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Der apokryphe Brief des Jakobus

Andere Schreibweise: Epistula Jacobi apocrypha; The Apocryphon of James

(erstellt: August 2022)

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1. Überlieferung und literarische Gestalt

Der sogenannte apokryphe Brief des Jakobus (abgekürzt EpJac für Epistula Jacobi apocrypha) ist die, eigentlich titellose, zweite Schrift in Codex I aus dem Handschriftenfund von → Nag Hammadi in Oberägypten. Wegen des brieflichen Rahmens der Schrift hat sich im deutschen Sprachraum die moderne Bezeichnung apokrypher Jakobusbrief durchgesetzt. Im Kern ist der Text allerdings ein typisch gnostisches Dialogevangelium (oder Erscheinungsdialog), das in der brieflichen Einleitung ausdrücklich als Geheimschrift (apokryphon) bezeichnet wird, weshalb sich im englischen Sprachraum die Bezeichnung Apocryphon of James etabliert hat (franz. L’Épître apocryphe de Jacques). Wie alle Schriften in Nag-Hammadi-Codex I ist auch der apokryphe Jakobusbrief in einer spezifischen Spielart des lykopolitanischen Dialekts des Koptischen überliefert (Dialekt L6, → Koptisch). Der Text war bis zu seiner Entdeckung im Rahmen des Handschriftenfundes von Nag Hammadi im Dezember 1945 unbekannt und auch im Nachhinein lassen sich keine Zitate oder Bezüge etwa bei Kirchenvätern nachweisen, die sicher auf diese Schrift hindeuteten. In Codex I nimmt der apokryphe Jakobusbrief die Seiten 1-16 ein; das als erste Schrift gezählte Gebet des Apostels Paulus findet sich auf einem nicht paginierten Vorsatzblatt. Auf Seite 16 ist das Ende der titellosen Schrift mit einer Zierleiste markiert, danach beginnt das Evangelium der Wahrheit.

Der apokryphe Jakobusbrief wurde ursprünglich sicher auf Griechisch abgefasst; darauf deutet etwa der stehengebliebene griechische Dativ ἑβραίοις (hebraiois) in p. 1,16 hin.

2. Entstehungszeit und Herkunft

Die geographische Herkunft des apokryphen Jakobusbriefes ist letztlich unbekannt. In der Forschung erwogen werden einerseits der syro-palästinische Raum bzw. Kleinasien (Kirchner; Perkins), andererseits Ägypten (Williams; Helderman; van der Vliet). Für die erstgenannte Lokalisation werden die verwendete Spruch- und Gleichnistradition sowie die Hochschätzung des Jakobus ins Feld geführt, für die zweite u.a. die Berührungen mit Motiven in der wahrscheinlich in Ägypten entstandenen → Epistula Apostolorum. Die sehr konkrete Frontlinie zwischen Epistula Apostolorum und dem apokryphen Jakobusbrief macht eine ägyptische Herkunft des apokryphen Jakobusbriefes m.E. etwas wahrscheinlicher.

Umstritten ist in der Forschung ebenfalls die Datierung des apokryphen Jakobusbriefes. Die Bandbreite reicht von einer Frühdatierung in das 1. Jahrhundert bis zu einer Spätdatierung Ende des 2. / Anfang des 3. Jahrhunderts. Ein Argument für die Frühdatierung ist die Benutzung ähnlicher Traditionen wie in den später kanonisch gewordenen Evangelien, ohne dass eine Abhängigkeit von diesen zu erkennen wäre. Allerdings setzt die Eingangsszene, in der die Jünger nach ihrer Erinnerung die Worte Jesu „zu Büchern ordnen“, die Existenz von (Evangelien-)Schriften voraus sowie deren (pseudonyme) Abfassung durch einzelne Jünger Jesu. Außerdem hat die Schrift als Adressaten bereits „die Kinder“, das heißt die nachapostolische Generation, im Blick. Auch das Zeitschema des apokryphen Jakobusbriefes, die Erscheinung des Offenbarers nach 550 Tagen, deutet auf das Konzept einer abschließenden Offenbarung hin, die frühere Offenbarungen überbieten soll. Eine Entstehung des apokryphen Jakobusbriefes im 2. Jahrhundert n. Chr. ist daher wahrscheinlicher. Eine Datierung des Textes in das 2. Jahrhundert schließt nicht aus, dass der Verfasser des apokryphen Jakobusbriefes ältere Jesustradition verarbeitet hat.

3. Inhalt

Obwohl die ersten Zeilen des Textes stark beschädigt sind, lässt sich das Briefpräskript mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruieren. Jakobus, der sich noch an anderer Stelle als Autor zu erkennen gibt, ist es, der an eine mit Du angeredete Einzelperson schreibt, deren Name auf -θος (-thos) endet (sofern es sich nicht um den Namen einer Ortsgemeinde handelt, deren Repräsentant angeschrieben würde, wofür allerdings der Platz kaum ausreicht). Als Personenname kommt dann im Grunde nur Kerinthos in Frage, womit am ehesten der bei Irenäus erwähnte judenchristliche Gnostiker (?) des 1. / 2. Jahrhunderts gemeint sein dürfte (vgl. Haer 1,26,1; 3,3,4; 3,11,1). Bei Epiphanius (Haer 28: Gegen die Anhänger Kerinths) erscheint Kerinth als Gegner von Jakobus, → Petrus und → Paulus. Bei dem (pseudonymen) Verfasser ist wohl am ehesten an den → Herrenbruder Jakobus zu denken, dem sowohl der neutestamentliche → Jakobusbrief als auch die beiden Jakobusapokalypsen aus Nag-Hammadi-Codex V zugeschrieben sind. Allerdings fehlen hier eindeutige Motive und Attribute wie der Ehrentitel „der Gerechte“ (vgl. EvThom 12), sodass wir mit einer Überblendung der neutestamentlichen Jakobusgestalten, insbesondere des Herrenbruders und → Jakobus, des Sohnes des Zebedäus (Mk 10,35-45), zu rechnen haben.

Eigentlicher Inhalt des Schreibens ist dann der als Geheimlehre apostrophierte Offenbarungsdialog, der auf eine bereits früher übermittelte Geheimlehre folgt (möglicherweise eine Bezugnahme auf die → Erste Apokalypse des Jakobus aus Nag-Hammadi-Codex V). Die Offenbarung wird Jakobus und Petrus exklusiv gewährt, sie erscheinen als besonders hervorgehobene Empfänger von Offenbarungen, ihre Distanz zu den übrigen Jüngern ist ungewöhnlich groß. Diese werden häufig in geradezu ironischer Weise als wenig verständig charakterisiert. Am Ende der Schrift werden sie von Jakobus sogar weggeschickt, weil sie so wenig verstanden haben. Andererseits ist auch Petrus Jakobus deutlich nachgeordnet. Ihr Verhältnis erinnert an das Verhältnis des Petrus zu dem geheimnisvollen namenlosen → „Jünger, den Jesus liebte“ im Johannesevangelium (Joh 20,3-10; 21,20-23). Wichtiger Teil der Offenbarung ist die Aufforderung, „erfüllt“ zu werden. Die Erfüllung wiederum kann erworben werden, aber auch wieder verloren gehen, sodass sie permanenter Anstrengung bedarf.

Ein weiteres wichtiges Thema im apokryphen Jakobusbrief ist das Leiden. Dieses wird sehr konkret vorgestellt, was dafür spricht, dass das Leiden hier mehr ist als ein allgemeines theologisches Thema. Vielmehr dürften die Adressaten des Textes wirklich bedroht gewesen sein. Das Leiden ist ebenso unabwendbar, wie es notwendige Durchgangsstation zur Erlösung ist.

Der eigentliche Adressat des Schreibens ist die kommende, nachapostolische, Generation, die „Kinder“;, das Schreiben ist also eine Art Handreichung für ihre Erlösung. Dies zu verdeutlichen ist vermutlich auch der Sinn des allerdings schwer zu übersetzenden Gleichnisses vom Dattelpalmenschößling (p. 7), das den Auftakt bildet zu einer Reihe von Gleichnissen, die teils ausgeführt, teils nur aufgezählt werden.

Abschließend wird Jakobus und Petrus exklusiv eine himmlische Vision gewährt.

4. Theologische Eigenart

Der christliche Charakter des apokryphen Jakobusbriefes ist auf den ersten Blick ersichtlich. An der Realität von → Kreuz und Tod Jesu wird festgehalten. Sein Leiden ist zugleich das Vorbild für die den Adressaten in Aussicht gestellte Bedrängnis. Schwierigkeiten bereitete indes den ersten Herausgebern der Schrift die Wendung hnn oušou „im Sande“ in der folgenden Passage: „Der Herr antwortete und sprach: … Wollt ihr nicht aufhören, das Fleisch zu lieben und euch vor dem Leiden zu fürchten? Oder wisst ihr nicht, dass ihr noch misshandelt, unrechtmäßig angeklagt, ins Gefängnis gesperrt, ungesetzlich verurteilt, grund<los> gekreuzigt und im Sande verscharrt werden werdet, wie ich selbst durch den Bösen?“ (EpJac p. 5). Die Aussage, dass Jesus nach der Kreuzigung „im Sande verscharrt“ worden war, schien mit der neutestamentlichen Grablegungstradition unvereinbar, weshalb zunächst versucht wurde, der schwierigen Stelle mit verschiedenen Konjekturen beizukommen: „dans le parfum“ = hnn oušoou als Anspielung auf Joh 19,40 (Kasser; Rouleau) oder „in Schande“ = hnn oušōs (Schenke; Kirchner), was in der Sache etwa auf das Gleiche hinausläuft wie „im Sande“. Die Rede vom Verscharren im Sande ist aber auf dem Hintergrund von Ex 2,12, wo der von → Mose erschlagene Ägypter im Sande verscharrt wird, nicht nur sachlich und sprachlich (im Koptischen jeweils dieselbe Wendung) möglich, sie entspricht auch der römischen Kreuzigungspraxis, die Verurteilten nach der Kreuzigung an Ort und Stelle zu verscharren. Reguläre Bestattungen von Gekreuzigten auf Bitten von Angehörigen waren grundsätzlich möglich, aber die Ausnahme (Digesten 48.24.1 und 3). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die im apokryphen Jakobusbrief offenbar vertretene Tradition einer unehrenhaften Bestattung Jesu nach der Kreuzigung eng mit der Kreuzigungstradition in der Epistula Apostolorum berührt, wonach Jesus direkt auf → Golgotha bestattet wurde: „er ist begraben an einem Orte, der Schädelstätte heißt“ (EpAp 9). Die Epistula Apostolorum wiederum ist eine antignostische Schrift, die sich jedoch der gnostischen Gattung des Offenbarungsdialogs bedient und – wie der apokryphe Jakobusbrief – mit einem Briefrahmen versehen ist.

Der gnostische Hintergrund des apokryphen Jakobusbriefes offenbart sich erst bei genauerem Hinsehen, auch wenn bereits die gewählte Gattung des Offenbarungsdialogs auf ein gnostisches Milieu schließen lässt. Die Christologie ist mehrstufig. Der apokryphe Jakobusbrief unterscheidet klar zwischen dem Offenbarer, der auch schon früher in Gleichnissen geredet hat und dem es nicht nur nachzueifern gilt, sondern dem zuvorzukommen und den zu übertreffen sogar möglich ist, und dem „Sohn des Heiligen Geistes“, der jenem deutlich übergeordnet ist: „Werdet besser als ich und gleicht so dem Sohn des Heiligen Geistes!“ (EpJac p. 6).

Ein weiterer typischer Topos frühchristlicher Auseinandersetzung ist die Frage nach der weiteren Gültigkeit des Alten Testaments bzw. hier konkret der alttestamentlichen Prophetie (vgl. z.B. Origenes, Commentarius in Johannem II 34,199-201). Der Erwartung fortdauernder Prophetie wird vom Offenbarer mit Hinweis auf die Enthauptung → Johannes des Täufers eine Absage erteilt: „Darauf fragte ich ihn: »Herr, auf welche Weise können wir denen prophezeien, die von uns verlangen, dass wir ihnen prophezeien? Denn zahlreich sind die, die uns bitten und von uns erwarten, einen Spruch zu hören.« Der Herr antwortete und sprach: »Wisst ihr nicht, dass mit Johannes das Haupt der Prophetie entfernt wurde?« Ich aber sprach: »Herr, ist es denn möglich, das Haupt der Prophetie abzuschlagen?« Der Herr sprach zu mir: »Wenn ihr wisst, was ›Haupt‹ bedeutet und dass die Prophetie vom Haupt ausgeht, dann begreift (auch), was es bedeutet: ›Ihr Haupt wurde abgeschlagen‹.“ (EpJac p. 6). Auch der Name des Adressaten, Kerinth, wäre, wenn richtig ergänzt, ein Indiz für ein gnostisches Herkunftsmilieu des apokryphen Jakobusbriefes.

Siehe auch

Gnosis

Literaturverzeichnis

Textausgaben und Übersetzungen

  • The Facsimile Edition of the Nag Hammadi Codices. Codex I. Published under the Auspices of the Department of Antiquities of the Arab Republic of Egypt in Conjunction with the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Leiden 1977
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  • Kirchner, D., Epistula Jacobi Apocrypha. Die zweite Schrift aus Nag-Hammadi-Codex I (TU 136), Berlin 1989
  • Malinine, M./Puech, H.-C./Quispel, G./Kasser, R., Epistula Iacobi apocrypha. Codex Jung F. Ir-F. VIIIv (p. 1-16), Zürich/Stuttgart 1968
  • Rouleau, D./Roy, L., L’Épître apocryphe de Jacques (NH I,2). L’Acte de Pierre (BG 4) (BCNH.T 18), Québec 1987
  • Schenke, H.-M., Der Jakobusbrief aus dem Codex Jung, in: OLZ 66 (1971) 117-130
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Untersuchungen

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  • Pratscher, W., Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition (FRLANT 139), Göttingen 1987
  • Van der Vliet, J., Spirit and Prophecy in the Epistula Iacobi apocrypha (NHC I,2), in: VigChr 44 (1990), 25-53

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