaiser Domitian ist der damnatio memoriae anheim gefallen, deshalb wird sein Name in der Inschrift getilgt. Die Rasur beschränkt sich auf den Personennamen, die Titulatur bleibt erhalten. Da das ausgelöschte Wort noch rekonstruiert werden kann, erscheint im Text collegium imp(eratoris) [[Domitiani]].

4. Inschriftengattungen

Eine Klassifizierung von Inschriften erfolgt – mit Ausnahme der Gruppe der „Kleininschriften“ – nach inhaltlichen Gesichtspunkten. Als wichtigste Inschriftengattungen lassen sich Grabinschriften, Bauinschriften, Meilensteine, Ehreninschriften, Weihinschriften, juristische Dokumente, Kalender und Kleininschriften unterscheiden (vgl. Meyer, 46-82; Schmidt, 27-82).

4.1. Grabinschriften (tituli sepulcrales)

Der größte Teil der lateinischen Inschriften findet sich auf Grabsteinen. Obwohl diese epigraphischen Zeugnisse an sich von privatem Charakter sind, stellen sie Informationsquellen ersten Ranges nicht nur über die einzelne verstorbene Person, sondern darüber hinaus auch über soziale, politische und administrative Gegebenheiten der Antike dar. Die Grabsteine geben als sprachgeschichtliche Quellen Auskunft über die Namensgebung in einem bestimmten Gebiet. Neben dem Namen enthalten umfangreichere Grabinschriften biographische Details wie Ämter, Berufsbezeichnungen oder Angaben über den sozialen Stand der Verstorbenen. So stammt etwa eine Fülle von genauen Angaben über die Organisation und Praxis der römischen Verwaltung und des römischen Heeres aus Inschriften. Die Angabe des Lebensalters lässt die Lebenserwartung in bestimmten Berufen oder Gegenden sowie die Altersstruktur der Bevölkerung erahnen.

Grabsteine lassen sich leicht an den zahlreichen gängigen Formeln erkennen: Oft steht die Abkürzung D M (S) = D(is) M(anibus) (sacrum) („den Totengöttern geweiht“) voran, häufig ist aber auch das profane H S E = h(ic) s(itus/a) e(st) („hier liegt“). Dann folgt der Name der verstorbenen Person, manchmal mit scheinbar genauen Angaben zum Lebensalter nach Jahren, Monaten und Tagen: V = v(ixit) („hat gelebt“), ANN = ann(is) („X Jahre lang“), MENS = mens(ibus) („Y Monate lang“), D = d(iebus) („Z Tage lang“).

Daran anschließend findet sich oftmals die Nennung der Person, auf deren Initiative die Grabstätte und der Grabstein errichtet worden sind. Verwendet werden dabei Abkürzungen wie F C = f(aciendum) c(uravit) („hat anfertigen lassen“) und H F C = h(eredes) f(aciendum) c(uraverunt) („die Erben haben anfertigen lassen“) mit Bezug auf die Erben oder V F = v(ivus/a) f(ecit) („hat zu Lebzeiten anfertigen lassen“) und EX T F I = ex t(estamento) f(ieri) i(ussit) („ließ nach seinem/ihrem Testament anfertigen“) mit Bezug auf die verstorbene Person.

Hinzu können auch gute Wünsche an die verstorbene Person kommen: S T T L = s(it) t(erra) t(ibi) l(evis) („möge die Erde dir leicht sein“).

Vielfach werden schließlich die Abmessungen des Grabes mit den Formeln IN F P = in f(ronte) p(edes) („in der Breite X Fuß“) und IN A P = in a(gro) p(edes) („in der Tiefe Y Fuß“) angegeben.

4.2. Bauinschriften (tituli operis publici et privati)

Bauinschriften dokumentieren an einem öffentlichen oder privaten Bau den Namen des Erbauers oder des Stifters – sinnvollerweise zumeist gut sichtbar an der Frontseite entweder eingeschrieben im Architrav oder eingraviert auf einer eigens angefertigten Tafel. Zu diesem Namen werden bisweilen Angaben über das Datum, die Motivation und den Zweck des Baus oder die dafür aufgewendeten Geldbeträge hinzugefügt. Aber nicht nur ein Neubau kann durch eine Inschrift gewürdigt werden, sondern auch eine Reparatur oder das Vorhaben einer Instandsetzung eines bereits bestehenden Gebäudes.

Der finanzielle Einsatz kann durch Formeln wie F = f(ecit) („hat gemacht“), F C = f(aciendum) c(uravit) („hat errichten lassen“), D S P = d(e) s(sua) p(ecunia) („auf eigene Kosten“) ausgedrückt werden.

4.3. Meilensteine (miliari)

Eine Untergruppe der Bauinschriften sind Meilensteine. Diese haben die Form einer glatten Säule auf einer viereckigen Basis und beziffern auf den öffentlichen Straßen in regelmäßigen Abständen die Entfernung vom Ausgangspunkt (caput viae).

Die Entfernungen werden in MP (oftmals in Ligatur geschrieben) = m(ilia) p(assuum) („1000 Doppelschritte“ = 1 Meile) angegeben. Der Kaiser oder ein anderer Bauherr der Straße erscheint im Nominativ, die Tätigkeit wird durch entsprechende Verben charakterisiert: F = f(ecit) („hat gemacht“), M = m(univit) („hat befestigt“), REST = rest(ituit) („hat wiederhergestellt“).

4.4. Ehreninschriften (tituli honorarii)

Ehreninschriften werden zu Lebzeiten oder postum für ein Individuum aufgestellt, um dessen Verdienst für den Staat, die Heimatstadt, einen Verein o.ä. öffentlich zu dokumentieren und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Im erklärenden Teil einer solchen Inschrift finden sich zumeist neben dem Namen auch die Ämter und Ehren der Person, deren Gedächtnis gewahrt werden soll, sowie das die Ehrung beschließende Gremium oder deren einzelner Initiator und die dahinter stehende Motivation. Manchmal werden zudem noch genauere Ausführungen zu möglichen Statuen und deren Standort gemacht.

Zumeist steht die geehrte Person im Dativ und die ehrende Person oder Gruppe im Nominativ. Das Verb fehlt oft, so dass zu ergänzen ist „hat die Inschrift anfertigen“ oder „hat die Statuen aufstellen lassen“. Formeln wie D D = d(ecreto) d(ecurionum) („auf Beschluss des Stadtrates“) oder L D D D = l(ocus) d(atus) d(ecreto) d(ecurionum) („der Platz wurde auf Beschluss des Stadtrates zur Verfügung gestellt“) können die für die Bewilligung zuständigen Gremien angeben.

4.5. Weihinschriften (tituli sacri)

Im Falle eines Tempels können Weihinschrift und Bauinschrift identisch sein, aber nicht nur Gebäude werden Gottheiten oder den römischen Kaisern geweiht, sondern auch eine kaum zu überschauende Vielfalt von kleinen und großen Objekte aus den verschiedensten Materialien wie Stein, Ton, Holz oder Metall. Die erläuternden Angaben zu Spender und Empfänger einer Weihung können entweder auf dem geweihten Gegenstand selbst oder auf einer zusätzlichen Tafel festgehalten werden.

Religionsgeschichtlich bedeutsam ist, dass Weihinschriften eine Vielzahl von Götternamen nennen, die aus der Literatur völlig unbekannt sind. Sie geben so Auskunft über die zeitliche und regionale Verbreitung von Kulten.

Die die Weihung empfangende Gottheit wird üblicherweise im Dativ genannt, manchmal auch im Genitiv des Besitzers. Der geweihte Gegenstand wird oftmals SAC = sac(rum) („geweiht, der Gottheit gehörend“) genannt. Die Weihung kann durch Formeln wie D D = d(onum) d(edit) („hat als Geschenk gegeben“) beschrieben werden. Bei Gelübden steht die Wendung V S = v(otum) s(olvit) („hat das Gelübde eingelöst“). Bisweilen werden gerade solche Weihungen präzisiert durch Angaben wie L M = l(ibens) m(erito) („gern verdientermaßen“).

4.6. Juristische Dokumente

Inschriften sind in der Antike das Medium für offizielle Verlautbarungen, deshalb werden auch Gesetze auf ihnen festgehalten, wie schon dem Namen nach das 12 Tafel-Gesetz (XII tabulae) belegt. Das älteste auf diese Weise erhaltene römische juristische Dokument ist das für die römische Religionspolitik äußerst aufschlussreiche senatus consultum de Bacchanalibus. Die Inschrift ist eine Proklamation an die Bewohner des ager Teuranus und dokumentiert das staatliche Vorgehen gegen die Anhängerinnen und Anhänger des Dionysoskultes in Italien im Jahre 186 v.Chr. (zu einem Vergleich der Inschrift CIL I2 581 mit dem Bericht des Livius vgl. Cancik-Lindemaier). Solche Senatsbeschlüsse lassen sich gewöhnlich in vier Abschnitte gliedern: Präskript mit Zeit und Ort – Angabe des Themas – Beschluss, zumeist eingeleitet mit D E R I C = d(e) e(a) r(e) i(ta) c(ensuere) („über diese Sache haben sie so beschlossen“) – Abschluss mit C = c(ensuere) („sie haben beschlossen“) und der Zahl der anwesenden Senatoren.

Soldaten der Hilfstruppen des römischen Militärs erhalten bei ihrem Ausscheiden aus dem Dienst ein Militärdiplom (diploma militare), das zugleich gewissermaßen die Entlassungsurkunde und eine Abschrift eines kaiserlichen Bürgerrechtserlasses ist. Zuvorderst stehen Namen und Titel des amtierenden Kaisers im Nominativ, dann folgt der Begünstigte im Dativ einschließlich seines Dienstgrades und seiner Einheit, in der er Dienst geleistet hat. Darauf werden die nun verliehenen Privilegien exakt aufgelistet (civitas = römisches Bürgerrecht, conubium = Anerkennung der Rechtmäßigkeit einer Ehe mit einer peregrinen Frau). An die genaue Datierung schließt sich die Angabe des Aufbewahrungsortes des Originals in Rom an, bevor dann eine Liste von sieben Zeugen die Echtheit des Dokuments verbürgt. Die Ausfertigung als diploma, also „Doppel“ zweier miteinander verbundener Bronzetafeln, belegt den urkundlichen Status solcher Dokumente.

4.7. Kalender (fasti)

Orientierung über religiöse → Feste, Feiertage und Werktage geben im Römischen Reich die öffentlich aufgestellten Kalender, die fasti. Die Tagesangaben werden an Stichtagen ausgerichtet: den KAL = Kal(endae) („erster Tag des Monats“), den NON = Non(ae) („5. bzw. 7. Tag des Monats“) und den ID = Id(us) („13. bzw. 15. Tag des Monats“). Die Angaben unterscheiden zwischen F = f(astus sc. dies) („Gerichtstag, Werktag“) und N = n(efastus sc. dies) („Nicht-Gerichtstag, Feiertag“) sowie dem nicht eindeutig entschlüsselten NP (in Ligatur) = n(efas scil. feriarum) p(ublicarum) („Feiertag, öffentliches Fest“).

4.8. Kleininschriften (instrumentum domesticum)

Eine Reihe von Beschriftungen findet sich eingeritzt, gestempelt, gemalt oder mitgegossen auf Dingen des alltäglichen Lebens. Diese Kleininschriften werden unter der Bezeichnung instrumentum domesticum („Gegenstände des häuslichen Gebrauchs“) zusammengefasst und sind wegen ihrer Vielfalt nur schwer zu systematisieren. Insbesondere sind sie aber für die Erforschung der antiken Wirtschaft unentbehrlich.

Amphorenstempel geben beispielsweise entweder die herstellende Töpferei oder den Produzenten des transportierten Guts oder den Inhalt oder gar dessen genaue Qualität an. Wirtschaftliche Vernetzungen können so aufgedeckt und Daten zu den Verbrauchern ermittelt werden.

Unter den Ziegelstempeln sind die von militärischen Einheiten von besonderer Bedeutung, da sie die Chronologie von Truppenbewegungen und die Verschiebungen an den römischen Grenzen erhellen. Im Blick auf das Neue Testament sind hier die Ziegelstempel LXFRE der l(egio) X Fre(tensis) in Jerusalem bedeutsam. Sind Ziegelstempel datiert, ermöglichen sie darüber hinaus die zeitliche Einordnung einzelner Bauten.

5. Datierung von Inschriften

Nur ein Bruchteil der überlieferten Inschriften ist in ein bestimmtes Jahr datiert, noch seltener ist ein Hinweis auf einen bestimmten Tag enthalten. Datumsangaben finden sich jedoch in der Regel in öffentlichen Anordnungen, juristischen Dokumenten oder Kaufverträgen. Im römischen Bereich erfolgt die Jahresangabe zumeist durch die Nennung der amtierenden Konsuln im Ablativ mit COS = co(n)s(ulibus) („unter den Konsuln X und Y“; Hilfsmittel für die Umrechnung dieser Datierungen stammen von Degrassi und Broughton), im griechischen Bereich oftmals durch die Angabe städtischer Amtsträger wie der Archonten in Athen.

Ist keine direkte Datierung im Text einer Inschrift enthalten, kann eine ausführliche Kaisertitulatur eine zeitliche Einordnung ermöglichen: Die Angaben zur tribunizischen Amtsgewalt mit TRIB POT = trib(unicia) pot(estate) („zum X. Mal Inhaber der tribunizischen Gewalt“) und zur Anzahl der Akklamation als Imperator mit IMP = imp(erator) („zum X. Mal zum Imperator ausgerufen“) grenzen innerhalb der Amtszeit eines Kaisers den in Frage kommenden Zeitabschnitt ein (vgl. die Übersicht bei Kienast).

Neben den unmittelbaren Angaben im Text können die Form der Buchstaben, der Fundkontext oder bei organischen Beschreibmaterialien auch naturwissenschaftliche Methoden bei der Datierung von Inschriften hilfreich sein.

6. Inschriften und das Neue Testament

Aus neutestamentlicher Sicht sind Inschriften unentbehrlich, um einzelne Personen, die im Neuen Testament genannt werden, zeitlich oder sozial zu verorten: Eine Chronologie des Lebens des Paulus ist ohne die so genannte Gallio-Inschrift (Fouilles de Delphes III 286) nicht zu erstellen. Ein in Delphi inschriftlich dokumentierter Brief des Kaisers Claudius hilft, die Amtszeit des in Apg 18,12 genannten römischen Statthalters (proconsul) von Achaia (ἀνθύπατος τῆς Άχαίας) namens Gallio, vor dessen Richterstuhl Paulus in Korinth geführt wird, in die Jahre 51/52 n. Chr. zu datieren. Darauf aufbauend ist der 18monatige Korinth-Aufenthalt des Apostels (Apg 18,11) frühestens in der Zeit zwischen Herbst 49 und Sommer 51 oder spätestens in der Zeit zwischen Frühjahr 52 und Winter 53/54 anzusetzen (vgl. Ebel 2006, 83-85).

Die korrekte Amtsbezeichnung des Pontius Pilatus als praefectus Iudaeae überliefert eine Inschrift aus Caesarea maritima (Année épigraphique 1981, 850; vgl. dazu Weber, Labbe, Alföldy).

Eine Inschrift aus Korinth (Année épigraphique 1930, 118) wirft die Frage auf, ob der darin genannte aedilis Erastus mit dem in Röm 16,23 genannte ὀκονόμος τῆς πόλεως Erastus identisch ist und somit die korinthische Gemeinde ein hochrangiges Mitglied aufweisen kann, welches das zweithöchste der städtischen Ämter erlangt hat (vgl. Theißen, 236-245).

Über die Situierung von Einzelpersonen hinaus sind epigraphische Zeugnisse unverzichtbar, wenn man religions- und sozialgeschichtlichen Fragen nachgehen möchte: Um zu verstehen, welche religiösen Vorstellungen die Menschen im 1. oder 2. Jahrhundert mitbringen, wenn sie mit der christlichen Botschaft konfrontiert werden, sind Inschriften, die sich auf Grabsteinen finden (vgl. Peres), oder beigegebene Texte, die Tempel, Götterstatuen und Weihegeschenke erklären, eine wichtige Quelle.

Auch weite Bereiche des sozialen Lebens, welches das Lebensgefühl und das Gemeinschaftsbewusstsein antiker Menschen bestimmt, sind nur durch die Lektüre epigraphischer Zeugnisse zugänglich: Einzig über Inschriften lässt sich beispielsweise ein Einblick in das antike Vereinswesen gewinnen, welches das religiös-gesellige Freizeitleben vieler antiker Menschen prägt und eine starke und etablierte Konkurrenz zu den neu entstehenden christlichen Gemeinden darstellt (vgl. Ebel 2004).

Mit Hilfe von epigraphischen und anderen archäologischen Quellen lässt sich zudem das Lokalkolorit einzelner Städte erhellen: Die antiken Zeugnisse geben Hinweise darauf, welche lokalen Besonderheiten den christlichen Missionarinnen und Missionaren bei der Verkündigung der neuen christlichen Botschaft an den verschiedenen Orten des Imperium Romanum begegneten oder wie die Menschen lebten und dachten, an welche die Briefe des Neuen Testaments gerichtet sind, und wie sie vor diesem Hintergrund einzelne Briefpassagen verstanden haben könnten (vgl. zu Philippi Pilhofer, zu Thessaloniki vom Brocke, zu Ephesus Lampe).

Literaturverzeichnis

1. Einführungen in die Epigraphik

  • Cook, B. F., 1987, Greek Inscriptions, Reading the Past, London
  • Guarducci, M., 1967-1978, Epigrafia Greca. Band I-IV, Rom
  • Meyer, E., 3. Aufl. 1991, Einführung in die lateinische Epigraphik, Darmstadt
  • Paasch Almar, K., 1990, Inscriptiones Latinae. Eine illustrierte Einführung in die lateinische Epigraphik (OUCS 14), Odense
  • Pfohl, G., 1977, Das Studium der griechischen Epigraphik. Eine Einführung, Darmstadt
  • Schmidt, M. G., 2004, Einführung in die lateinische Epigraphik (Einführungen Altertumswissenschaften), Darmstadt
  • Schumacher, L., 1988, Römische Inschriften. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt, kommentiert und mit einer Einführung in die lateinische Epigraphik, Stuttgart
  • Walser, G., 2. Aufl. 1993, Römische Inschriftenkunst. Römische Inschriften für den akademischen Unterricht und als Einführung in die lateinische Epigraphik ausgewählt, photographiert und erläutert, Stuttgart
  • Wankel, H., 1974, Die Rolle der griechischen und lateinischen Epigraphik bei der Erklärung literarischer Texte, ZPE 15, 79-97
  • Woodhead, A.G., 2. Aufl. 1987, The Study of Greek Inscriptions, Cambridge

2. Hilfsmittel

  • Broughton, T.R.S., 2. Aufl. 1984-1986, The Magistrates of the Roman Republic, 2 Bände, 1 Supplementband, Atlanta
  • Degrassi, A., 1952, I fasti consolari dell’impero romano. Dal 30 avanti Cristo al 613 dopo Cristo (SusEr 3), Rom
  • Kienast, D., 3. Aufl. 2004, Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie, Darmstadt

3. Epigraphik und Neues Testament

  • Alföldy, G., 1999, Pontius Pilatus und das Tiberieum von Caesarea Maritima, Scripta Classica Israelica 18, 85-108
  • Boffo, L., 1994, Iscrizioni greche e latine per lo studio della bibbia. Premessa e introduzione di E. Gabba (Biblioteca di storia e storiografia dei tempi biblici 9), Brescia
  • Cancik-Lindemaier, H., 1996, Der Diskurs Religion im Senatsbeschluß über die Bacchanalien von 186 v. Chr. und bei Livius (B. XXXIX), in: Cancik, H. (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion, FS Martin Hengel zum 70. Geburtstag. Band II: Griechische und Römische Religion, Tübingen, 77-96
  • Corsten, T., 2. Aufl. 2004, Inschriften/Epigraphik, in: K. Erlemann / K. L. Noethlichs u.a., Neues Testament und Antike Kultur. Band 1: Prolegomena – Quellen – Geschichte, Neukirchen, 125-130
  • Deissmann, A., 4. Aufl. 1923, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen
  • Deissmann, A., 2. Aufl. 1925, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen
  • Ebel, E., 2004, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine (WUNT 2/178), Tübingen
  • Ebel, E., 2006, Das Leben des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werke – Briefe (UTB 2767), Tübingen, 83-96
  • Eck, W., 2002, Die Inschriften Judäas im 1. und frühen 2. Jh. n.Chr. als Zeugnis der römischen Herrschaft, in: M. Labahn / J. Zangenberg (Hg.), Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft. Vorträge auf der Ersten Konferenz der European Association for Biblical Studies (TANZ 36), Tübingen, 29-50
  • Horsley, G.H.R. / Llewelyn, S. R. (Hg.), 1981, New Documents Illustrating Early Christianity 1ff.
  • Labbe, G., 1991, Ponce Pilate et la munificence de Tibère. L’inscription de Césarée, REA 93, 277-297
  • Lampe, P., 1992, Acta 19 im Spiegel der ephesischen Inschriften, BZ 36, 59-76
  • Peres, I., 2003, Griechische Grabinschriften und neutestamentliche Eschatologie (WUNT 157), Tübingen
  • Pilhofer, P., 1995, Philippi. Band I: Die erste christliche Gemeinde Europas (WUNT 87), Tübingen
  • Pilhofer, P., 2000, Philippi. Band II: Katalog der Inschriften von Philippi (WUNT 119), Tübingen
  • Theißen, G., 1974, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums, ZNW 65, 232-272; wieder abgedruckt in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3. Aufl. 1989, 231-271
  • vom Brocke, C., 2001, Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt (WUNT 2 / 125), Tübingen
  • Weber, E., 1971, Zur Inschrift des Pontius Pilatus, BoJ 171, 194-200

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