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Ekstase / Besessenheit

(erstellt: Mai 2006)

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1. Ekstase und Besessenheit

Kulturvergleichende Analysen machen deutlich, dass Ekstase und Besessenheit zu unterscheiden sind und jeweils bevorzugt in bestimmten Gesellschaftstypen auftreten (→ Animismus). Ekstase – verstanden als ‚Austritt’ der Seele aus dem Körper und Annäherung an eine übermenschliche Macht oder einen jenseitigen Ort – tritt vornehmlich in den sozial einfach strukturierten Gesellschaften von Jägern und Sammlern und in Pflanzerkulturen in Erscheinung. Besessenheit – verstanden als ‚Besitzergreifung’ eines Menschen durch eine geistige Macht, die an die Stelle seiner Seele bzw. seines Bewusstseins tritt – ist eher ein Kennzeichen sozial komplexerer und politisch oberhalb der Verwandtschaftsgruppe organisierter Ackerbaukulturen.

Weniger eindeutig fällt die Zuordnung von Ekstase und Besessenheit allerdings für nomadisierende Viehzüchtergesellschaften aus. Die religiösen Traditionen dieser Gruppen können, abhängig von dem ökologischen Ursprung der Viehzucht, unterschiedliche Züge aufweisen. Wenn die Viehzucht dem Jäger- und Sammlertum entwachsen ist, herrscht in diesen Gesellschaften die Ekstaseform der Trance vor. Steht das Hirtennomadentum hingegen in einem regelmäßigen Austausch mit bäuerlichen Kulturen oder betreibt ein Teil der Viehzüchtergesellschaft (z.B. die Frauen) Gartenbau, ist in dieser Kultur mit dem Auftreten der Besessenheitsform der Trance zu rechnen.

2. Zum Begriff „Ekstase“

Ekstase kommt vom griechischen ékstasis, wörtlich übersetzt: „das Aus-sich-Heraustreten“, und meint das Entfernen von der Stelle, Verwunderung, Verrücktheit, Verzückung, Ekstase. Das Verb existánai bedeutet „außer sich geraten“ (Medium).

Ekstasis bezeichnet im klassischen Griechisch zunächst räumliche und körperliche Vorgänge, die vom Gewohnten bzw. Normalen abweichen, wie z.B. die Verrenkung oder die Ortsveränderung, im übertragenen Sinn dann das „Verrückt“-Sein, die Verwirrung oder das Entsetzen. Der Begriff wird im Sinne der Verzückung auch für die Raserei des Dionysoskultes verwendet und bedeutet dort bereits die Veränderung oder Ausschaltung des menschlichen Bewusstseins durch die Einwirkung einer göttlichen Macht. Philosophisch verwendet Platon (427-348/347 v. Chr.) den Begriff im Sinne einer enthusiastischen Entrückung (theia manía), die zur Erkenntnis der Wahrheit führt und zudem die Quelle des künstlerischen Schaffens ist. In den hellenistischen Mysterienreligionen gewinnt der Begriff die Bedeutung von Entrückung, die zur göttlich inspirierten Einsicht in die Wahrheit führt. Der Myste tritt aus den Alltagsgrenzen seines Körpers und Bewusstseins heraus und gewinnt die Möglichkeit zur Vereinigung mit einer Gottheit. Nach Plotin (um 205-270) kann dieser Zustand des Ruhens in Gott durch Katharsis und Askese erreicht werden. Für den Neuplatonismus war die mystische Ekstase, verstanden als die Schau des undefinierbaren Einen, das Ziel der Erkenntnis. → Philo von Alexandria (um 20 v. Chr. – um 50 n. Chr.) beschreibt die Ekstase als einen Vorgang, in dem der menschliche Verstand (nous) dem göttlichen Geist (pneuma) weicht.

3. Zum Wesen der Ekstase

3.1. Beschreibung ekstatischer Phänomene

Der Ekstatiker erlebt diesen außeralltäglichen, erweiterten Bewusstseinszustand gewöhnlich als eine Trennung von Körper und Seele. Er mag das Gefühl haben, aus dem eigenen Selbst herauszutreten und sich einer übermenschlichen Macht (Geist, Gottheit) zu nähern. Sein Ich-Bewusstsein ist stark gemindert oder gar ausgeschaltet, sein Bewusstsein von Zeit und Raum schwindet zugunsten einer Einheitserfahrung und es fehlt ihm an Vorstellungen und Begriffen, diesen Zustand in Worte zu fassen. Im Zustand der Ekstase lassen sich Hypermotorik, Konvulsionen, Schmerzunempfindlichkeit und übersteigerte Emotionen beobachten. Dazu treten außergewöhnliche Fähigkeiten wie Seelenreise, Prophezeiung, → Vision, → Audition, Heilkraft, Glossolalie, großer Kampfesmut oder künstlerische Ausdruckskraft. Die Erfahrung der Ekstase kann im betroffenen Menschen sowohl das Gefühl überschäumender Lebensfreude wie eine tiefe Depression hinterlassen. Auf der symbolischen Ebene kann er die Erfahrung von (Wieder-)Geburt und Tod durchleben. Die Nähe ekstatischer Erfahrungen zu sexuell-orgiastischen Erlebnissen ist oft beschrieben worden.

Ekstatische Phänomene können sowohl als individuelle als auch als kollektive Erscheinungen auftreten und Menschen spontan und gegen ihren Willen überkommen. Sie können jedoch auch durch sensorische Deprivation (Fasten, Isolation, Krankheit, Schmerz, Meditation u.ä.) oder durch Überreizung (Trommeln, Tanz, Atemübungen, Gesang, Lichteffekte, Rauschdrogen u.ä.) gefördert werden. Während die Ekstase kulturgeschichtlich an religiöse Zeremonien oder meditative Praktiken gebunden ist, wird sie in der Gegenwart häufig auch auf unmittelbarem synthetischem Wege gesucht, besonders durch Musik- und Rauschmittelkonsum.

3.2. Ekstase aus medizinischer Sicht

Medizinisch ist es möglich, bei ekstatischen Zuständen eine Reihe von sich wiederholenden neurophysiologischen Veränderungen zu benennen. Zum äußeren Erscheinungsbild gehören Zittern und Zuckungen, bleiche Gesichtsfarbe, Schweißausbrüche, Muskelspannungen bis hin zur Starre und mitunter Ohnmachtsanfälle. Diese Reaktionen werden von dem paradoxen Befund begleitet, dass der Blutdruck niedriger wird, während sich der Puls gleichzeitig erhöht. Im Blutserum kann ein Absinken von Stress anzeigenden Substanzen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol festgestellt werden. Gleichzeitig taucht im Blut der vom Gehirn freigesetzte schmerzstillende Stoff Beta-Endorphin auf, der sich auch nach Abklingen des ekstatischen Zustandes noch eine Weile nachweisen lässt.

Die Hirnstromuntersuchungen (EEG) mit Wechselstrom von Felicitas D. Goodman haben ergeben, dass in der Ekstase langsame Thetawellen im Bereich von vier bis sieben Hertz auftreten, die bei Erwachsenen sonst nur unmittelbar vor dem Einschlafen erscheinen. Untersuchungen mit Gleichstrom-EEGs zeigen, dass sich die elektrische Aufladung des Gehirns – die im gewöhnlichen Wachzustand sehr stabil ist und sich auch bei Anspannung um höchstens 250 Mikrovolt verändert – in der religiösen Ekstase um bis zu 2000 Mikrovolt abweichen kann.

Diese neurophysiologischen Veränderungen in ekstatischen Zuständen sind – im Unterschied zu ihren psychologischen und kulturellen Aspekten – über alle geographischen Grenzen hinweg auffallend gleichförmig und dürften universale anthropologische Konstanten darstellen.

4. Religionsgeschichte

Die in George P. Murdocks Human Relations Area Files und Atlas of World Cultures aufgenommenen 488 ethnischen Gesellschaften lassen zu annähernd 90% das Vorkommen von Trancezuständen erkennen. Trance kann damit nahezu als ein universales Phänomen betrachtet werden. Ihr Vorkommen stellt keine regionale, kulturelle oder gar ‚rassische’ Besonderheit dar. Sie tritt in Form von Ekstase oder Besessenheit auf.

Bereits Max Weber hat darauf aufmerksam gemacht, dass ekstatisch-charismatische Bewegungen „die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen“ (Wirtschaft und Gesellschaft III, §10,5) sind. Ein solches Charisma – „aus Not oder Begeisterung geboren“ – stellt ein Rebellionspotential dar und kann „eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung“ bewirken (ebd.). Es kann sowohl bei Propheten, Heilern und Rechtskundigen wie bei Jagdführern und Kriegshelden auftreten.

4.1. Ekstase

Hinweise auf ekstatische Phänomene finden sich bereits in den Bildern der steinzeitlichen Höhlen Südfrankreichs und Nordspaniens, die von paläolithischen Jägern und Sammlern genutzt wurden. Vor allem die eher skizzenhaften Felszeichnungen und Figuren in den entlegenen Nischen der Höhlen sprechen dafür, dass manche der hier rasch festgehaltenen Bildnisse als Folge ekstatischer Visionen entstanden sein könnten. Die völlige Reizarmut dieser unterirdischen Gänge und Kammern dürfte ein idealer Stimulus gewesen sein, um in tiefe Trancen zu verfallen und halluzinatorische Bilder zu sehen, die nach dem Aufwachen aus der Entrückung schnell auf die Felswand gemalt oder geritzt wurden.

Sichereren Boden betreten wir allerdings erst mit der ethnographischen Erforschung ekstatischer Phänomene. Typisch ist das Auftreten von Ekstatikern in den Jägergesellschaften der arktischen Inuit und der nordamerikanischen Indianer. Es handelt sich um Männer oder Frauen, die von einem Schutzgeist berufen werden, sich eine Zeit lang in die Wildnis zurückziehen, dort in einem Visionserlebnis ihre Initiation erfahren und gewöhnlich den Umgang mit einer Reihe von Schutzgeistern erlernen. Mit deren Hilfe gelingt es ihnen z.B., die ‚geraubten’ Seelen Erkrankter zurückzuholen, indem sie ihre eigene Seele auf eine Unterwelt- oder Himmelreise schicken. Sie nehmen religiöse sowie soziale und kulturelle Aufgaben wahr: Krankenheilungen, Hinweise zur Nahrungsbeschaffung, Beeinflussung des Wetters und der Fruchtbarkeit der Frauen, die Leitung ritueller Tänze und die Voraussage kommender Ereignisse. Die erfolgreichsten und geachtetsten Ekstatiker sind häufig Anführer ihrer sozialen Gruppe.

Große Beachtung fand der Ekstase-Schamanismus nordeurasischer Jäger- und Hirtenvölker, die Mircea Eliade – wohl zu Unrecht – für die Heimat des Schamanismus überhaupt hielt. Für Eliade war der Schamane „der große Meister der Ekstase“ und der Schamanimus eine „Technik der Ekstase“. Den Schamanen charakterisierte er durch die in Initiationskrankheiten und -träumen erlangten außergewöhnlichen Kräfte und die Fähigkeit, seine Seele willentlich vom Körper zu trennen, im Geist Himmels- und Unterweltreisen anzutreten und mit Geistwesen bzw. der übersinnlichen Welt Kontakt aufzunehmen, um zu wahrsagen oder für seine Patienten Heilungen zu bewirken. Auch Eliade verwies bereits darauf, dass der Schamane unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen ausüben kann.

Weiterhin ist das Auftreten von Ekstase für Pflanzergesellschaften charakteristisch, die sich bis heute in tropischen Gegenden finden, etwa in den Stromgebieten des Amazonas und des Kongo oder in Südostasien. Der extensive Anbau wird in diesen Gesellschaften häufig in Form von Brandrodungsbau praktiziert. Während die Männer die Rodungsarbeiten durchführen, obliegt den Frauen die Aussaat und die Pflege der Pflanzen, die mit zahlreichen rituellen Bestimmungen verbunden sind. Die Männer helfen ihnen bei der Ernte. In Pflanzergesellschaften haben Frauen einen hohen Anteil an ekstatischen Phänomenen.

Kriegerisch-ekstatische Elemente sind aus der germanisch-skandinavischen Geschichte bekannt. Die Mitglieder von Männerbünden verstehen sich als ekstatische Krieger Odins und bilden mit den Geistern des wilden Totenheeres dessen „wütige“ Schar. Sie verfügen im ekstatischen berserksgangr über ungewöhnliche Kräfte. Auch Odin selbst werden ekstatische Zustände nachgesagt. Um sich die Weisheit der Runen anzueignen, hängt er neun Tage und neun Nächte an einem Baum. Sein achtbeiniges Pferd Sleipnir (achtbeinige Pferde gelten in verschiedenen Kulturen als Schamanenpferde) trägt seinen Reiter in die Unterwelt, um die Seele Balders von dort zurückzubringen. Odin wird zudem die Fähigkeit nachgesagt, körperlich wie tot dazuliegen, zugleich jedoch in Tiergestalt umherzueilen. Der durch Initiation und Kult vermittelten Technik visionär-ekstatischer Bewusstseinserweiterung entspringen nach germanischer Überzeugung zudem Dichtkunst und Magie.

4.2. Besessenheit

Besessenheitszustände sind typisch für die Ackerbau- und Viehzüchtergesellschaften Zentralasiens oder für die (sub-)tropischen Agrargesellschaften. Diese Gesellschaften zeigen zumindest Ansätze oder bereits entwickelte Formen sozialer Stratifizierung und politischer Hierarchisierung. Neben Medien, die von Geistern besessen werden, treten in diesen Gesellschaften gewöhnlich auch Priester und andere religiöse Spezialisten (z.B. Heiler) auf.

Als Beispiel sei hier auf die turksprachigen Kasachen im zentralasiatischen Wüsten- und Gebirgsgürtel verwiesen, deren nomadische Tradition bis ins 20. Jh. reicht und deren Wirtschaft ursprünglich auf der Zucht von Schafen, Pferden, Rindern und Kamelen beruhte. Der kasachische Schamane (baksy) versetzt sich mit Musik und Liedern in eine Trance, ruft seinen Hilfsgeist herbei, wird schließlich von ihm in Besitz genommen, hat Schaum auf den Lippen und beginnt unter dem Einfluss des Geistes zu reden und zu handeln. In diesem Trancezustand ist er in der Lage, die vorgeschriebenen Ritualhandlungen auszuführen und auf Fragen Außenstehender zu antworten. Seine Trance kann auf Umstehende, besonders Patienten, überspringen. In Trance ist der baksy in der Lage, glühende Metallgegenstände in die Hand zu nehmen, lange Zeit barfuß durch Eis und Schnee zu laufen oder mit spitzen und scharfen Gegenständen auf sich einzustechen und zu schlagen, ohne sich zu verletzen.

Besessenheitszustände sind auch typisch für ostafrikanische Viehzüchtergesellschaften. Bei den Dinka, Rinderzüchtern im Gebiet des Oberen Nil, gelten Wahrsager als von einer Gottheit in Besitz genommen. Angesehene Wahrsager werden als ran nhialic „Mann der Gottheit“ oder als aciek „Prophet“ bezeichnet. Sie sind in der Lage wahrzusagen, Krankheiten zu behandeln und die Ursachen von Missgeschick zu erkennen. Wenn ein Prophet in Trance geht, beginnen die Umsitzenden zu singen. Nach einer Weile beginnt das Medium zu zittern, zu stöhnen und schwer zu atmen. Die Gottheit dringt dann in seinen Körper ein. Schließlich teilt sich die Gottheit durch den Mund des Mediums mit. Besonders angesehenen Propheten wird sowohl eine enge Verbindung zu ihren Clan-Gottheiten wie zum Hochgott nachgesagt, wodurch sie dem Priesterstand nahe stehen. Solche Propheten müssen nicht notwendigerweise besessen werden, um prophezeien zu können. Sie scheinen einen unmittelbaren Einblick in den göttlichen Willen zu haben und können Anderen durch ein bloßes Wort oder eine Geste Hilfe oder auch Schaden zufügen.

Soweit sich aus den erhalten gebliebenen Zeugnissen rekonstruieren lässt, ist auch für den Alten Orient von einem Auftreten von Besessenheits-Trancen auszugehen. Schon in den Überlieferungen der babylonischen Religion spielen die Prophetinnen der Göttin → Ischtar (die im gesamten Alten Orient verehrt wurde) eine bedeutende Rolle, denen die Göttin einwohnt und sie als ‚Sprachrohr’ benutzt. Die Prophetinnen verkünden den Willen der Göttin entweder in der dritten Person oder in der Ich-Form.

Die Tontafeln aus Mari am mittleren Euphrat aus dem frühen 2. Jahrtausend v. Chr. dokumentieren die frühe Phase eines Stadtkönigtums inmitten segmentärer Nomadengesellschaften (→ Mari). Die Institution trancehafter Kultprophetie besitzt zu dieser Zeit in Mari und seinen Nachbarstaaten offenbar ein hohes Ansehen und politischen Einfluss. Propheten und Prophetinnen, die im Tempel in Trance fallen, werden als muchchum bzw. muchchutum bezeichnet. L. L. Grabbe charakterisiert sie als „spirit mediums“ und ihren Zustand als „spirit possession“. Visionären → Träumen und → Auditionen kommt in Mari eine große Bedeutung zu.

Aus Phönizien ist ein Fall von Besessenheit durch den Bericht des Ägypters Wen Ammon über seinen Besuch am phönizischen Hof im 12. Jahrhundert v. Chr. bekannt (→ Phönizien; Galling, 1979, Nr. 17; Texte aus Ägypten [dort unter Wenamen]). Als der phönizische König den Göttern opfert, ergreift eine Gottheit überraschend Besitz von einem seiner Männer und versetzt ihn in Trance. Dieser verkündet ein Orakel, das den König ermahnt, den Tribut zu bezahlen, an den Wen Ammon ihn erinnern soll.

Die politische Bedeutung solcher Besessenheitspropheten wird deutlich an der Verpflichtung der Vasallen des assyrischen Reiches durch ihren König Asarhaddon (681-668 v. Chr.), keinem machchu (Besessenheitspropheten) Gehör zu schenken, wenn sich dieser gegen den assyrischen Thronfolger ausspricht (Vasallenvertrag Asarhaddons mit medischen Fürsten §10, TUAT I,2, 163).

Auch das Alte Testament setzt bei den Nachbarvölkern Israels das Auftreten von Besessenheitsprophetie voraus. Num 22-24 erzählt, dass der Moabiterkönig Balak den Propheten Bileam, über dessen Herkunft das Alte Testament allerdings unterschiedliche Angaben macht, für seine Zwecke zu engagieren versucht. Auch von → Bileam ergreift der Geist Gottes Besitz. Er wird geschildert als ein Prophet, der „daliegt mit entschleierten Augen“ (Num 24,4c), also in der Lage ist, in schweren Trancen eine visionäre Schau zu erleben. Die Historizität des Propheten Bileam wird durch seine Erwähnung in einer der Inschriften von Tell Dēr ‘Allā (→ Sukkot [Tell Der Alla]) bezeugt (Hoftijzer, TUAT 2,1, 138-148; ).

Ebenso rechnet das Alte Testament mit Besessenheitsphänomenen bei Propheten des Gottes Baal (→ Baal). 1Kön 18,26ff. berichtet von einer großen Gruppe kanaanäischer Propheten, die um einen Opferaltar Baals ‚hinken’, den Namen ihres Gottes anrufen, sich mit Messern und Spießen selbst verletzen und sich in eine verzückte Raserei versetzen, um mit ihrem Gott Kontakt aufzunehmen. Diese Beschreibungen kanaanäischer Ritualpraktiken sind zwar Erweiterungen bzw. Bearbeitungen eines späteren Redaktors und gehören nicht in den ursprünglichen Erzählzusammenhang, doch schildern sie Elemente eines Kultes, die durch Angaben bei antiken Schriftstellern wie Heliodor (4. Jh. n. Chr.) und Apuleius (2. Jh. n. Chr.) für den Bereich der syrischen Religion durchaus bestätigt werden.

In den griechischen Überlieferungen finden sich zahlreiche Hinweise auf Besessenheitsphänomene. Ein altes und ursprüngliches Element der griechischen Kultur dürften die Sibyllen darstellen: von einer Gottheit besessene Frauen, die meistens Unheil prophezeien. Heraklit berichtet von ihnen: „Mit bebenden Lippen, ernst, schmucklos und ungesalbt spricht die Sibylle Worte, die durch ein Jahrtausend klingen – denn sie ist vom Gott inspiriert“ (Fragm. 92).

Das bekannteste Beispiel der Antike findet sich in Delphi, dem Orakelheiligtum des Apollo. Die Weissagungen der Prophetin Pythia, die vor ihren divinatorischen Verkündigungen von einem mantischen Geist (pneuma mantikon) besessen wird, dürften archaischen Lokaltraditionen entsprechen, da unterhalb des Apollotempels alte Kultmale an ein Orakelheiligtum der Erdmutter Gaia erinnern, das Apollo nach einem Mythos übernahm. Religionsgeschichtlich könnten Beziehungen zu den Sibyllen bestehen (→ Divination in Griechenland).

Ekstase 1

Die orgiastischen Feiern des ursprünglich aus Thrakien oder Kleinasien stammenden Dionysos-Kultes dürften hingegen erst in späterer Zeit nach Griechenland gelangt sein und bleiben in der Antike umstritten. In den nächtlichen Feiern dieses Kultes drehen sich die Begleiterinnen des Gottes (Mänaden; Abb. 1) und die teilnehmenden Frauen in wirbelnden Tänzen, geraten in einen rauschhaften Zustand und werden ‚des Gottes voll’. Dieser Kult findet besonders in den unteren Schichten seine Anhänger und breitet sich in hellenistischer Zeit rasch aus.

In den ebenfalls orgiastischen Mysterien des Kybele-Attis-Kultes verehren die durch Musik, Tanz und blutige Praktiken erregten Eunuchenpriester die Göttin Kybele. Mit Flöten, Becken, Rasseln und Pauken steigern sich die Kybele-Diener in eine hemmungslose Raserei. In ihrer Vorstellung erfüllen die Korybanten, dämonische Gefolgsleute der Göttin, und die Göttin selbst die Gläubigen mit der göttlichen Kraft der Besessenheit. Wenn auch die Verehrung der aus Kleinasien stammenden Muttergöttin Kybele schon in spätarchaischer Zeit in Athen bekannt ist, so gehört die rapide Ausbreitung des Kybele-Attis-Kultes jedoch erst in die hellenistische Zeit.

Die Expansion des Dionysos-Kultes und des Kybele-Attis-Kultes in der hellenistischen Welt sind unter den Lebensbedingungen der hellenistischen Zeit als Anzeichen für ein – im Sinne Max Webers – erhebliches Rebellionspotential in den unteren Schichten zu verstehen, das – wenn auch nicht unumstritten – eben noch geduldet wurde.

5. Altes Testament

Ekstatische Erfahrungen im engeren Sinn, in denen die Seele aus dem Körper ‚austritt’ und sich auf den Weg zu einer übermenschlichen Macht bzw. in eine jenseitige Region begibt, werden in den Überlieferungen des Alten Testaments zwar als bekannt vorausgesetzt, jedoch zumindest im → deuteronomistischen Geschichtswerk ausdrücklich verworfen (Dtn 30,11-14). Zwar schildert das Alte Testament einzelne Gottesbegegnungen (Mose Ex 19,3-6; Jesaja Jes 6; Micha, der Sohn Jimlas, 1Kön 22,19ff.; Jeschua Sach 3,1-7), jedoch haben diese Begegnungen einen visionären und keinen ekstatischen Charakter.

5.1. Hebräische Begriffe

Es gibt aber zahlreiche Berichte im Alten Testament, in denen ein Mensch bzw. eine Gruppe vom → Geist Gottes ergriffen wird. Solche Besessenheitserfahrungen werden gewöhnlich mit der Formel צלח רוח beschrieben, die Luther mit den Worten „der Geist kam über XY“ wiedergibt. Wörtlich bedeutet צלח allerdings „eindringen / durchdringen“ und will deutlich machen, dass der göttliche Geist vom Körper des Betroffenen Besitz ergreift und in ihn fährt.

Den einem solchen ‚Besessen-Werden’ folgenden Erregungszustand beschreibt das Alte Testament mit dem Verb נבא , das in seiner Grundbedeutung wohl als ‚tobend reden’ zu verstehen ist und in seiner kontextuellen Bedeutung mit „in prophetischer Begeisterung reden“ übersetzt werden kann.

5.2. Besessenheit - nicht Ekstase

Anschaulich wird dieser Vorgang in 1Sam 10,6 beschrieben: „Der Geist des Herrn wird von dir Besitz ergreifen, so dass du mit ihnen (den Propheten aus ‚Gibea Gottes’) in prophetischer Begeisterung reden wirst. Du wirst umgewandelt und ein anderer Mensch werden.“ Der Vers konstatiert, dass an dem vom → Geist Ergriffenen signifikante Verhaltensänderungen zu beobachten sind, die einem Identitätswechsel gleichkommen und den Betroffenen für Außenstehende als eine andere Person erscheinen lassen.

Es hat sich in der alttestamentlichen Wissenschaft weithin eingebürgert, diesen Erregungszustand als ‚Verzückung’ oder als ‚Ekstase’ zu bezeichnen. Da Ekstase im wörtlichen Sinne das „Aus-sich-Heraustreten“ (der Seele aus dem Körper) bzw. das „Außer-sich-Sein“ meint, während das als נבא beschriebene Verhalten gerade durch das Eindringen (Intrusion) eines fremden Geistes in eine Person bewirkt wird, wäre es angemessener, die hier zu untersuchenden Phänomene – wie in der Ethnologie üblich – mit dem Begriff ‚Besessenheit’ zusammenzufassen.

In welchem Zeitraum diese Phänomene in Israel zum ersten Mal auftraten, kann aus den Überlieferungen nicht schlüssig rekonstruiert werden. Doch bereits für die Vorfahren Israels, die als Hirtennomaden in den Randgebieten Kanaans lebten und einen regen Austausch mit den sesshaften Ackerbauern pflegten, muss unter vergleichenden ethno-soziologischen Gesichtspunkten mit dem Auftreten von Besessenheitsphänomenen gerechnet werden. Ebenso gehören die in Kanaan sesshaft gewordenen israelitischen Ackerbauern zum Gesellschaftstypus mit vorherrschender Besessenheitstrance.

5.3. Wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs

Die kulturgeschichtliche Betrachtung dieses Themas begann mit einer Untersuchung G. Hölschers (Die Profeten, 1914). Hölschers These, dass die Besessenheitsprophetie in Israel kein Erbgut aus nomadischer Zeit sei, sondern auf kanaanäischen Einfluss zurückgehe, ist allerdings nur durch den Einfluss der seinerzeit vorherrschenden Diffusionstheorie zu erklären, die von der Prämisse ausging, dass gleichartige Erscheinungen in verschiedenen Kulturen von einem gemeinsamen Ursprungsort ausgegangen sein und sich durch direkte oder indirekte Entlehnung verbreitet haben müssen.

Unter dem Einfluss des Diffusionismus stand auch der englische Gelehrte Th. H. Robinson (Prophecy and the Prophets, 1923), der glaubte, das Diffusionszentrum des Prophetismus Kleinasiens und Phöniziens/Palästinas ausgemacht zu haben. Urheber soll die ‚mysteriöse Rasse’ der Hethiter gewesen sein.

Die Kritik an Hölscher trifft auch die Voraussetzungen der Anschauung A. Jepsens (Nabi, 1934), dass das Prophetentum zunächst von den kanaanäischen Nachbarvölkern übernommen und dann in Israel umgestaltet und weiterentwickelt wird. Jepsen ging noch von der Voraussetzung aus, dass es keine Belege für die Existenz einer (den israelitischen Befunden ähnlichen) Besessenheitsprophetie außerhalb des kanaanäischen Kulturkreises gäbe. Angesichts der ethnographischen Quellenlage zur Zeit Jepsens ist diese Unkenntnis allerdings nicht zu entschuldigen.

J. Lindblom (Prophecy, 1962) hat hingegen richtig erkannt, dass sich das Vorkommen von mit Prophetie verbundenen Phänomenen wie Ekstase und Besessenheit nicht auf bestimmte geographische Gebiete beschränken lässt und nicht mit besonderen Völkern oder gar ‚Rassen’ in Verbindung zu bringen ist. Lindblom stellt unter Berücksichtigung des ihm bekannten ethnographischen Materials vielmehr fest, dass Ekstase und Besessenheit tendenziell universale kulturelle Erscheinungen sind und damit die Frage nach dem ‚Ursprung’ dieser Phänomene in Israel prinzipiell nicht zu beantworten ist. Dabei lässt Lindblom durchaus offen, dass Israel gewisse Vorstellungen und Begriffe, die es nach der Sesshaftwerdung mit diesen Vorstellungen verband, von seinen kanaanäischen Nachbarn übernommen haben könnte.

Lindbloms Beobachtungen werden von den umfassenden kulturvergleichenden Untersuchungen von E. Bourguignon (1973) und M.J. Winkelman (1992) bestätigt: Trancezustände sind universale Phänomene, die mit bestimmten soziokulturellen Gegebenheiten verbunden sind und weder auf einen historischen Anfang noch auf ein geographisches ‚Diffusionszentrum’ zurückgeführt werden können. Auch die kritischen Einwände von F. Kressing (1997) widerlegen diese These nicht, sondern differenzieren sie: Sowohl in Viehzüchter- wie in Ackerbaugesellschaften ist mit Besessenheitsphänomenen zu rechnen, ohne dass das Auftreten ekstatischer Elemente deswegen prinzipiell auszuschließen wäre.

Eine Überprüfung der alttestamentlichen Belegstellen bestätigt diese Arbeitshypothese. Als Ausgangspunkt der Untersuchung bietet sich die einen alten und ursprünglichen Eindruck machende Erzählung von Sauls Besuch bei der Totenbeschwörerin in En-Dor (1Sam 28,3-25) an.

5.4. Besessenheit im Alten Testament

5.4.1. Propheten

Die Erzählung von → Sauls Besuch bei der Totenbeschwörerin in En-Dor (1Sam 28,3-25) verweist durch die Feststellung, dass Saul die Toten- und Geisterorakel mit einem allgemeinen Verbot belegt hat, auf deren zuvor nicht nur vereinzeltes Vorkommen (→ Totenkult). Sein Verstoß gegen das eigene Verbot lässt erahnen, wie tief die Sitte der Totenbefragung zu Sauls Zeit verbreitet war. Die Tatsache, dass die Totenbeschwörerin nicht selbst eine Unterweltreise antritt, um den verstorbenen → Samuel im Totenreich zu kontaktieren, sondern dessen Geist „heraufholt“ (1Sam 28,13ff), muss als ein eindeutiger Beleg für eine Besessenheitstrance des Mediums gewertet werden. Das an die ‚Heraufholung’ sich anschließende Gespräch zwischen Saul und Samuel wird man sich durch den ‚Mund’ der Totenbeschwörerin vermittelt vorstellen müssen. Zu einem unmittelbaren Gedankenaustausch mit dem Toten wäre Saul nur in der Lage, wenn er selbst über mediale Fähigkeiten verfügen und damit der Dienste des Mediums eigentlich nicht bedürfen würde.

In der Frühphase der Königszeit treten ganze Gruppen von Besessenheitspropheten in Israel auf. Unter Klängen von Pauke und Flöte, Zither und Harfe ziehen sie über Land und verkünden ungefragt die Zukunft, auch in Form von Gerichtsbotschaften. Männer wie Elisa ragen aus der Schar dieser Namenlosen hervor (2Kön 2,5; 2Kön 4,38), in denen der → „Geist Jahwes“ wirkt.

Die Begeisterung dieser Propheten kann ‚ansteckend’ wirken. 1Sam 10,1-13 berichtet, wie der gerade von Samuel zum künftigen König gesalbte Saul in der Nähe Gibeas auf eine in Verzückung befindliche Prophetenschar stößt und der Geist Gottes in ihn „eindringt“, so dass er selber in Verzückung gerät.

Solche Übertragungen des Besessenheitszustandes sind religionsgeschichtlich auch aus anderen Kulturen bekannt. Ein griechischer Mythos erzählt, dass Dionysos die drei Töchter des Königs Kadmos mit Besessenheit schlägt, woraufhin die jungen Frauen die übrigen Frauen von Theben infizieren und mit ihnen in die Berge stürzen, wo sie orgiastische Rituale feiern. Diesem Prinzip folgen alle dionysischen Festlichkeiten: Dionysos erscheint mit seinem Gefolge bei den nächtlichen Kultfeiern, die teilnehmenden Frauen geraten in einen Besessenheitszustand und drehen sich in wirbelnden Tänzen. Auch wer sich dem Rausch entziehen will, wird – gegen seinen Willen – von der Macht der Begeisterung mitgerissen und schließt sich der verzückten Schar der göttlich Besessenen an.

Das alttestamentliche Motiv der Besessenheitsübertragung wird noch gesteigert in 1Sam 19,18-24. Samuel tritt in dieser Erzählung als Anführer einer Schar von Propheten auf, die in Najot in → Rama lebt. Die genaue Lage und Bedeutung dieses Ortes ist unbekannt. Die Episode scheint jedoch nahe legen zu wollen, dass es sich um eine Prophetensiedlung handelt und von diesem Ort als Zentrum einer prophetischen Bewegung eine besondere Ausstrahlung ausgeht. Dreimal schickt Saul Boten nach Najot, die jedes Mal – wenn sie sich der Schar der Propheten nähern – vom Geist Gottes durchdrungen und in einen Begeisterungszustand versetzt werden. Schließlich kommt Saul selbst nach Najot und fällt in eine besonders schwere Trance: schon auf dem Hinweg gerät er in Verzückung, reißt sich seine Kleider vom Leib, tanzt vor Samuel, verliert schließlich sein Bewusstsein und liegt einen ganzen Tag lang nackt auf dem Boden.

Es verwundert nicht, wenn diese vom Geist Ergriffenen auch in alttestamentlicher Zeit mitunter als „Wahnsinnige“, „Verrückte“, „Schwätzer“ oder „Betrunkene“ bezeichnet werden (vgl. 2Kön 9,11; Hos 9,7; Jes 28,7). Persönlichkeitsfremd erscheinende Verhaltensweisen des Besessenen, Veränderungen der Mimik und der Sprechweise unterliegen einer ambivalenten Deutung. Letztendlich hängt die Beurteilung des Besessenheitszustandes von der Wertung des Besitz ergreifenden Geistwesens ab. Es kann sich um einen Zustand göttlicher Begeisterung oder um eine durch einen Kultakt (Exorzismus) zu beseitigende pathologische Erscheinung halten.

Die Erzählung von den siebzig Ältesten zur Zeit des Mose, die bei der Stiftshütte vom Geist ergriffen werden (Num 11,25b-29), kann nicht als historisches Dokument der Frühzeit Israels gewertet werden. Sie projiziert Auseinandersetzungen der Königszeit in die nomadisch gedachte Vergangenheit Israels und reflektiert das Problem freier prophetischer Äußerungen. Die Episode lässt eine Spannung zwischen der institutionell ungebundenen Prophetie (repräsentiert durch die spontan vom Geist ergriffenen Ältesten) und einem verliehenen Amtscharisma (repräsentiert durch den widerstrebenden Josua als Vertreter der Institution des Stiftzeltes) erkennen. Mose – der hier selbst zu einem vom Geist ergriffenen Propheten stilisiert wird – ergreift leidenschaftlich Partei für den unabhängigen prophetischen Geist und wünscht sich, dass „alle im Volk Jahwes vom Geist durchdrungen werden“. Historisch belegen diese Verse, wie in späterer Zeit um die Legitimität der Besessenheitsprophetie gerungen wird. Der Verfasser dieser Zeilen versucht, diese Form der Prophetie auf Mose selbst zurückzuführen und von ihm ausdrücklich rechtfertigen zu lassen.

5.4.2. Heerführer

Der Geist ergreift jedoch nicht nur von Propheten, sondern auch von Heerführern Besitz. Besonders anschaulich wird dieser Vorgang angesichts der Ammoniterbedrohung in 1Sam 11,6-7 (→ Saul) geschildert: „Da drang der Geist Gottes in Saul ein (צלח), als er diese Worte hörte, und sein Zorn entbrannte sehr. Und er nahm ein Paar Rinder und zerhackte sie und sandte davon in das ganze Gebiet Israels durch die Boten und ließ sagen: Wer nicht mit Saul und Samuel auszieht, mit dessen Rindern soll man ebenso tun. Da fiel der Schrecken Jahwes auf das Volk, so dass sie auszogen wie ein Mann.“

Die charismatische Ergriffenheit des Heerführers ist in der Frühzeit Israels ein Mittel, im Bedrohungsfall die Segmentation der israelitischen Familienverbände zu überwinden und mehrere Gruppen oder Stämme zu einem gemeinsamen militärischen Vorgehen zu vereinen. Der Geist Gottes befähigt die Ergriffenen zu Führungsaufgaben (vgl. Ri 3,10; Ri 6,34; Ri 11,29) und verleiht ihnen die notwendige Begeisterungsfähigkeit für den militärischen Bündnisschluss. Das Charisma dieser Führungspersönlichkeiten kann mit Weber „eine als außeralltäglich … geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften (begabt) oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer’ gewertet wird“ (Wirtschaft und Gesellschaft, 140). Die charismatische Befähigung ist allerdings zeitlich begrenzt und erlischt gewöhnlich mit der Beseitigung der (meist durch äußere Bedrohung entstandenen) Krisenursachen.

Die Inspiration zu einem gemeinsamen Abwehrkampf kann auch von einer Frau und Sängerin wie Debora ausgehen (Ri 4-5; Ri 4,4 bezeichnet sie als Prophetin; → Debora). Selbst ein gesellschaftlicher Außenseiter wie Jeftah, Sohn einer → Prostituierten und Söldnerführer, kann vom Geist Gottes ergriffen (Ri 11,29) und zum Heerführer werden und eine israelitische Streitmacht erfolgreich in die Schlacht führen (→Jeftah). Solche Rollen sind weder an Herkunft, politisches Amt oder Geschlecht gebunden, sondern entspringen allein der göttlichen Inspiration.

Ebenso, wie die prophetische Begeisterung ansteckend wirken kann, ist auch die charismatische Erregung eines militärischen Anführers übertragbar. Als Saul angesichts der angreifenden → Ammoniter vom Geist Gottes erfasst wird (1Sam 11,6), breitet sich der „Schrecken Jahwes“ (pāchād jhwh) auf das ganze Volk aus und bewirkt, dass „sie ausziehen wie ein Mann“ (1Sam 11,7). Nachdem also Saul zunächst allein vom Geist ergriffen ist, gerät das ganze Volk in eine kriegerische Begeisterung. Begrifflich und inhaltlich macht das Alte Testament keinen Unterschied, ob der „Geist Gottes“ von Propheten oder militärischen Anführern Besitz ergreift

Religionsgeschichtliches Vergleichsmaterial zur antiherrschaftlichen Funktion charismatischer Erregungszustände findet sich z.B. in der Untersuchung von K. Schlosser über afrikanische Propheten besonders in der Kolonialzeit. Schlosser beschreibt die afrikanischen Propheten als „nervös außerordentlich erregbare Menschen“, die „starke suggestive Kräfte“ auf Menschen in ihrer Umgebung ausüben (1949, 403) und denen es gelingt, auch zersplitterte und schlecht bewaffnete, unterjochte Volksgruppen gegen überlegene Militärverbände zu führen.

6. Zwischentestamentiche Literatur

Mit der Verfestigung zentralisierter staatlicher und religiöser Institutionen in Israel nimmt die Bedeutung ekstatischer Phänomene ab. Die Apokryphen des Alten Testaments kennen ekstatische Phänomene zwar von herausragenden religiösen Persönlichkeiten der Vergangenheit (Henoch, Daniel, Abraham, Jesaja, Esra), erwähnen sie jedoch kaum noch für ihre eigene Zeit (eine Ausnahme bildet äthHen 71,11). Dem Abklingen ekstatischer Phänomene entspricht der Bedeutungsverlust des Prophetentums in Israel in dieser Zeit.

7. Neues Testament

Auch im Neuen Testament findet die Ekstase nur in einem begrenzten literarischen Rahmen Beachtung. Am ausführlichsten widmet sich der Verfasser der Apostelgeschichte der Thematik. Nach Apg 10,10; Apg 11,5 gerät Petrus in Joppe „in Verzückung“ und nach Apg 11,15 springt dieser Zustand auf drei weitere Männer über. Paulus wird nach Apg 22,17 im Tempel von Jerusalem vom Geist ergriffen. Doch nicht nur die Führungspersönlichkeiten der jungen christlichen Gemeinde wie Petrus und Paulus und die übrigen Apostel (vgl. Apg 2,4), sondern auch gewöhnliche Gemeindeglieder und selbst Heiden werden vom Geist „erfüllt“ und erlangen die Fähigkeit der Zungenrede (Apg 10,44-46; Apg 19,6).

Paulus erwähnt in 2Kor 12,4 das ekstatische Erlebnis einer Himmelsreise: Er „wird entrückt in das Paradies und hört unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann“. Dass ihm ekstatische Erfahrungen auch ansonsten nicht unbekannt sind, belegt 2Kor 5,13. Seine Berufungsvision vor Damaskus wird allerdings weder in dem Fremdbericht Apg 9,3-9 noch in seinen Selbstzeugnissen 1Kor 9,1; 1Kor 15,8; Gal 1,16 mit ekstatischen Zügen beschrieben.

8. Nachwirkungen in der Kirchengeschichte

Ekstatische Erlebnisse treten erst wieder mit dem (als häretisch betrachteten) Montanismus in den Vordergrund des religiösen Interesses. Um 156 n. Chr. behauptet Montanus, der Begründer dieser ursprünglich wohl aus Phrygien stammenden prophetischen Bewegung, in Trance mit der Stimme des heiligen Geistes zu sprechen. Zusammen mit den beiden Prophetinnen Prisca und Maximilla reist er durch ganz Kleinasien und verkündet seine Lehre der baldigen Wiederkunft Christi.

Im frühchristlichen Mönchtum sind ekstatische Erlebnisse zwar nicht unbekannt, jedoch spielen sie keine herausragende Rolle. Die Mönche streben nach der Hesychia (Seelenruhe, Stille) und stellen bei Erlebnissen der ‚Begeisterung’ die Frage, ob sich ihnen der göttliche oder ein dämonischer Geist genähert hat.

In die kirchliche Theologie hält die Wertschätzung der Ekstase erst durch die um 500 n. Chr. verfasste mystische Theologie des pseudonymen Dionysius Areopagita Einzug. Die Ekstase als das „freie und rein von allem gelöste Heraustreten“ ist für Dionysius das Mittel, „zum überwesentlichen Strahl des göttlichen Dunkels emporgehoben zu werden“.

Diesen Ansatz greift die mittelalterliche Mystik des 13. Jahrhunderts auf. Bonaventura (1221-1274), der durch die Lebensgeschichte und Frömmigkeit des Franz von Assisi, der 1224 in mystischer Verzückung die Wundmale Christi empfing, religiös geprägt wurde, führt Ekstase bzw. Verzückung (verstanden als Entrückung von allen leiblichen Empfindungen) als systematische Elemente des kontemplativen Weges in die abendländische Mystik ein. In Anlehnung an die spirituelle Stufenfolge des Dionysius (Läuterung, Erleuchtung und Vervollkommnung) vollendet sich für Bonaventura der kontemplative Weg in mystischer Verzückung als Vertrautheit mit dem gekreuzigten Christus.

Auch für Jan van Ruysbroek (1294-1381) folgt der mystische Weg einer spirituellen Stufenfolge. Der menschliche Geist hat über drei „Klippen“ zu steigen, um sich der göttlichen Ruhe anzunähern. In der Nachfolge Christi erlebt der Geist in der ekstatischen Hingabe die „Brautfahrt Christi“. Solchen schwärmerischen Erfahrungen verdankt Ruysbroek seinen Beinamen „doctor ecstaticus“.

Stärker noch als unter männlichen Mystikern spielen Tranceerfahrungen in der Religiosität von Frauen eine Rolle. Die Anerkennung von Nonnen gründet in dieser Zeit häufig in ihrer charismatischen Autorität. Ekstatische Schilderungen finden sich etwa in den Aufzeichnungen der Mechthild von Magdeburg (ca. 1207 bis um 1282/94), die erotische Bilder des Hohenliedes aufgreift, um ihre mystischen Erfahrungen zu versprachlichen. Ähnliche erotisch-ekstatische Tendenzen herrschen bei Mechthild von Hackeborn (1242-1299) und Gertrud von Helfta (1256-1302) vor. Teresa von Avila (1515-1582) schließlich erfährt starke, auch körperlich geprägte Ekstasezustände und lehrt den mystischen Aufstieg von der Vereinigung über die Verzückung zur Liebeswunde.

In die Reformationsbewegung findet ein mystisch-ekstatischer Ansatz Eingang durch die beiden von Martin Luther (1483-1546) besorgten Ausgaben der Theologia Deutsch (1516 und 1518), obwohl er sich in späteren Jahren von der Mystik zunehmend distanziert. Fruchtbar wird dieser Ansatz unter den Täufern, die nach einer direkten, unvermittelten Aneignung des Göttlichen suchen. Ihr religiöses Ziel ist die mystische Vereinigung mit dem Göttlichen auf der Grundlage der Einwohnung Gottes in der menschlichen Seele. Die Täufer wollen ‚das Zeugnis des Geistes in sich’ verspüren.

In nachreformatorischer Zeit führt diesen Ansatz in Deutschland Jakob Böhme (1575-1624) weiter, für den ekstatische Erfahrungen in der Vereinigung mit Christus oder Sophia (der göttlichen Weisheit) gipfeln. Böhme beeinflusst Angelus Silesius (1624-1677) und Gottfried Arnold (1666-1714). In England löst der Wanderprediger George Fox (1624-1691) auf Versammlungen Massenekstasen aus, die bei vielen Hörern zu einem Zittern (engl. quake) führen, weswegen seine Anhänger auch als Quäker bezeichnet werden. John Wesley (1703-1791) ruft eine geistliche Erneuerungsbewegung ins Leben, die auf die Vergewisserung des eigenen Glaubens und die Erfahrung des Angenommenseins durch Gott zielt und zur Begründung des Methodismus führt. Auch bei methodistischen Evangelisationen kommt es in der Frühzeit zu Massenekstasen, die geradezu als Prüfstein des Missionserfolges gewertet werden können.

Methodistische Einflüsse spielen eine auslösende Rolle bei der Entstehung der Pfingstbewegung im frühen 20. Jahrhundert. Neben Bekehrung und Heiligung bildet für die Pfingstler die Geisttaufe die dritte geistliche Erfahrung. Sie ist mit verschiedenen Geistesgaben verbunden, besonders mit der ekstatischen Zungenrede (Glossolalie). Die Pfingstbewegung wiederum beeinflusst die Entstehung der charismatischen Bewegung in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA, für die „die Taufe im Heiligen Geist“ im Zentrum der religiösen Erfahrung steht. Durch diese „Taufe“ werden weitere Geistesgaben wie Heilung, Prophetie und Zungenrede freigesetzt, die in der Praxis zu einer ekstatischen Frömmigkeit führen. Charismatische Kirchen sind die derzeit am stärksten wachsenden christlichen Gemeinschaften weltweit.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

  • Mänaden-Relief. © Rainer Neu

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