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Deuteropaulinen

(erstellt: Januar 2017)

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1. Begriff

Als Deuteropaulinen werden diejenigen Briefe (→ Brief / Briefformular (NT))bezeichnet, die durch die Angabe im Präskript, persönliche Aussagen und in einigen Fällen auch durch Eigenhändigkeitsvermerke am Briefschluss (Kol 4,18; 2Thess 3,17) eine Abfassung durch → Paulus behaupten, bei denen aber sprachliche, historische und theologische Eigenheiten gegen diese behauptete Verfasserschaft sprechen. Es handelt sich also um eine Form von → Pseudepigraphie.

Eine Sonderstellung nimmt der → Hebräerbrief ein, der zwar innerhalb des → Corpus Paulinum überliefert ist, die Verbindung zu Paulus aber nur durch – möglicherweise bewusst gestaltete – Anklänge in Hebr 13,20-25 herstellt.

2. Deuteropaulinen und Corpus Paulinum

2.1. Schnittmenge

Das Nebeneinander von echten und pseudepigraphen Briefen ist in antiken Sammlungen nicht ungewöhnlich. Es findet sich auch im Corpus Paulinum. Als Deuteropaulinien gelten hier der Zweite Thessalonicher, Kolosserbrief, Epheserbrief, Erster Timothäusbrief, Zweiter Timothäusbrief und Titusbrief. Dieser sogenannte kritische Konsens wird aber vor allem im Blick auf den Kolosser- und Zweiten Thessalonicherbrief – und in der neueren Diskussion zu den → Pastoralbriefen auch für den Zweiten Timothäusbrief – immer wieder bestritten. Andererseits wird vereinzelt auch die paulinische Verfasserschaft des Ersten Thessalonicherbriefes in Zweifel gezogen (Crüsemann).

Das Phänomen paulinischer Pseudepistolographie ist jedoch nicht auf das Corpus Paulinum beschränkt, auch wenn der Begriff Deuteropaulinen zumeist nur auf die dort überlieferten, kanonischen Briefe angewendet wird. Bekannt sind außerdem:

  • Ein Brief an die Alexandriner und einer an die Laodizener, die im Canon Muratori erwähnt und als markionitsche Fälschungen (Z. 64f: Pauli nomine finctae ad heresem marcionis) abgelehnt werden. Beide Briefe sind nicht mehr erhalten. Es wird zwar diskutiert, ob es sich bei dem Alexandrinerbrief um Hebräerbrief handeln könne, der vom Canon Muratori nicht genannt wird. Dann ergäbe sich aber die Frage, wieso der Hebräerbrief als markionitisch interpretiert worden sein sollte.
  • Ein weiterer Laodizenerbrief, der seit dem 4. Jh. in einzelnen Vulgatahandschriften enthaltenen ist. Da es sich um eine Kompilation aus verschiedenen Pauluszitaten handelt, wird man ihn von dem markionitischen Laodizenerbrief unterscheiden müssen (→ Laodizenerbrief).
  • Der sogenannten → Dritten Korintherbrief. Dabei handelt es sich eigentlich um ein Schreiben der korinthischen Gemeinde mit Anfragen an Paulus zu verschiedenen Irrlehrerthesen und dessen Antwort darauf. Überliefert ist er sowohl eingebettet in die → Paulusakten als auch isoliert. Als Entstehungszeit wird das 2. Jh. vermutet. Der Dritte Korintherbrief wurde in der syrisch-orthodoxen Kirche zunächst als kanonisch anerkannt und im 5. Jh. mit der Einführung der Peschitta verdrängt. In den Bibelausgaben der armenischen Kirche ist er bis ins 7. Jh. enthalten und wird auch noch gelegentlich bis ins 12. Jh. als Paulusschrift zitiert.
  • Außerdem existiert ein aus 14 Briefen bestehender → Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca in lateinischer Sprache, der wahrscheinlich aus dem 4. Jh. stammt (erstmals von Hieronymus, de viris illustribus 12 erwähnt). Die 6 Paulus- und 8 Senecabriefe enthalten lediglich Grüße und kurze persönliche Mitteilungen und wollen wohl nur eine Beziehung zwischen dem Apostel und dem Philosophen konstruieren. Die Echtheit des Briefwechsels wurde in der alten Kirche nicht bestritten.

Dass diese Briefe nicht in das Corpus Paulinum gelangten, dürfte in der Bestreitung ihrer Authentizität (Alexandriner und Laodizener) bzw. ihrer nur partiellen Anerkennung (3. Korinther) oder ihrem späten Auftreten (Paulus-Seneca) begründet sein.

Die Frage, ob Pseudepigraphie in verschiedenen Fällen durchschaut worden ist oder werden konnte, besagt aber noch nichts über die Verwendung von Pseudepigraphie als Ausdrucksform und deren Hintergründe.

2.2. Pseudepigraphe Gestaltung

Weisen die außerkanonischen paulinischen Pseudepigraphen jeweils ein ganz unterschiedliches Gepräge auf, so lassen sich auch in den im Corpus Paulinum enthaltenen Deuteropaulinen erhebliche Unterschiede nicht nur inhaltlicher Art, sondern auch in der pseudepigraphen Konzeption, den Anlässen, Zielen und Durchführungen der Autorfiktion erkennen.

Der → Zweite Thessalonicherbrief richtet sich an eine von Paulus gegründete Gemeinde, die von ihm bereits einen Brief erhalten hat. Der Verfasser lehnt sich, ohne diesen direkt zu nennen, eng daran an, schreibt aber einen deutlich unpersönlicheren Stil. Lediglich in jenen eschatologischen Aussagen, die den Abfassungsgrund liefern, weicht er völlig von seiner Vorlage ab. Dass die Vertreter der von ihm bekämpften Vorstellung, der Tag des Herrn sei bereits da, sich nach 2Thess 2,2.15 auf Paulus berufen, führt ihn dazu, vor Fehlinterpretationen oder gar gefälschten Paulusbriefen – beides möglicherweise bezogen auf den 1. Thessalonicher – zu warnen. So entsteht ein unter den Paulusbriefen analogieloses Verhältnis von formaler Nähe bei erheblicher sachlicher Differenz.

Der → Kolosserbrief richtet sich an eine konkrete Gemeinde, die freilich nicht auf Paulus selbst, sondern nach Kol 1,7 auf Epaphras zurückgeführt wird, um ein dort anstehendes Problem zu lösen. Die Kommunikationssituation entspricht damit der anderer Paulusbriefe. Jedoch zeigt sich das Bemühen, die Bedeutung des Paulus über die Briefsituation hinaus auch auf andere Gemeinden bzw. auf alle Menschen auszuweiten (Kol 2,1; Kol 4,13.15.16). Im Bestreben, die Verfasserfiktion glaubhaft zu machen, greift der Autor in unterschiedlicher Weise auf andere Paulusbriefe zurück. Zur Situierung im Leben des Paulus werden vor allem Angaben des → Philemonbriefs aufgenommen (Gefangenschaft, Namen). Die Auseinandersetzung weist bei einem völlig anderen Argumentationsstil strukturelle Berührungen mit → Galaterbrief und → Römerbrief auf; Aussagen zur Person des Apostels haben ihre Parallelen im → Ersten Korintherbrief.

Der → Epheserbrief verwendet den Kolosserbrief als Vorlage. Anders als der Zweite Thessalonicher transformiert er aber seine Vorlage durch Änderungen und vor allem Neukontextualisierungen (Conflations). Das geschieht sowohl durch Neuordnung aufgenommenen Kolossermaterials als auch durch Einbeziehung von Material aus anderen Paulusbriefen. Auffällig ist die deutliche Bezugnahme auf das AT, die im Kolosserbrief vollständig fehlt. Auch in der pseudepigraphen Gestaltung zeigen sich erhebliche Unterschiede: Der Autor verzichtet auf einen Ausbau der Verfasserfiktion und beschränkt sich auf wenige formelhafte persönliche Angaben. Inhaltlich tilgt er die Auseinandersetzung mit der Philosophie und fügt an mehreren Stellen Überlegungen zum Wesen der Kirche ein. Da die Nennung von → Ephesus in der adscriptio textkritisch unsicher ist, weder Gegner genannt noch überhaupt eine Kontroverse erwähnt wird, erscheint das ganze Schreiben seltsam situationslos.

Die → Pastoralbriefe nehmen schon durch ihre Adressierung an Mitarbeiter des Paulus eine Sonderstellung ein. Sie weisen gegenüber allen anderen Briefen des Corpus Paulinum sowohl inhaltlich als auch sprachlich ein eigenes Gepräge auf. Aber auch zwischen den einzelnen Pastoralbriefen bestehen wesentliche Unterschiede. Der → Zweite Timotheusbrief untermauert die Autorfiktion durch zahlreiche persönliche Notizen, die die enge Beziehung zwischen Absender und Adressaten betonen. Dabei zitiert der Autor den Römerbrief und Ersten Korintherbrief und greift auf Personaltraditionen zurück. Insgesamt entsteht so eine größere Nähe zu den Protopaulinen, weswegen die Frage der Pseudepigraphie hier besonders umstritten ist. Derartige Zitate finden sich im → Titusbrief nicht. Die Autoritätsabsicherung geschieht durch die theologischen Ausführungen des elaborierten Präskriptes. Der → Erste Timotheusbrief dagegen trägt einen ausgesprochen unpersönlichen Charakter. Er fasst verschiedene Traditionen zusammen, indem er sich inhaltlich an die Protopaulinen, sprachlich-formal aber an den Zweiten Timotheusbrief und den Titusbrief anlehnt. Diese Unterschiede und vor allem die Sonderstellung des Zweiten Timotheusbriefes haben in der jüngsten Diskussion dazu geführt, die vorherrschende These, nach der es sich bei den Pastoralbriefen um ein intentional zusammengehöriges und auf eine bereits existierende Paulusbriefsammlung bezogenes Corpus handelt, infrage zu stellen und die Briefe jeweils für sich zu betrachten.

Auch innerhalb des Corpus Paulinum erweist sich die paulinische Pseudepigraphie damit als ein äußerst komplexes Phänomen. Eine allgemeine Erklärung als Selbstbindung an das Werk des Apostels und / oder eine wegen des Fehlens anerkannter Autoritäten in dieser Form notwendige Weiterführung unter veränderten Bedingungen, kann deshalb dem Sachverhalt kaum gerecht werden.

3. Deuteropaulinismus als geschichtliches Erklärungsmodell

Am Ende des 19. Jh. entstand der Begriff Deuteropaulinismus. Er bezeichnet zunächst nur das literarkritische Phänomen, indem er Anschauungen der pseudepigraphen Paulusbriefe zusammenfassend bezeichnete. Durch das Suffix '–ismus' wird jedoch die paulinische Pseudepistolograpghie zugleich als ein innerer Zusammenhang gekennzeichnet. Ob ein Zusammenhang zu den anderen Formen der Paulusrezeption (wie der Personaltradition und der Weitergabe, Bearbeitung und Sammlung der Protopaulinen) besteht, bleibt zunächst offen.

Der Rahmen einer literarkritischen Hypothese wird überschritten, indem sich, vergleichbar dem Deuteronomismus, die Frage nach den Trägern dieser literarischen Erscheinung, ihrer historischen Verortung und ihrem Verhältnis zu anderen Formen frühchristlicher Theologie stellt. Deuteropaulinismus wird so zur Bezeichnung einer eigenen theologie- und kirchengeschichtlichen Größe. Der Begriff gewinnt damit Züge einer Typenbezeichnung oder – insofern der Deuteropaulinismus als bestimmend für die nachapostolische Zeit gesehen wird – sogar eines Epochenbegriffs.

Angesichts dieses unterschiedlichen Gebrauchs des Begriffs stellt sich die Frage nach seinem heuristischen Wert.

3.1. Hermeneutische Voraussetzungen

3.1.1. Pseudepigraphie

Wird Deuteronomismus von den Anschauungen der pseudepigraphen Paulusbriefe her verstanden, stößt der Versuch einer inhaltlichen Füllung des Begriffs auf das Problem, dass seine Extension, d.h. die Frage, welche Briefe einzubeziehen sind, nicht klar ist. Einbeziehung oder Ausschluss einzelner Schriften ändern das Bild aber jeweils erheblich.

Wird Deuteropaulinismus durch das formale Kriterium einer pseudepigraphen Bezugnahme auf den Apostel bestimmt, wäre weiterhin die – selten diskutierte – Beschränkung auf die kanonisch gewordenen Schriften zu problematisieren. Die paulinische Pseudepistolographie endet nicht mit der Ausbildung des Kanons und der Entstehung von Autoritätsstrukturen. Handelt es sich um jeweils eigene oder um eine zusammenhängende Entwicklung?

Der Begriff Deuteropaulinismus steht deshalb in der Gefahr, die Komplexität des Phänomens und die sich daraus ergebenden Fragen zu verdecken.

3.1.2. Zeitgeschichtliches Modell

Die Erfassung des Deuteropaulinismus als einer geschichtlichen Größe, die das Denken und Wirken des Apostels in die Kirche vermittelt, erfolgt in enger Wechselwirkung mit dem zugrundeliegenden Modell einer Geschichte des frühen Christentums. Deren Grundverständnis als Verfalls- oder Entwicklungsgeschichte, sowie die Beurteilung prägender Einflüsse, dominanter Konflikte und die Identifizierung der Akteure wirken als hermeneutischer Rahmen für die Beurteilung der einzelnen Phänomene. So konnte Deuteropaulinismus forschungsgeschichtlich als epochebildend oder als eine Entwicklungslinie neben anderen, als Abfall von der Höhe paulinischer Theologie oder als Entfaltung der Anfangsimpulse erscheinen. Gegenwärtig wird Deuteropaulinismus als eigenständiges Rezeptionsphänomen interpretiert, das nicht an Paulus, sondern an den jeweils eigenen geschichtlichen Bedingungen gemessen werden muss.

3.2. Forschungsgeschichte

Die sich seit Schleiermachers Bestreitung der Authentizität des Ersten Timotheusbriefes (Sendschreiben an J. Chr. Gass 1807) durchsetzende Einsicht in die Existenz paulinischer Pseudepigraphie und die in der weiteren Diskussion erfolgte Ausweitung der Zahl der verdächtigten Briefe stellte zwangsläufig vor die Frage nach deren Urhebern und deren Gründen.

Zunächst wurden diese Briefe – auch um das Problem der Pseudepigraphie zu entschärfen – unmittelbaren Schülern zugeschrieben, die um den Bedürfnissen der Gemeinden nach einer Ordnung nachzukommen auf die mündliche Unterweisung des Apostels zurückgriffen und diese in der für Paulus typischen Briefform weitergaben.

Die Vorstellung einer solchen direkten traditio apostolischer Lehre scheiterte aber an den unterschiedlichen situativen Kontexten der einzelnen Briefe, die deutlich längere Zeiträume voraussetzen. Dies veranlasste Ferdinand Christian Baur zu der Forderung, die Frage der paulinischen Pseudepigraphie nicht allein quellenkritisch zu behandeln, sondern sie im Rahmen einer Gesamtsicht der Geschichte des frühen Christentums auf historischem Wege zu beantworten. An die Stelle einer direkten Schülerschaft tritt die Vorstellung einer literarischen Weiterführung des ursprünglichen paulinischen Lehrbegriffs durch einen Paulinismus, der eine geschichtliche Entwicklung widerspiegelt, in welcher der die Anfangszeit bestimmende, schroffe Konflikt zwischen einem paulinisch-universalistischen und einem partikularistisch-judaistischen Christentum über verschiedene Vermittlungsversuche bis hin zu ihrer Verschmelzung in der katholischen Kirche und ihren Institutionen schließlich dialektisch aufgehoben wird.

Dieser von Baur entwickelte Begriff des Paulinismus als Vermittlung der paulinischen Theologie in die Kirchengeschichte hinein wurde trotz aller Kritik an Baurs von der Dialektik → Hegels geprägten Sicht auf die Geschichte des frühen Christentums und seinen radikalen literarkritischen Entscheidungen bestimmend für die weitere Diskussion. Die Forderung nach der geschichtlichen Verortung der paulinischen Pseudepigraphie lenkte zugleich den Blick von der Verfasserfrage auf die Frage der theologiegeschichtlichen Position und führte damit zu einer Ausweitung des Begriffs Paulinismus über die eigentlichen Deuteropaulinien hinaus auf weitere Schriften. So behandelte O. Pfleiderer in seinem epochalen Werk zum Paulinismus (1873, 21890) unter dieser Überschrift nicht nur sie, sondern auch den Hebräerbrief, Barnabasbrief, Ersten Klemensbrief, Ersten Petrusbrief und die Ignatianen.

Im Fortgang der von Baur angestoßenen Diskussion kam es zu weiteren Differenzierungen der Sicht auf das Phänomen Paulinismus und seiner geschichtlichen Einordnung, die letztlich zu einer Aushöhlung und zum Verblassen des Begriffs führten. In diesem Kontext begegnet nun auch der Begriff Deuteropaulinismus, der erstmals in H.J. Holtzmanns Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie (1897 und 21911) eine eigenständige Bedeutung bekommt. Holtzmann unterschied zwischen dem Paulinismus als der Lehre des Apostels und dessen Weiterwirken in einem von verschiedenen Einflüssen geprägten Deuteropaulinismus, zu dem er neben Epheserbrief, Kolosserbrief, den Pastoralbriefen und dem Hebräerbrief auch die katholischen Briefe zählte.

Der hier zugrundeliegende ideengeschichtliche Ansatz konnte jedoch keine befriedigende Antwort auf die Frage bieten, wie derart unterschiedliche Berufungen auf Paulus innerhalb eines konzeptionellen Zusammenhangs möglich seien. Als Lösung dieses Problems bot sich die Vorstellung einer Paulusschule an, in der aus unterschiedlichen Traditionen kommenden Lehrer auf Paulus und seine Briefe zurückgreifen. An die Stelle der konzeptionellen Einheit tritt damit die institutionelle, die es erlaubt auch Gegensätzliches zu integrieren. So finden sich bei O. Pfleiderer in der neukonzipierten zweiten Auflage seiner Geschichte des Urchristentums (1902) Hebräerbrief, Epheserbrief, Kolosserbrief, Ign, Poly und Pastoralbriefe jetzt als Schriften der Paulinischen Schule eingeordnet.

Nicht zuletzt die Möglichkeit, die paulinische Pseudepigraphie so als eine Variante der anerkannten Schulpseudepigraphie verstehen zu können, führte wieder zu einer Konzentration auf die direkten paulinischen Pseudepigraphen. Zugleich wurde die Wirkung dieser Schule ausgeweitet, indem ihr auch die Sammlung des Corpus Paulinum zugeschrieben wurde. Paulusschule wird deshalb gegenwärtig häufig synonym für Deuteropaulinismus in diesem engeren Sinn verwendet und die Möglichkeit ihrer Initiation durch Paulus selbst erwogen (Conzelmann, Vegge).

Die Problematik dieses Ansatzes liegt in der Mehrdeutigkeit des Begriffs Schule, der nach Frenschkowski sowohl einen a) inhaltlichen, durch Lehrer vermittelten Traditionszusammenhang, b) eine trotz heterogener Ideen bestehende personale Gemeinschaft mit dem Ziel der Wissensvermittlung oder auch c) eine feste Institution bezeichnen kann. Es hat sich als schwierig erwiesen, derartige Beziehungen identifizierbarer Kreise oder gar eine feste Institution – etwa in Analogie zu antiken Philosophenschulen oder jüdischen Lehrhäusern (Schmeller, Vegge, Alexander) – als eigene Organisationsform im Gegenüber zur paulinischen Gemeinde zu verifizieren. Der Begriff Schule wird deswegen häufig in wenig spezifischer Weise gebraucht, bzw. ganz abgelehnt und durch offene Formulierung wie paulinische Tradition ersetzt, deren Vermittlung in jeweils unterschiedlicher Weise erfolgen kann.

Außerdem wird in der neueren Diskussion stärker die Heterogenität der deuteropaulinischen Briefe wahrgenommen, die das zugrundeliegende Verständnis eines Deuteropaulinismus als theologischer Konzeption oder Schule weiter aufsprengt. Solche Differenzierungen zeigen sich in der Annahme mehrerer, unterschiedlich ausgerichteter Paulusschulen (repräsentiert durch Kolosserbrief / Epheserbrief einerseits und den Pastoralbriefen andererseits bei Unklarheit über die Rolle des Zweiten Tessalonicherbriefes) oder einer konzeptuellen Unterscheidung von Deutero- (2Thess, Kol, Eph) und Tritopaulinen (Past, Eph).

3.3. Merkmale

Sofern mit einem Konzept Deuteropaulinismus gearbeitet wird, werden ihm folgende Merkmale zugeschrieben:

  • Theologie Die Rechtfertigungslehre tritt zurück. Wo die damit verbundenen Begriffe wie → Rechtfertigung, → Gesetz, → Werke, → Glauben begegnen, werden sie als bloße Formeln tradiert oder in einem anderen Sinn verwendet. Dagegen gewinnen außerpaulinische Theologumena eine wachsende Bedeutung. Die fides qua tritt gegenüber der fides quae zurück. Die Glaubensinhalte werden dabei zunehmend in Formeln gefasst.
  • Paulusbild Insgesamt zeigt sich eine personale Zuspitzung auf Paulus, dessen Autorität stärker betont wird. Der abwesende Apostel erhält eine normative Rolle angesichts der Bedrohung durch häretische Strömungen. Paulus ist nicht mehr nur Garant der Tradition, sondern wird selbst zu deren Inhalt.
  • Eschatologie Das Zeitverständnis ist geprägt durch das Zurücktreten der Parusieerwartung und damit einhergehend durch die wachsende Rolle der präsentischen Eschatologie. Die Tradition bekommt eine stärkere Bedeutung für die Herausbildung einer christlichen Identität.
  • Ekklesiologie Die ekklesiologischen Vorstellungen werden weiterentwickelt im Blick auf die Gesamtkirche, die Ausbildung von Ordnungs- und Amtsstrukturen und ihr Verhältnis zur nichtchristlichen Umwelt. Dabei zeigt sich eine Verlagerung von Missionsfragen hin zu den Problemen wachsender Gemeinden (→ Kirche, → Amt).
  • Ethik Neben der bleibenden christologischen Begründung der Ethik tritt eine zunehmende Verknüpfung mit der Ekklesiologie. Außerdem ergeben sich Änderungen im Ethos durch die Adaption hellenistischer Konventionen.

Es ist offensichtlich, dass die hier aufgeführten Merkmale jeweils nur auf einzelne Briefe zutreffen und in geradezu diametrale Gegensätze zu Vorstellungen geraten können, die in anderen Briefen eine Rolle spielen.

3.4. Kritik

Angesichts der Unklarheiten bei der Bestimmung der Extension des Begriffs und der deutlichen Differenzen in den pseudepigraphen Intentionen und Konzeptionen der einbezogenen Schriften ist es nach dem Stand der gegenwärtigen Diskussion kaum möglich, Deuteropaulinismus als Kategorie so zu fassen, dass ihr ein heuristischer Wert zukommt. Eher scheint der Begriff dazu angetan, die Probleme, die sich aus der Heterogenität des Phänomens ergeben, zu verdecken, so dass auf ihn besser verzichtet werden sollte.

Der alternativ dazu verwendete Begriff Paulustradition bringt die Diversität der Erscheinungsformen in ihren verschiedenen Facetten zwar besser zum Ausdruck, bleibt in seiner Offenheit aber letztlich blass.

Eine weitere Klärung der Frage, ob und in welcher Weise Bewegungen, die zur Entstehung der Deuterpaulinen geführt haben, als ein innerer Zusammenhang verstanden werden können, muss bei der Untersuchung des Profiles und des Ortes der einzelnen Pseudepigraphen in den frühchristlichen Diskursen ansetzen. Dabei müssen diese in ihrer jeweiligen Eigenart sowohl als Traditions- als auch als Rezeptionsprodukte in den Blick kommen und in ihrer intentionalen Bezogenheit auf die Protopaulinen als literarische Größe ebenso wie in ihrem historischen Setting wahrgenommen werden.

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