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Ehre / Scham / Schande (NT)

(erstellt: Juni 2010)

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1. Ehre, Scham und Schande: soziale Regulative des Zusammenlebens

Der Begriff „Ehre“ (griech. time, doxa o.a.) bezieht sich in der Regel auf eine oder mehrere Personen und qualifiziert sie als anerkannte, womöglich sogar herausragende Menschen innerhalb eines sozialen Zusammenhangs. Er ist konnotiert mit sozialem Status und moralischer Integrität und lässt sich als positive Evaluation eines Menschen verstehen, der seiner eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung anderer Menschen zufolge „ehrbar“ ist bzw. der in seiner Haltung und Lebensführung gottes- und schöpfungsgemäßen Maßstäben genügen kann. Einem Individuum oder einer Gruppe kann Ehre zugeschrieben werden (etwa durch eine ehrenhafte Abkunft), oder sie kann erworben werden; unverzichtbar ist dabei der Rückbezug auf eine andere (soziale oder theologische Größe), von der aus die Evaluation gedacht wird: „Ehre“ ist eine relationale Größe und bestimmt sich von den Wertmaßstäben einer Gesellschaft oder Gottes her.

Wer diesen Wertmaßstäben nicht entsprechen kann, seine Ehre und Integrität also verliert, fällt in „Schande“. Mit dieser negativen Evaluation verbunden sind Verachtung, Lächerlichkeit, Gesichtsverlust.

„Ehre“ und „Schande“ als soziale (oder theologische) Begriffe bezeichnen also den Grad der Konformität mit den Wertvorstellungen einer Gesellschaft und / oder Gottes. Indem sie zu einem „ehrbaren“ Verhalten motivieren, das diesen Wertvorstellungen entspricht, erfüllen sie die Funktion eines sozialen (oder theologischen) Regulativs. Es dient der Kontrollierbarkeit und der Aufrechterhaltung des Zusammenlebens und der Zugehörigkeit, wenn festgesetzt werden kann, was „ehrbar“ und was „schändlich“ ist. Was dabei je nach sozialem Kontext als „ehrbar“ oder „schändlich“ bezeichnet wird, ist durchaus unterschiedlich. Beispiele dafür können die Wertmaßstäbe unterschiedlicher Kulturen sein, oder das diesbezügliche Verhältnis einer Subkultur zu der sie umgebenden „Leitkultur“; möglich ist auch, dass eine gottesbezogene Vorstellung von dem, was „ehrbar“ und was „schändlich“ ist, in Konkurrenz zu den gesellschaftlich vorherrschenden Wertmaßstäben tritt. Solche konkurrierenden Wertvorstellungen können Individuen vor die Wahl stellen, an welchen Evaluierungsgrößen sie sich orientieren wollen, wessen Konkretion von „ehrbarem“ und „schändlichem“ Verhalten sie sich zu eigen machen wollen.

Auf diese Wertmaßstäbe bezogen ist der Begriff der „Scham“. Damit ist einerseits das Gefühl benannt, das eine negative Evaluation nach sich zieht – wer erkennen muss, dass er den Wertmaßstäben, die er sich zu eigen gemacht hat, nicht genügt, ist beschämt bzw. schämt sich, d.h. er nimmt sich selbst als defizient wahr. Zum anderen lässt sich „Scham“ aber auch verstehen als Hüterin des Innenlebens: Sie entscheidet darüber, was der Öffentlichkeit zur Evaluation preisgegeben werden soll und was nicht. Schamlosigkeit und Unverschämtheit sind negativ konnotiert, insofern damit die Nichtanerkennung sozial (theologisch) vorgegebener „Regeln“ und Wertvorstellungen bezeichnet wird; Scham ist in diesem Sinne positiv zu verstehen als Akzeptanz der gesellschaftlich (theologisch) vorgegebenen Werte.

Scham schützt von daher die Integrität einer Person und motiviert zur Selbstkontrolle; als soziales Regulativ entlastet sie die Gemeinschaft von fehlerhaftem oder unangemessenem Verhalten einzelner. Als Gefühl steht sie der Reue nahe, bezieht sich aber auf die Person als Ganze, wohingegen Reue sich auf eine bestimmte Tat, Handlung o.ä. bezieht.

2. Ehre, Schande und Scham in der griechisch-römischen Antike

Im homerischen Griechenland ist das Thema Ehre stark mit kriegerischen Vorgängen assoziiert (vgl. Moxnes, 172 unter Berufung auf Finley). Die Perspektive, Ruhm zu erlangen, ist eine wichtige handlungsleitende Motivation.

Im Zusammenleben in der Polis bilden sich verschiedene Formen von Ehrungen und Ehrerweisen heraus. Die Werte, an denen entlang Ehre definiert wird, werden dabei „weicher“; anstelle aggressiver Werte (etwa eines Sieges im Kampf) werden nun Verdienste um die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens wichtiger (etwa die Finanzierung öffentlicher Gebäude oder Einrichtungen). Wer der Gesellschaft Wohltaten erweist, wird mit Macht, Einfluss und Ehre belohnt (vgl. ebd.). Ausdruck dieser Ehre sind etwa Name und Titel, Begrüßung und Geschenke, Kleidung und Schmuck, der Platz in der Sitzordnung beim gemeinsamen Mahl oder schließlich die Ausstattung von Grab und Begräbnis.

Auch die Philosophie hat ein (vorrangig ethisches) Interesse an dem, was ehrbar und schändlich ist. Hinzu tritt aber auch die Kritik an kenodoxia, an entleertem, falschem Ruhm bzw. an einem selbstsüchtigen Interesse am eigenen Status. Einzelne Gruppierungen, allen voran die → Kyniker, stellen durch ein bewusst schändliches Verhalten die gesellschaftlichen Maßstäbe für das, was als ehrbar gilt, in Frage. Der → Stoizismus steht einer „ehrsüchtigen“ Außenorientierung kritisch gegenüber; maßgeblich sei das Innere, das durch Ehre und Schmach nicht tangiert wird (vgl. Steger, 65; Domeris, 287). Auch die jüdische Subkultur kann zu dem, was in der hellenistischen Umwelt als Ehre und Schande angesehen wird, in Konkurrenz treten.

Mit der Ausbreitung des römischen Reiches (und den damit verbundenen Einschnitten für die griechische Stadtkultur im Osten des Reiches) verschiebt sich auch die Auffassung über Ehre und Schande. Ehre bezieht sich nun verstärkt auf die Nation, das römische Volk; thematisch wird „Ehre“ nun oft mit der Stellung des römischen Reiches im Verhältnis zu anderen Staaten in Verbindung gebracht. Damit geht ein deutlicher Zug ins Militärische einher, als individuelle Kennzeichen von Ehre gewinnen militärische Dekorationen an Bedeutung, Triumphzüge machen die mit militärischen Siegen verbundene Ehre augenfällig.

An der Ehre herausgehobener Menschen können nach griechisch-römischer Vorstellung auch untergeordnete Individuen partizipieren, womit sie ihrerseits die Ehre der Höhergestellten stabilisieren. So war es durchaus üblich, dass Rangniedrigere als „clients“ über vermögendere, einflussreichere „patrons“ an Ressourcen partizipieren konnten, die ihnen sonst nur schwer zugänglich waren, und im Gegenzug durch ihre Loyalität dem „patron“ gegenüber seine Stellung im sozialen Gefüge festigten.

Für „Scham“ gibt es im Griechischen zwei Begriffe: aischyne ist stärker mit dem assoziiert, wessen man sich schämt, wohingegen aidos sich allgemeiner verstehen lässt als ein Gefühl für das, was ehrenvoll und was schändlich ist, etwa im Sinne eines Schamgefühls, das naturwüchsig angelegt ist, aber durch Erziehung ausgebildet und aktualisiert wird (vgl. hierzu genauer Steger, 58ff). In diesem Sinn erhält aidos Bedeutung für die philosophische Ethik als Kriterium für das Streben nach Glück, in dem individuelles und soziales Glücksstreben zueinander in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden müssen: Ein allgemeines Wissen um Scham und Schamlosigkeit garantiert „eine gewisse moralische Durchschnittlichkeit und Einheitlichkeit in einer Gemeinschaft“ (ebd., 62); als Furcht-Scham entspringt aidos dem „Reibungsverhältnis von objektiver und subjektiver Moral“ (ebd., 65).

3. Ehre, Schande und Scham in der Bibel

Scham ist bereits in der Grunderzählung über das menschliche Dasein, in der Paradiesgeschichte, ein wichtiges Thema: Als das erste Menschenpaar seiner Verfehlung vor Gott gewahr wird, schämen sich die beiden – und zwar nicht nur ihrer Tat, sondern auch ihrer Nacktheit (anders als noch in Gen 2,25). Scham tritt so als grundlegende Verfasstheit des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen zutage, als etwas, womit in Beziehungen grundsätzlich zu rechnen ist: sie hat „die Funktion, als religiöser Verhältnisbegriff eine gestörte Beziehung zum mitmenschlichen Partner und zu Gott zu markieren“ (Steger, 70). Auch andere Beschämungen kennt die Bibel, assoziiert mit Nacktheit (Jes 20,1-5; Jes 47,23), Fehlverhalten (Esr 8,22; Esr 9,6; Ps 97,7; Jes 1,29; Ez 36,32; Dan 9,7f; Röm 6,21) oder einer Niederlage (2Sam 19,4; Mi 7,16; vgl. 2Kor 2,14, vgl. Marshall, 302); indem Gott Schuld aufdeckt, tritt er selbst als beschämender Akteur in Erscheinung (Ps 35,4.26; Ps 53,6; Jes 45,24; vgl. Steger, 71). Auch die vor allem im AT häufig zu findende Wendung „zuschanden werden“ (Ps 83,18; Ps 6,11; Ps 14,6; Ps 25,20; Jes 49,23; Jer 46,24 u.ö.) steht der Scham bzw. Beschämung nahe. Der Bezug zur Geschlechtlichkeit, der sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass Geschlechtsteile als „Scham“ bezeichnet werden können (Ex 4,25; Dtn 25,11; Ez 16,36; Sir 26,11; vgl. Ez 2,12), findet im NT eine neue Akzentuierung, indem ein „schamhaftes“ (und damit schickliches) Verhalten für Frauen darin gesehen wird, sich dem Mann unterzuordnen (vgl. 1Kor 11,4-15; 2Tim 2,9-15; mangelnde weibliche Scham ist auch Thema in Spr 9,13; Jer 3,3; vgl. Ez 16,27). Als Schamlosigkeit kann neben sexueller Zügellosigkeit auch Götzendienst gelten (Weish 13,17). Differenzierte Betrachtungen über das Schämen finden sich in Sir 4,24f.31; Sir 41,18-29; Sir 42,1-8; im Vordergrund stehen dabei Erwägungen darüber, wofür man sich schämen sollte und wofür nicht.

Gegenseitiges Beschämen oder Nicht-Beschämen sagt etwas über die Solidarität und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Person oder Gruppe aus (vgl. Rut 2,15; Hi 11,3; Hi 19,3; Ps 74,21; Mk 8,38; Lk 9,26; Hebr 2,11; Hebr 11,16): So beschämt Jesus seine Gegner (Lk 13,10-17; Lk 20,1-19; Lk 20,27-40, vgl. Moxnes, 173), die Christen sollen sich untereinander aber nicht beschämen (1Kor 4,14; 1Kor 11,22; vgl. Röm 14,3.10), wie sich Paulus auch des Evangeliums nicht schämt (Röm 1,16).

Während sich „Scham“ stärker auf das innere Erleben bezieht, bezeichnet „Schande“ eher die äußere Seite eines verunehrenden Geschehens (der Begriff „Schmach“ könnte dabei eine Mittelposition einnehmen). Die Konnotationen sind ähnlich: Niederlagen können ebenso als Schande oder Schmach erlebt werden (1Sam 11,2; 2Kön 19,3.26; 2Chr 32,21; Jes 20,4f; 2Makk 9,1-4) wie ein fehlerhaftes Verhalten und seine Folgen (Esr 9,7; Jer 6,15; Jer 23,40; Dan 9,16; Ob 10; Sir 5,17; 2Makk 5,7; Röm 1,24-27; Kol 3,5.8; Eph 5,12; vgl. Sir 19,5; Sir 20,26; Sir 21,26). Der Götzendienst und anderes religiöses Fehlverhalten bringen Schande über das Volk Gottes (Ex 32,7; Jer 3,24f; Jer 7,19; Ez 44,13; vgl. Jes 44,9.11; Hos 9,10; Mi 3,7; Sach 13,4; Weish 14,25; vgl. 2Petr 2,7.13; Jud 12f., ebenso sexuelles Fehlverhalten (Lev 19,29; Lev 20,11f; Dtn 22,21; Ez 22,11; Ez 23,29). Sexuelle Übergriffe auf Frauen ziehen als „Schändung“ Schande nach sich (Gen 34,5.13.27; 2Sam 13,12f; Sach 14,2; vgl. Jes 23,12; Jer 13,22), unter Umständen für die gesamte Gemeinschaft (Gen 34,7); wird eine Frau „geschändet“, so ist von der Schande auch derjenige Mann mit betroffen, der für die Ehre der Frau als verantwortlich gesehen wird (Lev 18,8.14.16; vgl. 1Sam 25,39). Als ehrabschneidende Handlung an Männern begegnet das Abschneiden des Bartes und der Kleider (2Sam 10,5). Weitere spezifisch weibliche Konkretionen von Schande können darin bestehen, keinen Mann (Jes 4,1; Mt 1,19; vgl. Tob 3,7.12) oder keine Söhne (Gen 30,23; Ps 113,9; vgl. Gen 16,4) zu haben oder sich schamlos zu verhalten (Sir 23,36; vgl. Spr 11,16; Ez 23,18; Hos 2,7), was allerdings nicht nur für Frauen Schande nach sich zieht (Hos 4,18). Was als Schande zu gelten hat, kann jedenfalls je nach Geschlecht unterschiedlich sein (1Kor 11,4.6.14; 1Kor 14,35).

Schande (Dtn 23,15) soll vermieden werden im Land und im Lager (Dtn 23,15) der Israeliten; dazu dient ein weisungstreues Leben (Ps 119,6.22; Sir 24,30; vgl. Röm 2,23). Eine solche Schande ist es etwa, Blutschuld (Num 35,33; vgl. Ps 26,10) oder Ehebruch (Hi 31,11; Spr 6,33; Jer 29,23) zu begehen, seine Söhne nicht zu beschneiden (Jos 5,9), Schweinefleisch zu essen (2Makk 6,25), einen Gast zu misshandeln (Ri 19,23f; dass dafür die Schändung einer Frau und deren Tod in Kauf genommen wird, macht diese Erzählung zu einem besonders abgründigen Abschnitt, vgl. Ri 20,3.5f.10). Auch Paulus setzt das Bedürfnis, Schande zu vermeiden, gezielt zur Motivation seiner Gemeinden ein (1Kor 6,5; 1Kor 15,34; 2Kor 9,4).

Wer in Schande steht, ist der Verachtung der anderen ausgesetzt (Neh 3,36; Ps 123,3); unbegreiflich ist das im Fall Hiobs, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, sich durch seine Widerfahrnisse aber dennoch Schmach und Schmähungen ausgesetzt sieht (Hi 10,15; Hi 16,10; Hi 19,5). Als Konkretion einer derartigen Schmähung begegnet etwa die Frage angesichts fremden Elends, „wo ist denn nun dein Gott“? (Ps 42,11; vgl. Ps 44,16).

Auch Schmach und Schande haben mit Zugehörigkeit, Loyalität und Solidarität zu tun: Unter Nachbarn sollen Schmähungen unterbleiben (Ps 15,3; vgl. Spr 11,12); von Feinden (vgl. hierzu Ps 74,10.18) sind sie eher zu ertragen als von Brüdern (Ps 55,13), unter Freunden können sie zum Ende einer Freundschaft führen (Sir 22,25.27). Kinder können mit ihrem Fehlverhalten auch ihren Eltern Schande machen (Spr 28,7; Spr 19,15; Sir 22,3-5; Sir 26,14; Sir 30,13). Allzu große Angst vor Schande und Scham kann jedoch auch zu fragwürdigen Handlungen führen (vgl. Sir 20,24f).

Schmach und Schande können auch um Gottes willen getragen werden (Ps 69,7f.10b; Jer 15,15; Klgl 3,30; Mt 5,11; Lk 6,22; Joh 9,28; Apg 5,41; 1Petr 2,23; Hebr 10,33; Hebr 12,2; Hebr 13,13; vgl. Jer 20,18; Weish 2,19); hier ist wie in Ps 42,11 (s.o.) die Zugehörigkeit zum Gott Israels Gegenstand der Schmähungen, die Schmähung Gottes (Ps 74,22; Ps 79,12; Jes 37,6.17) und die Schmähung dessen, der sich an ihn hält (Klgl 3,61; Klgl 5,1; Jo 2,17.19), können dabei ineinander übergehen (Ps 89,51f; 1Makk 1,29; Lk 10,16). Gott kann seinerseits diesen Feinden Schande zuteil werden lassen (Ps 78,66; Ps 83,17; Ps 109,29; Jer 20,11); auch ein Gesalbter ist davor nicht gefeit (Ps 89,46). Das Volk Gottes hofft aber auch darauf, dass Gott seine Schmach aufheben wird (Jes 25,8; vgl. Jes 45,17; Jes 54,4; Ez 34,29; Ez 39,26), wie sich der Erlöser Israels dem zuwendet, der von den Menschen verachtet ist (Jes 49,7; vgl. Mk 9,12). Gott will nicht, dass sein Name geschändet wird (Ez 39,7) und vergilt die Schmach, die ihm und seinem Volk angetan wird (Hos 12,15; vgl. Mi 7,10; Nah 3,5f; Zef 2,8).

Schmach, Schande und Scham werden sehr realistisch erlebt: Als Schamröte (Ps 69,7f; 2Thess 3,14; vgl. Jer 51,51), als etwas, das stumm macht (Ez 16,61) oder krank und das Herz bricht (Ps 69,21).

Noch beklemmender ist die Perspektive ewiger Schmach und Schande, wie sie in Dan 12,2 einer Auferstehung zu ewigem Leben gegenübergestellt wird.

Wer die Anerkennung seiner Umgebung genießt, in Ansehen steht oder einen hohen Rang in seiner Bezugsgruppe einnimmt, hat Ehre. Auch hier ist der Beziehungsaspekt entscheidend: Ehre hat man nicht für sich allein. Sie dort zu erweisen, wo sie ihren Ort hat, ist eine wichtige soziale Pflicht. Dies gilt besonders für die Eltern – sie zu ehren, ist als viertes Gebot eine der Grundfesten schöpfungsgemäßen Zusammenlebens (Ex 20,12; Dtn 5,16; Sir 3,3-13; vgl. Spr 15,20; Spr 19,26; Spr 23,22; Spr 30,17; Ez 22,7; Mi 7,6; Tob 4,3; Tob 10,13; Sir 7,29; Mt 15,4.6; Mt 19,19 par; Eph 6,2). Auch über eine unmittelbare Verwandtschaft hinaus ist es wichtig, ältere Menschen zu respektieren (Lev 19,32; vgl. Spr 16,31; Klgl 5,11f; Sir 8,7). Was die Ehre eines Menschen ausmacht, ist nur am Rande wichtig und wird unterschiedlich konkretisiert: für einen Jüngling ist es seine Stärke (Spr 20,29), für eine Frau ihr langes Haar (1Kor 11,15), für einen Armen womöglich seine Klugheit, für einen Reichen seine Güter (Sir 10,33).

„Ehre“ ist auch ein politischer Faktor (2Sam 10,3; 2Sam 19,44; Jdt 3,9; Jdt 5,2; Jdt 11,2); manche Auseinandersetzung zwischen Völkern lässt sich als Kampf um Ehre und Status verstehen. Mitunter kann „Ehre“ auch eine ökonomische Dimension haben als Anerkennung der Arbeit eines anderen (vgl. Num 22,37; 1Tim 5,17; evtl. auch 2Kor 11,10), oder es kann um die religiöse Legitimation eines politischen Herrschers gehen (1Sam 15,30; 2Kön 3,14). Könige genießen meist außerordentliche Ehren (2Chr 32,27.33; Jes 14,18f; vgl. Ez 16,13); in alter Zeit konkretisiert sich das etwa in dem „Brand“, der beim Begräbnis eines Herrschers veranstaltet wird (2Chr 16,14; 2Chr 21,19; Jer 34,5; allgemein Sir 38,16). Den biblischen Autoren ist es jedoch wichtig, dass auch königliche Ehren auf Gott zurückgehen (1Kön 3,13; 2Chr 1,11f; Dan 2,37; Dan 5,18), und dass „vor Gott kein Ansehen der Person gilt“, dass das Ansehen, das einer in seiner menschlichen Gemeinschaft hat (2Chr 19,7; Hi 34,19; Sir 35,15f; Röm 2,11; Gal 2,6; vgl. Hi 32,21; Sir 10,27; Kol 3,25; 1Petr 1,17), für Gott nicht maßgeblich ist.

Ehre ist ein umstrittenes, gefährdetes Gut. Davon zeugen Klagen darüber, dass die Ehre (heute würde man an dieser Stelle vielleicht von „Würde“ sprechen) eines Menschen von seinen Feinden mit Füßen getreten wird (vgl. Ps 4,3; Ps 7,6). Bewusst ist man sich aber auch dessen, dass einer, der in besonders hohem Ansehen steht, besonders tief fallen kann (Sir 20,11).

Religiöse Vollzüge haben die Ehre Gottes zum Ziel: das Wachen am Passafest (Ex 12,42), Musik (1Chr 16,42) und Lobgesang (Ps 66,2), Erstlingsgabe (Spr 3,9), Opfer (Sir 35,10) und Sabbatruhe (vgl. Jes 58,13), auch die Kollekte, die Paulus unter den Heidenchristen für die Jerusalemer Urgemeinde sammeln lässt (2Kor 8,19). Gott die Ehre zu geben bedeutet, ihn als alleinigen Gott anzuerkennen (Dtn 32,3; Jes 42,12; Mal 2,2), möglicherweise auch eine Schuld einzugestehen (Jos 7,19; 1Sam 6,5; Joh 9,24). Theologisch qualifizierte Weisheit kann auch Menschen zu Ehren bringen (Spr 3,16; Spr 4,8; Spr 8,18; Weish 8,10; Weish 10,14; Sir 1,24; Sir 4,14; vgl. Weish 6,23); sie ist assoziiert mit Demut (Spr 15,33; Spr 29,23; Sir 10,31f – gepaart mit Selbstachtung) und Gottesfurcht (Spr 22,4; Sir 1,11; Sir 10,23). Kritisch wird es hingegen, wenn Götzen (Dan 3,14; Hos 2,10; Weish 14,17f.20; StE 3,6) oder Menschen (1Sam 2,29) ein höherer Rang, mehr Ehre eingeräumt wird als Gott, der selbst der „König der Ehre“ (Ps 24,7-10) bzw. „Gott der Ehre“ (Ps 29,3) ist. Ein besonderer Akzent ergibt sich daraus, dass einer der griechischen Begriffe für „Ehre“, doxa, zur Übersetzung für das hebräische kabod geworden ist, mit dem im AT die „Herrlichkeit“ Gottes bezeichnet wird, die vor dem Volk Israel erscheint und im Begegnungszelt (Stiftshütte) bzw. im Jerusalemer Tempel Wohnung nimmt. In diesem Sinn kann auch davon die Rede sein, dass Gottes Ehre (im Sinne von Herrlichkeit) im Tempel bzw. auf dem Zion in Jerusalem wohnt (Ps 26,8; Jdt 9,9) oder die ganze Erde erfüllen soll (Ps 72,19; vgl. Jes 6,3; Hab 2,14; Hab 3,3). Mit Letzterem verwandt ist die Hoffnung, alle Völker mögen Gott Ehre darbringen (1Chr 16,28f; Ps 96,7f) und seinen Namen ehren (Ps 86,9).

Gott wird immer wieder dargestellt als derjenige, der allein Verfügungsgewalt über Ehre hat (Num 24,11). Dass Gott Israel zu seinem Volk gemacht hat, bringt dieses Volk zu Ehren (Dtn 26,19; vgl. Jes 43,4; Jes 48,11; Sir 24,16). Ihm ist es zu verdanken, dass gerade die Armen und Dürftigen auf Ehre hoffen dürfen (1Sam 2,8; Zef 3,19f; Sir 11,13; vgl. Ps 91,15); ihr Blut ist wert geachtet vor Gott (Ps 72,14). Wer Gott ehrt, der wird von ihm auch geehrt werden (1Sam 2,30; vgl. Ps 84,12; Ps 149,9; Spr 27,18) – ebenso der, der Jesus dient (Joh 12,26). Dass Gott den Menschen als Geschöpf achtet und ehrt, ist Gegenstand des Staunens (Hi 7,17; Ps 8,6; vgl. Jes 43,7; Hebr 2,6). Allerdings liegt es auch in seiner Hand, Menschen die Ehre zu entreißen (vgl. Hi 19,9; Jes 8,23; Dan 5,20; Hos 4,7).

Eine besonders enge Beziehung kann dadurch gekennzeichnet sein, dass der eine des anderen Ehre ist. So bekennt der Psalmbeter Gott als „meine Ehre“ (Ps 3,4), Kinder ihre Väter (Spr 17,6), Paulus seine Mitchristen (vgl. 1Kor 15,31; 2Kor 1,14; 1Thess 2,20). Paulus ermahnt seine Gemeinde, man möge einander mit Ehrerbietung zuvorkommen (Röm 12,10) – Statuskonflikte unter Christen sind unerwünscht (vgl. 1Kor 6,5 passim; 1Kor 11,29; etwas eigentümlich nimmt sich jedoch in dieser Hinsicht Gal 2,6 aus), der Glaube an Jesus Christus soll frei gehalten werden von allem Ansehen der Person (Jak 2,1).

Seinem Gesalbten, dem Menschensohn (Dan 7,14), hat Gott Macht, Ehre und Reich gegeben. Jesus hat seine Ehre von Gott her (Joh 8,54; vgl. Joh 1,14; 2Petr 1,17). Dass Jesu Ehre unter den Menschen dennoch umstritten war, leuchtet schon darum ein, weil schließlich bekannt ist, dass ein Prophet nirgendwo weniger gilt als in seinem Vaterland und Haus (Mt 13,57; Mk 6,4). Er wird geschmäht (Mt 27,44 par) wie der Knecht von den unbotmäßigen Weingärtnern (Mk 12,4 par). Seine Gegner warfen ihm vor, er achte das Ansehen der Menschen nicht (Mt 22,16 par). Andere sehen von der Gegenwart Jesu ihre eigene Würde in Frage gestellt (Lk 7,7). Neben den wundersamen Geschichten um seine Geburt (vgl. Lk 2,14) gibt es eine einzige Episode im Leben Jesu, wo seine ehrenhafte Stellung unübersehbar ist: sein königlicher Einzug in Jerusalem (vgl. Lk 19,38). Die Auferstehung Jesu ist, obwohl sie der Schande des Kreuzes entgegensteht, nicht mit dem Begriff „Ehre“ assoziiert; dennoch kann „Ehre“ auch als Gegenstand eschatologischer Hoffnung genannt werden (Röm 2,7).

3.1. Evaluationsmaßstäbe

Besondere Brisanz gewinnt an manchen Stellen die Frage, ob Ehre von Gott her oder von anderen Menschen her zu denken ist. Damit verbunden ist eine inhaltliche Diskrepanz: Das, was vor Gott „ehrenhaft“ ist, steht potentiell in Konkurrenz zu dem, was Menschen sich untereinander als „Ehre“ zuerkennen können. Und auch hinter dieser Alternative steht eine soziale Dimension: Jüdische wie christliche Gruppierungen stehen vor der Aufgabe, sich zu den Ehr- und Wertvorstellungen ihrer Umwelt zu verhalten, die mit ihren eigenen nur zum Teil konvergieren (vgl. hierzu auch Jdt 4,9; Jdt 5,2; Jdt 10,20; Jdt 12,12f).

Oft lässt sich dabei eine Art „Doppelstrategie“ erkennen: Auf der einen Seite steht das Bemühen, dem zu entsprechen, was in der Umwelt als ehrenhaft angesehen wird; auf der anderen Seite steht eine kritische Modifizierung oder Transzendierung dieser Wertmaßstäbe. Ein solches Vorgehen lässt sich etwa in der Davidsgeschichte ausmachen, wo zwar an vielen Stellen den Ehrvorstellungen der antiken Umwelt entsprochen wird (David besteht Herausforderungen, erweist sich in Auseinandersetzungen als überlegen etc.; vgl. auch Sir 47,4.7), aber auch Schattenseiten und weniger ehrbare Züge dieses Königs benannt werden, wodurch einer übermäßigen Glorifizierung gewehrt wird. Eine wichtige Stelle ist 2Sam 6,16ff: Ein Verhalten, das die Königin Michal als verächtlich empfindet (das nackte Tanzen Davids vor der Bundeslade) ist nach den Maßstäben Gottes alles andere als lächerlich. David definiert sein „ehrbares“ Verhalten also nicht von den höfischen Gepflogenheiten seiner Zeit, sondern von dem Gott Israels her.

Zu denken wäre auch an eine paränetische Grundlinie mehrerer neutestamentlicher Briefe: Die Christen sollen in ihrer Lebensführung den Ehrbarkeits-Maßstäben ihrer Umwelt genügen (Phil 4,8; 1Thess 4,11f; 1Tim 2,2; Tit 2,2.7f; 1Petr 3,16), um keinen Anstoß zu geben, obwohl ihre Lebensführung an sich unter einer anderen, theologisch bzw. christologisch zu definierenden Prämisse steht: es geht um ein Leben „würdig der Berufung“ (Eph 4,1; vgl. 1Thess 2,12; 2Thess 1,11), des Herrn (Kol 1,10; vgl. 3Joh 6) bzw. des Evangeliums (Phil 1,27). Auch für christliche Amtsträger ist es wichtig, dass für Außenstehende kein Anlass besteht, sie zu schmähen (1Tim 3,2.4.7.8.11.13), obwohl ihre Ehre nicht an der Evaluation dieser Außenstehenden hängt.

Gerade die paulinischen Auseinandersetzungen rund um das „Rühmen“ zeigen, in welchem Zwiespalt der Apostel steht, wenn er von Menschen anerkannt werden, aber dennoch daran festhalten will, dass allein Gott die Ehre von Menschen in den Händen hält (vgl. 1Kor 9,15f; 2Kor 1,12; 2Kor 7,4.14; 2Kor 10,8.13.15; 2Kor 11,16-18.30; 2Kor 12,1.5f.9; Gal 6,14; Phil 3,3f; vgl. auch Jak 1,9f) – gerade, weil der sündige Mensch bar jeden Ruhmes vor Gott steht (Röm 3,27; Röm 4,2). Das, wessen sich Christen rühmen können und sollen, hat denn auch wenig mit dem gemein, was allgemein Ruhm und Ehre unter Menschen ausmacht (vgl. 1Kor 3,21; 1Kor 4,7; 1Kor 5,6; 2Kor 5,12; Gal 6,4.12f; Phil 2,23; 1Thess 2,6; Jak 4,16) – Christen rühmen sich ihrer Hoffnung und ihrer Bedrängnisse (Röm 5,2f), sie können sich Gottes rühmen durch den Herrn Jesus Christus (Röm 5,11; vgl. 1Kor 1,31). Dass Gott gerade die erwählt hat, die vor der Welt wenig gelten, ist (kreuzes)theologisches Programm (1Kor 1,27-29; 1Kor 12,23f). Hier gibt es durchaus Berührungspunkte hin zu den Seligpreisungen der Bergpredigt, insofern sich diese ebenfalls als „value judgments“ (Hanson, 104) verstehen lassen.

Das Christentum steht vor der Aufgabe, den Kreuzestod Jesu in all seiner Schändlichkeit (Lk 18,32; Lk 22,65; Lk 23,11; Mt 27,44 par) zu plausibilisieren als ein Ereignis, das sich mit einer (von Gott her!) gedachten Vorstellung von Ehre positiv korrelieren lässt. Von solchen Bemühungen zeugen etwa 1Kor 1,18-31 und Joh 12,23-26; Joh 13,31f. Hier wird offensichtlich, dass die Ehrvorstellungen Gottes und der Menschen stark divergieren bzw. sogar zueinander in Konkurrenz geraten können (vgl. Joh 5,41.44; Joh 8,50.54; Joh 12,43). Eine ähnliche komplexe „Evaluation“ wurde schon dem jesajanischen Gottesknecht zuteil (vgl. Jes 42,8; Jes 49,7; Jes 50,6f; Jes 52,13; Jes 53,3). Diese Konstellationen führen vor Augen, wie menschliches Streben nach Ehre an der Oberfläche verbleiben, dann aber auch von einer (kreuzes)theologischen Umprägung her eine neue Tiefendimension gewinnen kann.

4. Das honor-shame-Modell

Ausgehend von der Annahme, dass Ehre, Scham und Schande im Kontext des antiken Mittelmeerraumes Werte von zentraler Bedeutung (pivotal values) waren, hat sich insbesondere in der kulturanthropologischen und sozialgeschichtlichen Exegese ein heuristisches Modell herausgebildet, das den Anspruch erhebt, die Hintergründe und Voraussetzungen menschlichen Denkens und Handelns in diesem Kulturraum zu erhellen. Auf der Basis anthropologischer Untersuchungen im Mittelmeerraum (Peristiany, Pitt-Rivers) haben maßgeblich Bruce Malina („The New Testament World“, 1981) und die Context Group das „honor-shame-Modell“ erstellt, das sich wie folgt beschreiben lässt:

(1) Honor and shame form a value system rooted in gender distinctions in Mediterranean culture. Preservation of male honor requires a vigorous defense of the shame (modesty, virginity, seclusion) of women in the family or lineage.

(2) Honor, most closely associated with males, refers to one´s claimed social status and also to the public recognition of it. Shame, most closely linked with females, refers to sensitivity towards one´s reputation, or in the negative sense to the loss of honor.

(3) Mediterranean societies are agonistic, or competitive. Challenges to one´s status claims (honor) are frequent and must be met with the appropriate ripostes. The ensuing public verdict determines the outcome, and whether honor is won or lost.“ (Chance, 142)

Dabei wird davon ausgegangen, dass solche „Verteilungskämpfe“ um Ehre nur unter sozial gleichrangigen Partnern ausgetragen werden; die Herausforderung eines Rangniedrigeren anzunehmen, käme bereits einem Ehrverlust gleich. Ob alle zwischenmenschlichen Begegnungen, die sich außerhalb der eigenen familiären Bezugsgruppe ereignen, bereits als „agonistic“ zu sehen sind, wird unterschiedlich beurteilt. Weitgehend einig ist man sich jedoch darin, dass der „male honor code“ sich nach außen orientiert, mit der politischen Struktur in Verbindung steht und auf den Status des Mannes in seiner sozialen Umwelt ausgerichtet ist, während weibliches „Ehrgefühl“, verstanden eher als soziales Schamgefühl, in den Innenbereich des Haushalts führt (Moxnes, 170ff u.a.).

Hinsichtlich der Ehre, die einem Menschen eignen bzw. zukommen kann, sind zwei Formen der Präzisierung herausgearbeitet worden. Einmal lässt sich unterscheiden, ob sich der Status einer Person ihrer Herkunft (Familie, Name, Geschlecht, Gruppenzugehörigkeit) verdankt („ascribed honor“) oder bestimmten Taten, Verdiensten oder Siegen („achieved“ bzw. „acquired honor“) (Hanson, 84 u.a.) Zum anderen werden „honor precedence“ und „honor virtue“ unterschieden: Während sich „honor precedence“ auf Macht, Reichtum und andere Statusindikatoren gründet und als weltliche, äußerliche Ehre vor einer Öffentlichkeit zutage tritt, die das Individuum auf seinen Status hin evaluiert, bezeichnet „honor virtue“ den Zustand des individuellen Gewissens, das sich stärker auf die Intentionen als auf die Folgen des Handelns bezieht und das Individuum vor sich selbst oder auch einem allwissenden Gott verantwortlich weiß (vgl. Pitt-Rivers bei Lawrence 2003, 29).

4.1. Honor-shame-Modell und Honor Discourse

Die ausführliche Darstellung des Modells bei Bruce Malina bezieht verschiedene Aspekte und Teilmodelle ein, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Wesentliches Anliegen ist es, „honor and shame“ als „foundational Mediterranean values“ (Hanson, 81) zur Geltung zu bringen, die für griechische, römische und jüdische Menschen aus biblischer Zeit gleichermaßen bedeutsam sind (Neyrey, 115). Als „identifiable cultural characteristics“ (Lawrence 2003, 12) prägen „honor and shame“ den kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang, der die biblischen Schriften hervorgebracht hat und sind daher dazu geeignet, zu einem vertieften Verständnis dieser Schriften beizutragen.

Autoren wie David A. DeSilva und Jerome Neyrey haben sich besonders mit dem textlichen Niederschlag beschäftigt, den diese „pivotal values“ insbesondere im Neuen Testament gefunden haben. In der Rhetorik des „honor discourse“ soll den Menschen erleichtert werden, aus dem Ehr-System ihrer Umwelt herausgelöst und in das christliche Ehr-System hinein sozialisiert zu werden; dies geschieht wesentlich dadurch, dass ein neuer „Court of Reputation“ plausibilisiert wird.

4.2. Anfragen an das honor-shame-Modell

Kritik am honor-shame-Modell ist in den vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Richtungen geäußert worden. Einige Diskussionslinien sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

4.2.1. „honor and shame“ – die zentralen Werte im antiken Mittelmeerraum?

Die Bedeutung (im Sinne von „meaning“ wie von „significance“) von „honor and shame“ im mediterranen Kontext wird unter Anthropologen unterschiedlich eingeschätzt; bereits 1994 warnt J.K. Chance: „there is more to Mediterranean culture than honor and shame“ (Chance, 148). Gerald Downing hat sich anhand vielfältiger Belege und Beispiele um den Nachweis bemüht, dass andere Werte wie Leben, Vermögen oder auch (aus ideologischen Gründen bejahte) Armut als wichtiger beurteilt werden konnten als Status, Ehre und Schande (Downing, 69ff). Auch Halvor Moxnes (175) stellt fest: „honor and shame coexist with other, less competitive values“.

4.2.2. „honor and shame“ – ein einheitliches Wertemodell in einem einheitlichen Kulturraum?

Ob und inwiefern der Mittelmeerraum tatsächlich als einheitlicher, in sich geschlossener Kulturraum zu begreifen ist, wird im Gefolge von Michael Herzfeld (1984) vielfach in Frage gestellt: „most ethnographers are uneasy about the prospect of lumping all parts of the Mediterranean together in one large honor and shame context“ (Chance, 141). Schon Peristiany und Pitt-Rivers, wesentliche anthropologische Bezugsgrößen für die exegetische Arbeit mit dem „honor-shame-Modell“, verwehren sich dagegen, die mediterrane Welt als einheitlichen Kulturbereich etablieren zu wollen (Horrell, 89); ein „ethnographic particularism“ (Herzfeld 1980, 349; Horrell, 94) sei hier eher am Platze. Dies nicht zuletzt aus dem Grunde, dass das dem Modell zugrunde liegende anthropologische Material nur in bestimmten Teilen des Mittelmeerraumes erhoben wurde (Herzfeld 1984, 439), was Generalisierungen, wie sie ein „Modell“ notwendigerweise mit sich bringt, doch zumindest fragwürdig macht. So wird Malina vorgeworfen, er zeige „no understanding of the present debate within the circles of cultural anthropology, regarding the problems of the creation of a Pan-Mediterranean mentality“ (Domeris, 292).

Mit diesen Generalisierungen, so die Kritiker, gehe auch eine Verunklarung in der Terminologie einher. „Honor and shame“, zunächst eingeführt als „parallel labels used by anthropologists to describe either physical conditions or human behavior of which a culture approves or disapproves“ (Matthews / Benjamin, 11), sind zur Pauschalbezeichnung für sehr vielfältige Vorstellungen und Werturteile geworden, die innerhalb des Mittelmeerraums stark variieren können; Begriffe, die sich als „Ehre“, „Scham“ oder „Schande“ verstehen lassen, können in unterschiedlichen sozialen Kontexten sehr verschieden konnotiert sein, bis hin zu divergierenden Einschätzungen hinsichtlich ihres positiven oder negativen Charakters (vgl. Herzfeld 1980). Als gemeinsames Charakteristikum macht Moxnes die geschlechtsspezifische Zuordnung von „honor and shame“ aus und folgert: „the thesis of a specific Mediterranean honor and shame culture holds, even if many aspects have been modified“ (169).

4.2.3. „honor and shame“ – ein Erklärungsmodell für biblisch-exegetische Wissenschaft?

Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind Erkenntnisse der Anthropologie und Sozialwissenschaften biblisch-exegetisch fruchtbar gemacht worden (Gunkel, Mowinckel, Dalman etc.). In dieser Tradition will das „honor-shame-Modell“ das Bewusstsein dafür stärken, dass die Menschen der Bibel anders gelebt und gedacht haben als heutige, westliche Menschen, und fragt danach, was in ihrer Kultur wichtig und leitend war. Problematisch ist allerdings, dass die dem Modell zugrundeliegenden soziologischen Daten hauptsächlich aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammen. So unterzieht William Domeris das Modell Malinas einer scharfen Kritik: Da die zum Teil fast wortgleichen Übernahmen aus den Untersuchungen von Pitt-Rivers nicht im Einzelnen kenntlich gemacht würden, „the reader does not realise that a twentieth-century Christian community (in Andalusia, Spain) is being used as a basis for reconstructing the values of first century Judaea!“ (292; ähnlich Chance, 141, vgl. Lawrence 2003, 30). Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, dass die im „honor-shame-Modell“ aufgegriffenen anthropologischen Studien sich meist auf abgeschiedene dörfliche Gemeinschaften beziehen (was dazu hilfreich sein mag, eine Vorstellung des antiken Galiläa zu gewinnen, vgl. Moxnes, 169), die komplexeren sozialen Zusammenhänge in Städten (die Anhaltspunkte für die Verhältnisse in vielen paulinischen Missionsgemeinden geben könnten) jedoch vergleichsweise wenig erforscht sind.

Diskutiert wird auch, ob sich Modelle überhaupt dazu eignen, das Verständnis biblischer Texte zu fördern. Steht dahinter womöglich ein einseitiges Kulturverständnis, das eine Kultur eher als statisches Studienobjekt denn als dynamischen sozialen Prozess wahrnimmt? Hier reichen Ausläufer einer soziologischen Kulturdebatte in die exegetischen Wissenschaften hinein.

Horrell (85), der sich als Kritiker eines „model-based approach to social-scientific New Testament interpretation“ versteht, beanstandet vor allem die Generalisierung und Simplifizierung, die mit dem Gebrauch von Modellen einhergeht; hier bestehe die Gefahr, dass die Interpretation dessen, was wahrgenommen und beobachtet wird, schon allzu sehr von dem vorgegebenen Modell geleitet wird (Horrell, 91; ähnlich Lawrence 2003, 22). Philip Esler wendet (auf der Basis eines sehr viel breiteren Verständnisses eines „Modells“, das er als „any kind of presupposition, theory, approach or method“ [zitiert bei Horrell, 85] versteht) ein, dass jeder Exeget sich dem Text mit einem vorgegebenen Modell nähert, das besser explizit gemacht als nur implizit vorausgesetzt sei. Mit Hilfe solcher Modelle ließe sich ferner einem postmodernen Relativismus wehren.

Die Generalisierungstendenz, die die Arbeit mit Modellen mit sich bringt, wird auch von Downing hinterfragt: „„Honor“ becomes a concept so polymorphous that it has little or no explanatory value“ – „A concept which explains everything explains nothing.“ (59)

Als Testfall für die Richtigkeit solcher Generalisierungen wird dabei immer wieder die Frage nach der unterschiedlichen Position der Geschlechter im honor-shame-Modell herangezogen. Moxnes (170f) hat darauf hingewiesen, dass etwa in Lk 18,1-8; Mk 7,24-30; Mt 15,21-38 Frauen im Kontext einer challenge-riposte-Situation agieren; Ute E. Eisen hat die Rolle von Amtsträgerinnen im frühen Christentum herausgearbeitet; Downing (58) weist auf das vierte Gebot hin, dem gemäß Vater und Mutter ohne Unterschied zu ehren seien.

Vor dem Hintergrund dieser und anderer Einwände lässt sich festhalten, dass der Ausgangspunkt exegetischer Arbeit der Text bleibt, nicht ein wie auch immer geartetes Modell (auch wenn das „honor-shame-Modell“ ein zweifellos nützliches Instrument ist). Für einen angemessenen Umgang mit dem „honor-shame-Modell“ rät Horrell (91) dazu, zunächst drei Fragen in Hinblick auf den biblischen Text abzuklären: „whether or not a particular encounter did in fact reveal any explicit concern for honour, whether the vocabulary used in (or to describe) the encounter is actually that of honour and shame, and if not, what the significance of the variations in terminology might be, and so on“.

Zu beachten ist auch, dass biblische Texte sich oft nicht einfach auf das „honor-shame-Modell“ beziehen lassen, sondern eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Zuordnungssystemen von Ehre, Scham und Schande reflektieren (s.o. 3.1), die auch verschiedene Vorstellungen von dem, was ehrbar, schamlos und schandhaft ist, implizieren. Mitunter wird ein solches Zuordnungssystem, dessen Existenz dabei natürlich vorausgesetzt ist, grundsätzlich in Frage gestellt, da es konfliktträchtig und nicht unbedingt gemeinschaftsfördernd ist (Domeris, 295, ordnet das Christentum nicht zuletzt deshalb den „counter-culture movements“ zu). So hängt es vom eigenen Ort innerhalb der sozialen Statushierarche ab, inwiefern Ehre, Scham und Schande für das eigene Verhalten handlungsleitend sind und wie sich die eigenen Konkretionen ehrbaren, schandhaften und als schamlos empfundenen Verhaltens zu den Vorstellungen des größeren sozialen Gefüges verhalten (vgl. hierzu Lawrence 2007, 283ff).

Möglicherweise gewinnen „honor-shame-Modell“ und „honor discourse“ also gerade dort an heuristischem Wert, wo die Dynamik kultureller (und gegenkultureller) Impulse analysiert werden soll; vor diesem Horizont lassen sich die Mechanismen sozialer Statuszuordnungen als Regulativ verstehen, das es Gruppen erlaubt, ihre Identität anhand geteilter Werte und Normen nach innen hin zu bestärken und im Konfliktfall nach außen hin abzugrenzen.

4.2.4. „honor and shame“ – ein Brückenschlag zwischen antiker und heutiger Welt?

Von seinem ursprünglichen Anliegen her (Malina 1981) will das „honor-shame-Modell“ Unterschiede aufzeigen, die zwischen heutigen (vor allem westlichen) Gesellschaften und den sozialen Hintergründen der biblischen Schriften bestehen.

Möglicherweise besteht hier eine Verwandtschaft zu der von Margaret Mead und Ruth Benedict in die anthropologisch-ethnographische Forschung eingeführten Unterscheidung zwischen „Schamkulturen“ und „Schuldkulturen“. Die im Hinblick auf die ontogenetische Entwicklung des Individuums formulierte These Sigmund Freuds, das Schamgefühl entwickle sich vor dem Schuldgefühl, wird hier phylogenetisch eingefärbt auf die handlungsleitenden Mechanismen einzelner Kulturen übertragen. Ob hier eine legitime und heuristisch wertvolle Differenzierung vorliegt oder „ethnographic chauvinism“ (Creighton, 279), wird diskutiert; Modifikationen des Modells beziehen sich vor allem auf den Stellenwert von Individuum und Gruppenzugehörigkeit im sozialen Zusammenhang (Creighton, 280ff; vgl. auch die damit verwandte Structure-Agency-Debatte, insbesondere die Beiträge von Louise Joy Lawrence und Zeba A. Crook).

Mit Recht wurde aber darauf hingewiesen, dass die Orientierung an dem, was Status, Prestige, Ehre und Ansehen bringt, keineswegs „exclusively Mediterranean“ sei (Herzfeld 1980, 339; ähnlich Horrell, 91 Anm. 20; Chance 140). Ob sich die Rolle der Frau in heutigen mediterranen Gesellschaften in so starker Kontinuität zu antiken Vorstellungen von Ehre, Scham und Schande bewegt, wie Renata Rabichev (60f) postuliert, sei dahingestellt; fest steht, dass die Evaluation des eigenen Ranges und Ansehens in einem größeren sozialen Kontext auch heutigen Menschen keineswegs fremd ist, auch wenn die Evaluationskriterien heute andere sein mögen (hierzu sehr instruktiv Downing, 55f). So kann eine Sensibilität für das menschliche Bedürfnis nach Ansehen und Einordnung in einen sozialen Rahmen (möglicherweise auch außerhalb dieses Rahmens) dazu beitragen, dass biblische Texte auch für heutige Leserinnen und Leser in einer treffenden Zuspitzung erschlossen werden können.

Literaturverzeichnis

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