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(erstellt: Oktober 2007)

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El Roi (אֵל רֳאִי ’el rå’î) ist eine Bezeichnung → Jahwes, die nur in Gen 16,13 bezeugt ist. Sie bedeutet ursprünglich wohl „Gott, der mich sieht“ (d.h. Gott sieht Hagar) und hebt den rettenden Charakter Jahwes hervor. Damit will sie Leserinnen und Leser dazu anhalten, die Erzählung trotz Gen 16,9 als Rettungsgeschichte zu verstehen. Von den Masoreten (→ Bibeltext) wird die Gottesbezeichnung als „Gott der Erscheinung“ (d.h. Hagar sieht Gott) gedeutet, um das Wunder der Sichtbarkeit des Unsichtbaren ins Zentrum zu rücken.

1. Die Gottesbezeichnung im Kontext der Erzählung Gen 16

In Gen 16,1-16 flieht → Hagar, die schwangere ägyptische Sklavin → Saras, vor ihrer Herrin in die Wüste. Dort begegnet ihr an einer Quelle ein Bote Gottes (→ Engel), der sie auffordert, zu Sara zurückzukehren (Gen 16,9) – ein Zusatz, der eine literarische Verknüpfung mit Gen 21,1-21 herstellen will. Vor allem bekommt sie von dem Boten in Gen 16,11-12 die Verheißung von der Geburt → Ismaels, die in Gen 16,10 redaktionell – zur Verknüpfung mit den übrigen Vätererzählungen – auf viele Nachkommen ausgeweitet wird. Nachdem die ursprüngliche Erzählung in Gen 16,12 einen Abschluss gefunden hat, erklärt Gen 16,13 nach dem vorliegenden, unnötigerweise häufig geänderten hebräischen Text: „Und sie nannte den Namen Jahwes, der zu ihr geredet hatte, ‚Du bist El Roi!’, denn sie sagte: ‚Wahrlich, hier habe ich auf den gesehen, der mich sieht (רֹאִי ro’î)’.“ Der Vers will vielleicht hervorheben, dass die Ägypterin in dem Boten nicht Jahwe, den Gott Israels, erkannt hat, sondern nur ganz allgemein Gott. Bei El Roi dürfte es sich, da außerbiblische Belege fehlen, nicht um einen alten Gottesnamen, sondern um eine ad-hoc-Bildung des Verfassers handeln (vgl. Ps 77,15), die vielleicht von dem in Gen 16,14 genannten Brunnennamen בְּאֵר לַחַי רֹאִי bə’er laḥaj ro’î inspiriert ist und damit auch eine Brücke zum Folgenden herstellt.

2. Die Bedeutung der Gottesbezeichnung

In der Begründung der Gottesbezeichnung El Roi wird zunächst von Hagar, dann von der Gottheit gesagt, dass sie sieht. Das wirft die Frage auf, ob das Namenselement Roi, das von ראה r’h „sehen“ kommt, seine Begründung darin findet, dass Hagar oder dass Gott sieht.

2.1. „Gott der Erscheinung“ – Hagar sieht Jahwe

Der Konsonantentext אל ראי ’l r’j wird von den Masoreten אֵל רֳאִי ’el rå’î vokalisiert. Das Nomen רֳאִי rå’î „Erscheinung“ müsste in Pausastellung eigentlich רֹאִי ro’î gelesen werden (1Sam 16,12; Nah 3,6; Hi 33,21). Da es dann jedoch mit dem Partizip רֹאִי ro’î „der mich Sehende“ (d.h. Gott sieht Hagar) verwechselbar ist, haben die Masoreten auf die Pausa-Vokalisierung verzichtet und machen damit deutlich, dass ihrer Ansicht nach רֳאִי rå’î „Erscheinung“ gemeint ist. El Roi bedeutet dann „Gott der Erscheinung“ und hebt hervor, dass Hagar Gott gesehen hat. Die Masoreten deuten die Begegnung mit dem Boten Jahwes damit als Gotteserscheinung.

2.2. „Gott, der mich sieht“ – Jahwe sieht Hagar

Ein ganz anderes Verständnis der Gottesbezeichnung belegen ältere, vormasoretische Textzeugen, nämlich die Bibel der → Samaritaner (אל ראה ’l r’h „Gott, der sieht“), die → Septuaginta (ὁ θεὸς ὁ ἐπιδών με ho theos ho epidōn me „der Gott, der mich Sehende“), die → Vulgata (Deus, qui vidisti me „Gott, der du mich gesehen hast“) und der → Targum (’lh’ ḥzj kwl’ „der Gott, der alles sieht“). Diese Textzeugen legen nahe, ראי r’j als Partizip mit Suffix רֹאִי ro’î zu lesen. Hagar sagt dann „Du bist der Gott, der mich sieht!“.

Ursprünglich dürfte El Roi in diesem Sinne zu verstehen gewesen sein, und zwar aus mehreren Gründen. 1) Dass eine Gottheit erscheint, ist nichts Besonderes und für eine Gottesbezeichnung zu unspezifisch. Die Formulierung „Der Gott, der mich sieht“ charakterisiert Gott dagegen als persönlichen Schutzgott. 2) Die Erzählung handelt nicht davon, dass Hagar Gott sieht, sondern davon, dass Gott Hagar rettet. Die Rettung verdichtet sich zunächst in dem Namen Ismael „Gott hört“, dann in der Bezeichnung Jahwes als El Roi „Gott, der mich sieht“ und schließlich in der des Brunnens als בְּאֵר לַחַי רֹאִי bə’er laḥaj ro’î „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ (so die Lutherübersetzung). Dabei sind „hören“ und „sehen“ als Verben des Rettens im Sinne von „erhören“ bzw. „ersehen“ zu verstehen. 3) Wenn man El Roi als „Gott der Erscheinung“ deutet, liegt der Akzent in der Begründung von v13b auf „ich habe gesehen“. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Roi, das letzte Wort von v13a, durch רֹאִי ro’î, das gleich lautende letzte Wort von v13b, erklärt wird. Die Begründung zielt dann darauf, dass Gott Hagar sieht.

Gegenüber dem Gedanken, dass Jahwe eine ägyptische Sklavin rettet, hielten es die Masoreten für bemerkenswerter, dass Jahwe erscheint und sich sehen lässt, Hagar also Gott gesehen hat, obwohl dies eigentlich nicht möglich ist (vgl. Ex 33,20). Dieser Gedanke findet sich zwar nicht in der voranstehenden Erzählung, ist jedoch in dem רָאִיתִי rāîtî „ich habe gesehen“ in v13b angelegt, und wird von den Masoreten dadurch in den Vordergrund gestellt, dass sie רֹאִי ro’î („der mich Sehende“) in v13a durch die Vokalisierung als רֳאִי rå’î („Erscheinung“) deuten.

Literaturverzeichnis

  • Booij, Th., Hagar’s Words in Genesis XVI 13b, VT 30 (1980), 1-7
  • Knauf, E.A., Ismael, Wiesbaden 2. Aufl. 1989
  • Köckert, M., Vätergott und Väterverheißungen (FRLANT 142), Göttingen 1988
  • Koenen, K., Wer sieht wen? Zur Textgeschichte von Genesis XVI 13, VT 38 (1988), 468-474
  • Pury, A. de, Art. El-Roi, in: Dictionary of Deities and Demons in the Bible, 2. Aufl., Leiden 1999
  • Schoors, A., A Tiqqun Sopherim in Genesis XVI 13B?, VT 32 (1982), 494-495
  • Seebass, H., Zum Text von Gen. XVI 13b, VT 21 (1971), 254-256

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