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Divination (Griechenland)

(erstellt: Mai 2006)

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1. Allgemeines

Divination, die Erkundung der → Zukunft und die Suche nach göttlicher Entscheidungshilfe, wohl ein Grundbedürfnis des Menschen, begegnet in allen Kulturen der antiken Mittelmeerwelt. Auch wenn Divinationstechniken unterschiedliche Konjunktur hatten – die Orakelstätten etwa waren nicht immer gleich frequentiert –, ist von einem ständigen Bedürfnis nach göttlichem Rat auszugehen.

2. Techniken

Zu den fünf wichtigsten Divinationsformen gehörten

1. die Deutung des Vogelflugs, die sich bereits bei Homer findet; während von rechts kommende Vögel ein günstiges Vorzeichen waren, bedeuteten von links kommende Vögel Unheil;

2. die Opferschau, bei der die Innereien des Opfers, aber auch das Verhalten des Schwanzes des Opfertieres – er musste sich beim Verbrennen kringeln – von Bedeutung waren;

3. Träume (Xenophon, Anabasis 6,1,22-24; Text gr. und lat. Autoren); seit dem 5. Jh. gab es professionelle Traumdeuter; im Asklepiosheiligtum in Epidauros sollen die Klienten im Traum ihre Heilung oder den Weg zur Heilung erfahren haben (→ Traum);

4. andere Omen wie etwa das Niesen (Xenophon, Anabasis 3,2,8-9; Text gr. und lat. Autoren);

5. Orakel, die wohl die bedeutendste Rolle einnahmen. Für Sophokles z.B. war die Vernachlässigung der Orakel gleichbedeutend mit dem Ende des Götterkultes (Sophokles, Oedipus rex 897-910; Text gr. und lat. Autoren). Orakel sind Weissagungen, die an bestimmten Orten nach einem festgelegten Ritus und zu festgelegten Zeiten, an denen die Gottheit als anwesend gedacht war, erteilt wurden. Zugleich bezeichnet Orakel den jeweiligen Ort der Weissagung. Höchstes Ansehen genossen die Apollonorakel von Delphi, Didyma und Klaros sowie das Zeusorakel von Dodona. Allen Orakeln gemeinsam war die Forderung nach Reinheit (Fasten, Enthaltsamkeit, Waschungen). Die Orakeltechniken lassen sich in vier Gruppen aufteilen:

a) Ein inspiriertes Medium, z.B. die Pythia in Delphi, erteilt Auskunft; zumeist stehen zwischen Medium und Klienten vermittelnde Priester; in Dodona wurde das Rauschen der Heiligen Eiche sowie das Flugverhalten und Rufen der Heiligen Tauben gedeutet.

b) Ein Medium verwendet zufallsgesteuerte Mantik; z.B. das Bohnenorakel in Delphi, bei dem Bohnen aus einem Gefäß gezogen wurden; eine helle Bohne bedeutete Zustimmung, eine dunkle Ablehnung.

c) Der Klient wird selbst zum inspirierten Medium, wie in der Höhle des Trophonios in Lebadeia (Pausanias 9,39f; Text gr. und lat. Autoren). In einem Gebäude im Heiligtum stieg man mit einer Leiter in einen Erdspalt, legte sich auf den Boden, schob die Füße durch eine Öffnung und wurde wie durch einen Wirbel in die eigentliche Orakelhöhle gezogen; Trophonios selbst soll den Anfragenden seine Antworten erteilt haben; in Oropos sollen die Anfragenden mit Amphiaraos im Traum kommuniziert haben.

d) Der Klient wendet selbst zufallsgesteuerte Mantik an: Beim Würfelorakel des Herakles in Bura (Peloponnes) hatte man vier Würfe, wobei die Deutung jeder möglichen Kombination schriftlich fixiert war (Pausanias 7,25; Text gr. und lat. Autoren). Ortsunabhängig sind Weissagetechniken wie das Homerorakel, bei dem jeder möglichen Kombination von drei Würfeln ein bestimmter Homervers zugeordnet war, den man in Handbüchern nachschlagen konnte.

3. Seher und Propheten

Prophetie geschah durch einen Seher (mantis), der nicht an einen Ort oder an bestimmte Rituale zur Erlangung seiner Sprüche gebunden war. Nicht in allen Fällen lässt sich erkennen, ob Propheten bzw. Seher als Sprachrohr einer Gottheit auftraten oder ob sie lediglich als Deuter agierten. Für die Griechen waren die Seher seit mythischer Zeit von einer Gottheit inspiriert. Als Preis für seine Gabe hatte Teiresias, der berühmteste Seher, sein Augenlicht eingebüßt; noch nach seinem Tod soll er in Orchomenos Orakel erteilt haben (Plutarch, Moralia 434c; Text gr. und lat. Autoren). Göttliche Inspiration beanspruchten traditionell auch Dichter. In der Gestalt des Aristeas von Prokonnesos, der im 7. Jh. v. Chr. als Dichter und als ekstatischer Apollonprophet auftrat, vereinten sich die beiden Aspekte (Herodot 4,14f; Text gr. und lat. Autoren). In Didyma führten sich viele Generationen von Propheten auf den mythischen Gründer des Orakels, den Seher Branchos, zurück; auch in anderen Heiligtümern war das Amt des Propheten erblich. Bereits in den homerischen Epen waren Seher (Kalchas) an Kriegen beteiligt. Auch in klassischer Zeit sind Seher bei Feldzügen belegt, etwa bei Operationen der Athener und der Spartaner. Die Aufgabe der Seher bestand vor allem darin, göttliche Zustimmung zum Beginn einer Schlacht einzuholen. Empedokles (ca. 490-430 v. Chr.) verkörperte eine Mischung aus Philosoph, Seher und Wundertäter.

4. Funktionen von Divination

Divination stiftete gesellschaftliche Normen und besaß legitimatorische Qualität. Vorhersagung der Zukunft findet sich nur in den mythischen und semihistorischen Orakelsprüchen, die oft als dunkel gelten. Orakel halfen zumeist bei der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Als sich die Athener 352/1 v. Chr. fragten, ob die Heilige Au von Eleusis verpachtet werden oder brach liegen solle, deponierten sie beide Möglichkeiten auf zwei identischen Zinntäfelchen unter der Aufsicht der Volksversammlung in einer silbernen und in einer goldenen Hydria, wobei nicht mehr nachvollziehbar sein durfte, welches Gefäß welche Antwort enthielt. Beide Gefäße wurden dem delphischen Orakel vorgelegt (Inscriptiones Graecae II/2, 204), das nur noch auszuwählen brauchte. Oft waren kultische und politische Neuerungen in griechischen Poleis durch einen Spruch aus Delphi sanktioniert. Die Orakeltäfelchen aus Dodona erlauben einen Einblick in die Motive von Privatpersonen, die ein Orakel konsultierten: Reise, Heirat, Krankheit, Rechtsstreitigkeiten, Statusfragen, Unglück, Seuchen, Unfruchtbarkeit etc.

Zumindest die Spartaner und die Athener verfügten über schriftlich fixierte Orakelsammlungen, aus denen immer wieder zitiert wurde (Thukydides 2,54,2; Text gr. und lat. Autoren). Der Athener Hippias soll im Exil am persischen Königshof mit der von Onomakritos verwalteten Orakelsammlung des Musaios den Großkönig zum Zug gegen Athen (490 v. Chr.) bewogen haben (Herodot 7,6; Text gr. und lat. Autoren). Im Fall eines ungünstigen Orakelspruches konnten Klienten ihre Anfrage wiederholen, wie etwa die Athener vor Salamis 480 v. Chr. (Herodot 7,140f; Text gr. und lat. Autoren). Mächtige Politiker hielten sich oft ihre persönlichen Wahrsager, um damit ihre Verbindung zu den Göttern zu demonstrieren und das Wissen um die Zukunft zu beanspruchen.

Kritische Stimmen zur Divination kamen nur aus der Philosophie. Während Epikureer und Kyniker die Divination ablehnten, wurde sie von den Stoikern akzeptiert. Nur selten konfrontierte man die Deutung eines Phänomens durch Wahrsager mit einer naturwissenschaftlichen Erklärung (Plutarch, Perikles 6; Text gr. und lat. Autoren). Der Vergleich mit anderen Kulturen zeigt, dass Seher und Propheten zumindest in dem Ruf stehen mussten, ehrlich zu sein. Für den Niedergang der Orakelstätten in der Spätantike sind vor allem zwei Gründe hervorzuheben: zum einen die Monopolisierung der Divination durch den Kaiser, zum anderen die Unterdrückung der paganen Kulte gegen Ende des 4. Jh. Unter Theodosius I. wurden in der Zeit nach 391 n. Chr. die letzten Orakelstätten geschlossen.

Literaturverzeichnis

  • Fontenrose, J., 1978, The Delphic Oracle, Berkeley/Los Angeles
  • Gauger, D., 1998, Sibyllinische Weissagungen, Darmstadt 1998
  • Maurizio, L., 1995, Anthropology and Spirit Possession, Journal of Hellenic Studies 115 (1995) 69–86
  • Parke, H.W., 1967, Greek Oracles, London 1967
  • Rosenberger, V., 2001, Griechische Orakel, Darmstadt

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