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Demotische Chronik

(erstellt: Februar 2021)

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1. Bezeichnung und Überlieferung

Demotische Chronik 01

Als „Demotische Chronik“ wird ein Text bezeichnet, der auf dem Rekto des Papyrus Bibliothèque Nationale 215 teilweise erhalten ist. Bei der Handschrift handelt es sich um ein Palimpsest. Sie soll aus dem memphitischen Raum stammen und wird generell ins 3. Jh. v. Chr. datiert. Ursprünglich wurde sie von einem Mitglied der Napoleonischen Expedition 1801 in Kairo erworben, nach Frankreich mitgenommen und später (Revillout [1880a, 57] gibt an, es sei wenige Jahre vor seinem Artikel gewesen) von der Bibliothèque Nationale, Paris erworben.

Die moderne Bezeichnung „Demotische Chronik“ wurde von Eugène Revillout (1877) bei seiner ersten Präsentation dieser Handschrift eingeführt, da er sie (irrig) für eine historische Chronik hielt – später betrachtete er selbst sie als historischen Kommentar zu ägyptischen patriotischen Prophezeiungen (Revillout 1880b, 146). Der Begriff „Chronik“ für diesen Text ist sachlich unpassend, aber noch nicht durch eine allgemein anerkannte andere Bezeichnung ersetzt. Spiegelberg (1914) hat „Orakel“ vorgeschlagen, was die Natur des Textes aber auch nicht wirklich trifft.

2. Bearbeitungsgeschichte

Die Basis-Edition des Textes ist immer noch die von Spiegelberg (1914), in der der Papyrus mit Umschrift, Übersetzung, Glossar mit philologischen Anmerkungen sowie Photos in Originalgröße vorgelegt wird. Sie war damals sehr verdienstvoll, ist aber inzwischen in etlichen Details nicht mehr auf dem aktuellen Forschungsstand. Wichtige neuere Gesamtübersetzungen sind insbesondere Felber (2002), Quack (2017) sowie Hoffmann & Quack (2018, 244-251); inhaltliche Studien Quack (2009), Quack (2015). Einen Überblick über den Text bietet Quack (2016, 196-200).

3. Text und Inhalt

Der Text ist in numerierte „Kapitel“ eingeteilt, von denen der größere Teil des sechsten sowie das gesamte siebte bis zwölfte, schließlich noch der Anfang des 13. Kapitels erhalten sind. Der Verlust des Anfangs des Papyrus bringt mit sich, dass die ursprüngliche Situierung nicht erhalten ist und allenfalls bedingt rückerschlossen werden kann. Erkennbar ist, dass ein Herrscher mit „du“ angesprochen wird. Somit redet offenbar ein Deutungsspezialist mit dem König. Es ist denkbar, dass er aufgefordert wurde, einen vorderhand trivial wirkenden Text auszudeuten, der unter speziellen Umständen zutage getreten ist, die auf eine tiefere Bedeutung hinweisen, ähnlich wie beim Menetekel im biblischen → Danielbuch (Dan 5,25-26).

Konkret gibt es üblicherweise einen sehr knappen und kryptischen Basistext, der auf die historische Situation Ägyptens insbesondere im 4. Jh. v. Chr. ausgedeutet wird. Die Deutungstechniken sind teilweise recht komplex, wobei auch direkte und indirekte Wortspiele herangezogen werden (Johnson & Ritner 1990; Lippert 2001). Zumindest ein Teil der Aussagen des Basistextes betrifft Priesterdienst, den Mondzyklus und religiöse Feste (Quack 2009, 40).

Ein erster historischer Durchgang in Kapitel 6-9 kommt nach sehr knapper Nennung der Könige ab Amyrtaios (404-399 v. Chr.) bis Teos (365-360 v. Chr.) rasch zu einem künftigen Herrscher, der nach ihnen herrschen wird. Er wird der Stadt Herakleopolis zugeordnet und deren Hauptgott Herischef unterstellt. Er wird nach den Griechen situiert; sein Erscheinen wird als Rebellion verstanden und mit dem Auftreten des Horus verglichen.

In Kapitel 10 und 11 setzt die historische Ausdeutung erneut mit Amyrtaios ein. Hier wird jeder Herrscher ausführlicher besprochen, insbesondere werden sie daran gemessen, ob sie sich korrekt verhalten und das Gesetzt beachtet haben oder nicht. Letzteres wird als Ursache für ein schnelles Ende der Herrschaft, teilweise auch die Einsetzung einer ganz neuen Dynastie statt der Nachfolge des Sohnes betrachtet. Im Anschluss an Nektanebes I. (380-362 v. Chr.) und Teos, die erneut als späteste Herrscher namentlich genannt werden, erscheint ein namenloser Herrscher, für den 18 Regierungsjahre angegeben werden und der mit Nektanebos (II.; 360-342 v. Chr.) identifiziert werden kann. Im Anschluss an ihn wird eine sehr leidvolle Fremdherrschaft durch die Perser vorhergesagt. Kapitel 11 und 12 kommen wieder auf Nektanebes (I.) zurück, dem schwere Vorhaltungen gemacht werden, insbesondere im Hinblick auf seine Gier. Das nur fragmentarisch erhaltene Kapitel 13 thematisiert die anschließende Herrschaft der Perser und Griechen.

4. Datierung und Situierung

In seinem aktuellen Textzustand spielt der Text klar auf den Einzug Alexanders des Großen in Ägypten an, kann also erst nach 332 v. Chr. seine letzte Form erreicht haben. Unter Berücksichtigung der paläographischen Datierung des erhaltenen Textträgers lässt dies etwa 100 Jahre Spielraum für die genaue Ansetzung. Da eine Herrschaft der Griechen für „lange Zeit“ vorausgesagt wird (6, 20) ist eher die Mitte bis zweite Hälfte dieser Spanne plausibel. Jedoch bietet der Text recht klare Anzeichen einer früheren Eigensituierung. Als Gegenwartsbezug wird die Zeit des Nektanebes (I.) und seines Sohnes, Mitregenten und ephemeren Nachfolgers Teos behandelt, also der dritt- und vorletzte König der 30. Dynastie.

Teilweise ist der Text als Traktat über das Königtum betrachtet worden (Johnson 1983; Gozzoli 2006, 287). Tatsächlich handelt es sich aber ganz offensichtlich nicht um einen theoretischen Traktat, auch wenn er Konzeptionen zugrunde legt, wie sich ein König verhalten soll (Quack 2009, 35f.).

Früher hat man den Text als gegen die Griechen gerichtetes Schriftstück verstanden, das insbesondere im Interesse einer Familie aus Herakleopolis konzipiert sei (Spiegelberg 1914, 6). Allerdings hat Johnson (1984) zurecht darauf hingewiesen, dass im Text vielmehr nur die Perser, nicht die Griechen negativ geschildert werden. Noch weitergehend hat Felber (2002) den Text sogar als Propaganda zugunsten der Ptolemäer, insbesondere Ptolemaios’ I. verstehen wollen (zustimmend Gozzoli 2006, 290). Allerdings ist die Schilderung des demotischen Textes, dass der künftige Herrscher aus Herakleopolis kommt und durch einen Aufstand zur Macht kommt, damit schwer vereinbar. Von Huss (1994, 143-163) sowie mir selbst (Quack 2009) stammt der Vorschlag, dass es sich ursprünglich um ein Propagandawerk zugunsten Nektanebos’ II. handelt, der einen letztlich erfolgreichen Aufstand gegen Teos unternahm (Quack 2009). Zugunsten einer solchen Deutung spricht die besonders ausführliche negative Behandlung eben seiner beiden unmittelbaren Vorgänger. Allerdings muss man in diesem Fall mit mindestens einer späteren Überarbeitungsschicht rechnen. Für die Letztverwendung bleibt die intendierte Stoßrichtung unklar, da jenseits des Textes selbst keine Indizien für einen von Herakleopolis ausgehenden Rebellionsversuch fassbar sind.

5. Bedeutung für das Alte Testament

Die grundsätzliche Konzeption, Erfolg oder Misserfolg eines Herrschers davon abhängig zu sehen, inwieweit er den göttlichen Geboten folgte, ist schon seit Meyer (1916, 299) mit der Konzeption des → deuteronomistischen Geschichtswerks zusammengebracht worden (vgl. Griffiths 1991, 176-183; Quack 2015, 39). Andererseits hat Daumas (1961) auf Verbindungen der Ausdeutungstechnik des demotischen Textes zu Kommentaren in → Qumran, insbesondere dem zu Habakuk, hingewiesen. Sofern die Deutung der Situierung des Textes und der Konsultation eines Deutungsspezialisten zutrifft, liefert er auch wichtiges Vergleichsmaterial für Daniel 5.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992

2. Weitere Literatur

  • Blasius, A. / Schipper, B.U. (Hgg.), 2002, Apokalyptik und Ägypten. Eine kritische Analyse der relevanten Texte aus dem griechisch-römischen Ägypten (OLA 107), Leuven / Paris / Sterling.
  • Daumas, F., 1961, Littérature prophétique et exégétique égyptienne et commentaires esseniens, in: A la rencontre de Dieu. Mémorial Albert Gelin (Bibliothèque de la Faculté catholique de théologie de Lyon 8), Le Puy, 203-221.
  • Felber, H.J., 2002, Die demotische Chronik, in: Blasius / Schipper, 65-111.
  • Gozzoli, R.B., 2006, The Writing of History in Ancient Egypt during the First Millennium BC (ca. 1070-180 BC). Trends and Perspectives (GHP Egyptology 5), London.
  • Hoffmann, F. / Quack, J.F., 2018, Anthologie der demotischen Literatur. Zweite, neubearbeitete und erheblich erweiterte Auflage (Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie 4), Berlin.
  • Griffiths, J.G., 1991, The Divine Verdict. A Study of Divine Judgement in the An­cient Religions (Numen Supplement 52), Leiden / New York / Kopenhagen / Köln.
  • Huss, W., 1994, Der makedonische König und die ägyptischen Priester. Studien zur Geschichte des ptolemaiischen Ägypten (Historia Einzelschriften 85), Stuttgart.
  • Johnson, J., 1983, The Demotic Chronicle as a Statement of a Theory of Kingship, JSSEA 13, 61-72.
  • Johnson, J., 1984, Is the Demotic Chronicle an Anti-Greek Tract?, in: H.-J. Thissen / K.Th. Zauzich (Hgg.), Grammata demotika (FS Erich Lüddeckens), Würzburg, 107-124.
  • Johnson, J.H. / Ritner, R.K., 1990, Multiple Meaning and Ambiguity in the „Demotic Chronicle“, in: S. Israelit-Groll (Hg.), Studies in Egyptology Presented to Miriam Lichtheim, Jerusalem, vol. 1, 494-506.
  • Lippert, S.L., 2001, Komplexe Wortspiele in der demotischen Chronik und im Mythus vom Sonnenauge, Enchoria 27, 88-100.
  • Meyer, E., 1915, Ägyptische Dokumente aus der Perserzeit (SPAW 1915/16), Berlin.
  • Quack, J.F., 2009, Menetekel an der Wand? Zur Deutung der demotischen Chronik, in: M. Witte / J.F. Diel (Hgg.), Orakel und Gebete. Interdisziplinäre Studien zur Sprache der Religion in Ägypten, Vorderasien und Griechenland in hellenistischer Zeit (FAT 2. Reihe 38), Tübingen, 23-51.
  • Quack, J.F., 2015, „As he disregarded the law, he was replaced during his own lifetime“. On Criticism of Egyptian Rulers in the So-Called Demotic Chronicle, in: H. Börm (Hg.), Antimonarchic Discourse in Antiquity (Studies in Ancient Monarchy 3), Stuttgart, 25-43.
  • Quack, J.F., 2016, Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte III. Die demotische und gräko-ägyptische Literatur. Dritte, erneut veränderte Auflage (Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie 3), Berlin.
  • Quack, J.F., 2017, The Demotic Chronicle, in: K.L. Younger (Hg.), The Context of Scripture, Volume 4. Supplements, Leiden / Boston, 27-32.
  • Revillout, E., 1877, Une chronique égyptienne contemporaine de Manéthon, Revue archéologique, nouvelle série 33, 73-80.
  • Revillout, E., 1880a, Premier extrait de la Chronique Démotique de Paris: le rois Amasis et les mercenaires selon des données d’Hérodote et les renseignements de la Chronique, Revue égyptologique 1, 49-87.
  • Revillout, E., 1880b, Second extrait de la Chronique Démotique de Paris: les prophéties patriotiques, Revue égyptologique 1, 145-153.
  • Revillout, E., 1882, Second extrait de la Chronique Démotique de Paris: les prophéties patriotiques; données historiques du papyrus sur les 28e, 29e et 30e dynasties, Revue égyptologique 2, 1-10, 52-62.
  • Spiegelberg, W., 1914, Die sogenannte demotische Chronik des Pap. 215 der Biblio­thèque Nationale zu Paris nebst den auf der Rückseite des Papyrus stehen­den Texten (DemSt 7), Leipzig.

Abbildungsverzeichnis

  • Die Demotische Chronik (Papyrus Bibliothèque Nationale 215). Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8304631p.image

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