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Delitzsch, Franz

(1813-1890)

(erstellt: Februar 2019)

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Delitzsch, Franz 01
Franz Delitzsch ist unter den Alttestamentlern des 19. Jh.s keiner Richtung eindeutig zuzuordnen. Er war fest im konfessionellen Luthertum (mit Einflüssen der Erweckungsfrömmigkeit) verwurzelt und hielt an der Bibel als offenbartem Gotteswort fest. Im Unterschied zu anderen konservativen Lutheranern verschloss er sich der historischen Kritik biblischer Texte jedoch nicht. Neben exegetischen Arbeiten im engeren Sinn betrieb er intensive hebraistische und judaistische Studien, Letztere aber nicht nur aus bibelwissenschaftlichem Interesse, sondern auch aus dem Anliegen der Judenmission heraus. Als Hebraist genießt Delitzsch bis heute Ansehen, seine alttestamentliche Hermeneutik gilt dagegen weithin als obsolet. Ob einige seiner Ansätze in aktuellen theologischen Diskussionen fruchtbar gemacht werden können, bleibt immerhin zu fragen.

1. Zur Biographie

Das Standardwerk zur Biographie Delitzschs ist immer noch Wagner, 13-206; vgl. aber auch Corzine, 25-72, als biographische Miniatur Smend 2017.

Franz Julius Delitzsch wurde am 23. Februar 1813 in Leipzig als Sohn eines wenig begüterten Altwarenhändlers geboren. Den Besuch des Gymnasiums und der Universität Leipzig ermöglichte ihm der Buchantiquar Levy Hirsch, ein jüdischer Freund der Familie. Über Delitzschs wahre Herkunft und sein Verhältnis zu Hirsch waren schon zu seinen Lebzeiten Gerüchte im Umlauf, die aber nie bestätigt werden konnten (vgl. dazu Wagner, 15-28; auch Smend 2017, 278.280).

Den Gerüchten zufolge war Hirsch der leibliche Vater Delitzschs. Delitzsch wurde daher mit z.T. antisemitischen Untertönen jüdische Herkunft nachgesagt. Immerhin ist urkundlich nachgewiesen, dass Delitzsch am 4. März 1813 in der Leipziger Nikolaikirche getauft wurde. Allerdings wird einer der Taufpaten, Franz Julius Hirsch, nach dem Delitzsch seine Vornamen hat, bisweilen mit Levy Hirsch identifiziert. Dieser könnte neben „Levy“ den doppelten Vornamen „Franz Julius“ verwendet haben, um von der Mehrheitsgesellschaft nicht sogleich als Jude erkannt zu werden. Nun bezeugt Delitzsch aber, dass sich Hirsch selbst erst 1843, zwei Jahre vor seinem Tod, als Ergebnis seiner Missionsbemühungen habe taufen lassen (Selbstbiographie, 10). Womöglich nahm er dabei den Taufnamen „Theodor“ an. Wenn Hirsch dennoch mit dem im Taufregister genannten Franz Julius Hirsch identisch ist, wäre er Delitzschs Taufpate geworden, obwohl er zu dieser Zeit noch jüdischer Religionszugehörigkeit war. Sollte tatsächlich ein solcher Verstoß gegen das Kirchenrecht, womöglich unter Täuschung des Pfarrers, stattgefunden haben, wäre dies am ehesten mit dem Anliegen der Familie Delitzsch zu erklären, ein offizielles verwandtschaftsähnliches Verhältnis zwischen dem Kind und dem Buchhändler zu stiften. Über die Gründe dafür könnte man nur spekulieren.

Wie das Verhältnis zu Hirsch auch immer zu bestimmen ist – Delitzschs Interesse an der Hebraistik, sein für einen evangelischen Theologen dieser Zeit außergewöhnliches Interesse an Geschichte und Literatur des Judentums und sein Engagement für die Judenmission könnten darin ihre Wurzeln haben, dass der junge Delitzsch stark durch diesen jüdischen Freund und Gönner geprägt wurde.

Zum Wintersemester 1831 begann Delitzsch, der nach eigener Darstellung seit seiner Schulzeit „ein völliger Rationalist“ war, Philologie und Philosophie zu studieren: „Nach Wahrheit sehnend vertiefte ich mich in die Systeme der großen deutschen Philosophen“. Sein gesamtes weiteres Leben und Wirken wurde jedoch dadurch bestimmt, dass er durch einen Kommilitonen mit einem erweckten, pietistischen Christentum, das auf eine persönliche Hinwendung zu Jesus Christus ausgerichtet war, in Berührung kam. Delitzsch erfuhr ein Bekehrungserlebnis, bei dem ihn „ein Strahl von oben (…) in den Zustand versetzte, in dem sich Thomas befand, als er rief: Mein Herr und mein Gott!“ Seine Feststellung „von nun an wurde ich Theologe“ ist wohl so zu verstehen, dass ihn seine Erfahrung zum Studienwechsel anregte (die letzten Zitate in: Selbstbiographie, 9; zu einer anderen Quelle des Bekehrungserlebnisses vgl. Wagner, 30f.).

Dass Delitzsch seine Bekehrung als reales Handeln Gottes an ihm verstand, gehört zu den Grundlagen seiner auf Tatsachen bezogenen heilsgeschichtlichen Theologie: Da ein reales Eingreifen Gottes in die Welt seiner Überzeugung nach auch in der Gegenwart erfahrbar ist, sieht er sich zum Widerspruch gegen eine historische Kritik genötigt, deren Rekonstruktionen darauf beruhen, dass ein solches Eingreifen Gottes kategorisch ausgeschlossen wird.

In diesem Zusammenhang sind auch Delitzschs Kontakte zu der von dem Dresdner Pfarrer M. Stephan ausgehenden „stephanistischen“ Bewegung zu erwähnen, die pietistische Traditionen mit lutherischem Konfessionalismus verband (Wagner, 35ff.; auch Corzine, 26-28). Der umstrittene, zeitweise sogar strafrechtlich verdächtige Stephan wanderte 1838 mit einem Teil seiner Anhänger – darunter einigen, denen Delitzsch nahestand – nach Nordamerika aus, wo aus seiner Bewegung die konservativ-lutherische „Missouri-Synode“ hervorging. Delitzsch sah zeitweise in Stephan einen geistlichen Lehrer und pflegte nicht nur in Leipzig, sondern auch im sächsischen Muldental Kontakte zu stephanistischen Kreisen. Wie seine eigene Bekehrungserfahrung gehört auch das dort gepflegte konfessionelle Luthertum mit starker Akzentuierung auf persönlicher Bekehrung und lebendiger Gotteserfahrung zum religiösen „Wurzelboden“ von Delitzschs gesamtem Lebenswerk (Wagner, 36).

Nach dem theologischen Kandidatenexamen und der Promotion zum Doktor der Theologie mit einer nicht erhaltenen Dissertation (1835) setzte Delitzsch in Leipzig semitistische und judaistische Studien fort, zeitweilig mit der Absicht, sich hauptamtlich der Judenmission zu widmen. Aus dem lebenslangen Bemühen um die Judenmission sollte u.a. Delitzschs hebräische Übersetzung des Neuen Testaments hervorgehen (1864-1874, erschienen 1877) (vgl. dazu Wagner, 165.169-172.177f.).

1842 habilitierte Delitzsch sich mit einer Arbeit De vita et aetate Habacuci Prophetae in Leipzig, wo er anschließend als Privatdozent und außerordentlicher Professor lehrte, bis er 1846 als ordentlicher Professor für die Exegese des Alten und des Neuen Testaments nach Rostock berufen wurde. 1850 folgte er einem Ruf für „alttestamentliche Exegese, christliche Apologetik, theologische Moral und darein einschlagende Fächer“ nach Erlangen.

In der Erlanger Zeit begann Delitzschs Mitarbeit an dem von C.F. Keil begründeten „Biblischen Commentar über das Alte Testament“, der eine Auslegung des Alten Testaments in kirchlicher Tradition anstrebte, die die im Alten Testament „niedergelegten göttlichen Offenbarungs-Tatsachen und Warheiten nicht nur grammatisch-historisch“ zu erläutern, sondern auch „biblisch-theologisch zu entwickeln“ suchte (so Keil VI [im Vorwort zum ersten Band der Reihe]; vgl. auch Siemens, 144-161). Delitzsch übernahm in dieser auch als „Keil-Delitzsch“ bezeichneten Reihe die Kommentierung der „poetischen Bücher“ (Hiob, Psalmen, Sprüche, Kohelet, Hoheslied) sowie des Jesajabuches.

1867 erhielt er einen Ruf an die Universität Leipzig. Obwohl Delitzsch im bayerischen Luthertum höchstes Ansehen genoss und durch großzügige Angebote in Erlangen gehalten werden sollte – u.a. wurde ihm die Erhebung in den Adelsstand in Aussicht gestellt – kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo er bis zu seinem Tod am 4. März 1890 als Professor für Altes Testament wirkte. In die Zeit seines zweiten Leipziger Wirkens fällt die Gründung des Institutum Judaicum (1886; ab 1890: Institutum Judaicum Delitzschianum), das sich der Erforschung der Quellen und Geschichte des Judentums widmete. Grundlegend war wiederum das Anliegen der Judenmission, u.a. die Ausbildung von Missionaren. Getragen wurde das Institut v.a. vom „Evangelisch-lutherischen Centralverein für die Mission unter Israel“ und anderen Missionsgesellschaften (vgl. Wagner, 161; auch Siegert, 292).

1845 war Delitzsch die Ehe mit Clara Juliana Caroline, geb. Silber (1823-1894), eingegangen. Seine künftige Frau, die Tochter eines Leipziger „Güterschaffners“ (Spediteurs), hatte er in von ihm geleiteten Erbauungsstunden kennengelernt. Aus der Ehe gingen vier Söhne hervor. Die beiden ältesten, der Theologieprofessor Johannes Delitzsch (1846-1876) und der Arzt Ernst Delitzsch (1847-1872), starben vor den Eltern; der dritte Sohn, Richard Hermann Delitzsch (1848-1895), war Bankangestellter, der jüngste war der Assyriologe Friedrich Delitzsch (1850-1922).

2. Delitzsch als christlicher Alttestamentler

Delitzschs Bibliographie umfasst wissenschaftliche Werke, insbesondere zur Exegese des Alten, aber auch des Neuen Testaments, sowie hebraistische, judaistische, systematisch-theologische und missionswissenschaftliche Werke, daneben allgemeinverständliche Schriften, Erbauliches und Stellungnahmen zu aktuellen kirchlichen Fragen (vgl. die Bibliographie in: Wagner, 470-494.501f.). Zum Fortschritt der historisch-kritischen Bibelwissenschaft hat Delitzsch kaum beigetragen. Interessant ist seine Arbeit vor allem als Beitrag zum christlich-theologischen Verständnis des Alten Testaments (vgl. die systematisch-theologische Untersuchung von Corzine; auch Kraus 3. Aufl. 1982, 230-240; Wagner, 207-429; Smend 2013). Dabei verbindet sich bei Delitzsch eine vom Pietismus beeinflusste konfessionell lutherische Prägung mit solider Wissenschaftlichkeit. Diese erlaubt es ihm, trotz Festhalten am Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift Grundeinsichten der historischen Kritik anzuerkennen.

Delitzschs Verhältnis zur historischen Kritik ist allerdings durch einen sehr konservativen Zug geprägt. Im Bereich des Pentateuchs gab er die Annahme mosaischer Verfasserschaft erst nach gründlicher Prüfung auf; im Bereich der Prophetenbücher hält er grundsätzlich an der Überzeugung fest, dass Propheten auch die ferne Zukunft voraussehen können, so dass für ihn die zeitgeschichtliche Situation, auf die sich ein Prophetenwort bezieht, keinen Rückschluss auf die Datierung erlaubt.

Im Genesis-Kommentar von 1852 verteidigt Delitzsch grundsätzlich das hohe Alter des gesamten Pentateuchs. Eine Prüfung ergibt aber, dass zwar das Deuteronomium als von Mose verfasst gelten muss – Delitzsch lehnt also die auf → W.M.L. de Wette zurückgehende Datierung des Deuteronomiums in die Zeit Josias ab (Genesis 1852, 7) –, während sich in den Büchern Genesis bis Numeri keine Hinweise darauf finden, dass sie in der vorliegenden Form unmittelbar auf die Hand des Mose zurückzuführen sind. Delitzsch bekennt sich für diese Bücher methodisch zu der von → J. Astruc eingeführten Literarkritik anhand verschiedener Gottesnamen (Genesis 1852, 21ff.), während er der Verteidigung der Abfassung der gesamten Tora durch Mose, etwa bei E.W. Hengstenberg, apologetische Befangenheit unterstellt (Genesis 1852, 30f.; vgl. auch Genesis 1887, 36).

Im Vorwort zum „Neuen Commentar über die Genesis“ von 1887 kündigt Delitzsch an, die Analyse „nach den Vorarbeiten Wellhausens, Kuenens und vorzugsweise Dillmanns eingehender vollzogen“ zu haben als in älteren Ausgaben (Genesis 1887, III). Zu der vertieften Analyse gehört nicht zuletzt die Anerkennung der in → Wellhausens „Prolegomena“ (1. Auflage 1878) durchgesetzten Spätdatierung der → Priesterschrift und vieler weiterer Gesetze des Pentateuchs (vgl. Genesis 1887, 16f.), wobei Delitzsch anders als die Vertreter der seinerzeit neuen historischen Kritik immer noch davon ausgeht, dass auch in literarisch späten Schichten sehr altes, z.T. auf Mose zurückgehendes Material nachweisbar ist (vgl. Genesis 1887, 19ff.).

Schwerer als bei der Genesis-Kommentierung hat sich Delitzsch bei der Kommentierung des Jesajabuches mit der Anerkennung der Literarkritik getan, konkret mit der Erkenntnis, dass die ab Jes 40 vorliegenden Worte nicht dem Jerusalemer Propheten des 8. Jh.s zuzuschreiben sind, sondern einem unbekannten Propheten der Exilszeit. Zwar sieht auch Delitzsch, dass ab Jes 40 die Situation des Exils vorausgesetzt ist (→ Deuterojesaja). Da er nicht bereit ist, die Möglichkeit echter prophetischer Weissagung zu bestreiten, lehnt er es ab, allein aus der in den Worten vorausgesetzten Situation die Zeit zu erschließen, in der sie gesprochen sind. In der 3. Auflage des Jesaja-Kommentars geht er noch davon aus, dass der vorexilische Jesaja auch die ab Jes 40 mitgeteilten Worte gesprochen habe, allerdings habe er „seiner wirklichen Gegenwart ganz entsunken (…) ein pneumatisches Leben unter den Exulanten“ geführt (Jesaja 1879, 411f.). Erst in der 4. Auflage zeigt sich Delitzsch auf Grund von vergleichenden philologischen Untersuchungen zu Jes 1-39 und Jes 40-66 sowie auf Grund von Erwägungen zu literarischen Beziehungen zwischen dem Jesajabuch und anderen Prophetenbüchern davon überzeugt, dass Jes 40-66 auf einen Propheten der Exilszeit zurückgeht (Jesaja 1889, 405-407). Er ist jetzt sogar bereit, diesem unbekannten Propheten auch Stücke innerhalb von Jes 1-39 (z.B. Jes 24-27) zuzusprechen (Jesaja 1889, 408).

Eine besondere Form von theologisch motiviertem Konservatismus zeigt sich, indem Delitzsch daran festhält, dass die Weltschöpfung vor nur wenigen Jahrtausenden geschehen ist und dass auch der Sündenfall einen historischen Kern hat, der in den Sagen vieler Völker in verschiedenen Brechungen greifbar ist (vgl. Weissagungen, 23f.). Wenn es dagegen „wahr wäre, (…), daß der Mensch sich im Kampf ums Dasein aus der Tierwelt heraus entwickelt habe (der Darwinismus), wenn an die Stelle der Kindesunschuld der Erstgeschaffenen der Kannibalismus der Halbtiermenschheit der Steinperiode (…) zu setzen ist: dann ist die christliche Weltanschauung (…) als fernerhin unhaltbar gerichtet“ – die Erlösung durch Jesus Christus verlöre dann ihren Haftpunkt in der Menschheitsgeschichte: „das urkundliche Christentum [d.h. das biblisch bezeugte Christentum] giebt sich als Religion der Erlösung der adamitischen Menschheit und hat Einheit des Menschenschöpfungsanfangs, Fall der Erstgeschaffenen, Fluch und Verheißung, welche ihm folgten, zu unveräußerlichen Prämissen“ (Genesis 1887, 37f.). Um diese Stellungnahmen einzuordnen, bleibt zu beachten, dass sie einer Zeit angehören, in der der Darwinismus und der diesem zu Grunde liegende geologische Aktualismus (Lyellismus), die Auffassung, dass sich die heutige Gestalt der Erde in Jahrmillionen herausgebildet hat, noch nicht als wissenschaftliche Standardmodelle allgemein anerkannt waren.

Die Bibel ist für Delitzsch Heilige Schrift, aber dennoch „kein vom Himmel gefallenes Buch“: „Die Selbstbezeugung, die sich das Göttliche in ihr gegeben“, ist „mit allen Merkmalen menschlicher, individueller, localer, zeitgeschichtlicher und culturgeschichtlicher Relavitität behaftet“ (Genesis 1887, 36). Die historische Kritik habe mit der „Verneinung des Göttlichen und Ewigen an der Schrift“ immerhin „ihrer menschlichen und zeitlichen Seite zur Anerkennung verholfen, dem Liebreiz ihrer Poesie und, was noch mehr besagt, der concreten Wirklichkeit ihrer Geschichte“ (Jesaja 1889, 31).

Um die geschichtliche Prägung der biblischen Texte zu würdigen, enthalten manche von Delitzschs Kommentaren philologische, landeskundliche und ethnographische Exkurse, die von anderen Fachleuten, z.B. dem landeskundigen Konsul J.G. Wetzstein, verfasst wurden (vgl. Hoheslied / Kohelet, 162ff.; 437ff.; Hiob, 551-604; Jesaja 1879, 692-707). Delitzsch rezipiert auch früh die Ergebnisse der jungen Assyriologie (vgl. Genesis 1887, 87-89 zum mesopotamischen Hintergrund der „Paradiesesgeographie“ in Gen 2,10-14; a.a.O., 158-160 zum mesopotamischen Ursprung der Sintflutgeschichte; auch Genesis 1887, 99 und Weissagungen, 24 zur Erklärung der Schlange von Gen 3 als „Urquell alles Bösen“ unter Verweis auf die Tiāmat des babylonischen Mythos). Dass beim damaligen Kenntnisstand über die altorientalische Literatur kaum Parallelen zu finden waren, die heutigen Standards genügten, braucht kaum erwähnt zu werden.

Die biblischen Texte auf ihren geschichtlich bedingten Charakter zu beschränken, wäre aber nach Delitzsch Ausdruck einer weltanschaulich bedingten Reduktion, die er nicht mitvollziehen will: „Ich bekenne mich nicht zu der ‚Religion im Zeitalter Darwins‘, sondern glaube an zwei Weltordnungen, nicht bloß an eine, welche das Wunder durchlöchern würde. Ich glaube der Osterbotschaft und ziehe ihre Consequenzen“ (Genesis 1887, III).

Indem sich dieses Bekenntnis im Vorwort des Genesis-Kommentars findet, zeigt Delitzsch, dass Exegese für ihn keine bloß historische Aufgabe ist. In der Einleitung heißt es dann: „Wir werden die Genesis auslegen als Theologen und zwar als christliche Theologen d.h. als Bekenner Jesu Christi, welcher das Ziel aller Wege und Worte Gottes ist“ (Genesis 1887, 37). Angesichts des von der Naturwissenschaft des 19. Jh.s („Zeitalter Darwins“) scheinbar unterstützten säkularen Weltverständnisses entspricht dieses Bekenntnis zu Christus als Ziel aller Wege und Worte Gottes aber einem Bekenntnis zu „zwei Weltordnungen“ (vgl. hierzu ausführlicher Corzine, 282-294): zum einen zu der von der Naturwissenschaft erforschten kausalgesetzlichen Ordnung („Reich der Natur“), die das Wunder „durchlöchert“, zum anderen zum „Reich der Freiheit, das ist, der Wechselwirkung Gottes und der freien Kreaturen“. Die Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch („freier Kreatur“) erschließt sich der persönlichen Erfahrung, wie Delitzsch sie in seiner eigenen Lebenswende erlebt hat. Für Delitzsch begründen religiöse Erfahrungen „die Vernunftgemäßheit des Supranaturalen“, die ihn nötigt, Argumente historischer Kritik abzuweisen, „welche prinzipiell allem Supranaturalen und insbesondere auch dem Geisteswunder der Weissagung die objektive Realität absprechen“ (die letzten Zitate in: Weissagungen, 9f.).

Wie die Berufung auf die Osterbotschaft im Vorwort des Genesis-Kommentars zeigt, bildet neben der persönlichen religiösen Erfahrung das objektive Faktum der Auferstehung Christi einen weiteren Grund des Glaubens. Die Auferstehung Christi ist in der Osterbotschaft greifbar, deren objektive Wahrheit sich dem Einzelnen in der Glaubenserfahrung erschließt. So vergleicht Delitzsch seine eigene Lebenswende nicht zufällig mit der Erfahrung des ungläubigen Thomas. Angesichts der Erkenntnisse der historischen Bibelkritik gilt daher: „Der gegenwärtige Umsturz auf alttestamentlichem Gebiete, welcher einen neuen Aufbau fordert, ist ganz dazu angethan, die Gewissen zu verwirren und den schwachen Glauben in allerlei Anfechtung zu verwickeln. Wenn uns aber in diesem Labyrinthe nur das Eine Christus vere resurrexit feststeht, so haben wir den Ariadnefaden, um uns herauszufinden“ (Genesis 1887, 35).

Das Bekenntnis zu den beiden Weltordnungen, nach dem die Wirklichkeit umfassender ist als das, was der innerweltlich-kausalen Gesetzlichkeit unterliegt, bietet den Rahmen dafür, dass Delitzsch Weissagung als objektive Realität anerkennen und im Alten Testament eine fortschreitende Offenbarung der Erkenntnis des kommenden Erlösers Jesus Christus feststellen kann, die wie jeder Kulturfortschritt von bedeutenden Persönlichkeiten getragen wird (Weissagungen, 8f.). Auch kann er unter Berufung auf die Solida declaratio der Konkordienformel die Prophetica et apostolica scripta Veteris et Novi Testamenti in voller Anerkennung ihrer geschichtlichen Bedingtheit als göttlich offenbarte Quellen und Richtschnur der Lehre anerkennen, wie es „die durch die Reformation erneuerte Kirche“ „bis ans Ende der Tage“ bekennen wird (Genesis 1887, 36; das von Delitzsch lateinisch wiedergegebene Zitat aus der Konkordienformel findet sich in: Bekenntnisschriften, 1311, 6-8).

Die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der alttestamentlichen Texte verbindet Delitzsch mit der theologischen Überzeugung, dass die Texte einer offenbarungsgeschichtlichen Vorstufe zum Neuen Testament angehören, auf der die Fülle der Heilserkenntnis, wie sie erst durch das Evangelium gekommen ist, noch nicht realisiert war. Den Autoren des Alten Testaments, selbst Propheten, deren Texte im Licht des Neuen Testaments Hinweise auf den künftigen Christus enthalten, muss die Erfüllung dessen, was in ihren Worten angelegt ist, noch nicht bewusst gewesen sein.

In seinem letzten Buch „Messianische Weissagungen in geschichtlicher Folge“ drängt Delitzsch „seine theologische Erkenntnis des Alten Testaments in so dichter und bezeichnender Gestalt zusammen“ wie sonst nirgendwo (Kraus 3. Aufl. 1982, 236).

Die messianischen Weissagungen sind zunächst Andeutungen des Kommens und Wirkens Jesu Christi, die erst durch die Erfüllung ins rechte Licht gerückt werden. Das → Protevangelium in Gen 3,15 lagert „wie eine Sphinx (…) am Eingange der heiligen Geschichte“ (Weissagungen, 27). Dass es keine aus sich heraus klare Ankündigung der Erlösung durch Christus ist, liegt auch daran, dass der Same der Frau, der den Kopf der Schlange zermalmen wird, im Hebräischen Kollektivum ist und damit „der Menschheit als Gattung“ gilt (Weissagungen, 26). Dennoch richtet sich das Fluchwort an die eine Schlange, von der die Verführung ausgegangen ist, und die Delitzsch als mythisches Bild einer dämonischen Realität versteht, deren Verführung die Menschen erlagen (vgl. Weissagungen, 23f.). Weil sich Gen 3,15 aber auf diese eine Schlange bezieht, mag der Leser folgern, „daß auch der Weibessame in Einem gipfeln werde, in welchem sich der Gegensatz zur äußersten Spannung verschärfen und das Leiden im Kampfe mit der Verführung sich aufs höchste steigern und der Sieg in vollendete Ueberwindung für immer enden wird“. Von der Erfüllung her wird deutlich, dass sich die Urverheißung mit ihr deckt, „denn Christus der Sohn Maria’s ist Weibessame, ist γενόμενος ἐκ γυναικός (Gal 4,4) in wunderbar einziger Weise“ (Weissagungen, 27).

Mit der Hervorhebung dieser Einzigkeit spielt Delitzsch auf die Jungfrauengeburt Jesu an. Die Verheißung der Jungfrauengeburt des → Immanuel (Jes 7,14) bezieht sich aber „im Sinne des Propheten“ auf eine „nächstkünftige Tatsache“: Das Aufwachsen des Immanuel fällt in die Zeit der Bedrückung durch die Assyrer, die als Folge von Ahas’ ungläubiger Politik über Juda kommen wird. Allerdings verkennen die Exegeten, die behaupten, „daß Immanuel, weil er als ein Kind der assyrischen Gerichtszeit erscheint, nicht der Messias sein könne“, nach Delitzsch „das Gesetz der perspektivischen Verkürzung, welchem alle Prophetie (…) unterstellt ist“. Dass es sinnvoll ist, mit entsprechenden Verkürzungen zu rechnen, ergibt sich zum einen daraus, dass der erwartete Immanuel schon vor seinem leibhaftigen Hervortreten in Juda wirksam ist, denn der Prophet wendet sich in Jes 8,8 während der Assyrernot hilfesuchend an ihn. Zum anderen zeigt es sich wiederum von der Erfüllung in Jesus Christus her: Christus wurde in einer Zeit geboren, in der Israel nicht unter der Vorherrschaft der Assyrer, aber unter der der Römer stand, die letztlich „auf Ahaz’ untheokratische Politik als letzte Ursache zurückging“. Wie die assyrische Gerichtszeit, in der Jesaja Immanuel aufwachsen sah, war auch die Geburtszeit Jesu für das Haus David eine Zeit der Not: Die Mutter Jesu war „nicht eine Alma“ – so die hebräische Bezeichnung der jungen Frau in Jes 7,14 – „des Harems eines davidischen Königs (…), sondern die Verlobte eines Zimmermanns aus dem heruntergekommenen davidischen Geschlechte, welcher ihn als seinen legitimen, aber nicht leiblichen Sohn, sondern als eine Gabe des Himmels erkannte“. Die Unterstellung einer perspektivischen Verkürzung innerhalb der prophetischen Ankündigung und die Analogien zum angekündigten Immanuel erlauben es, in der Geburt Jesu Christi „mit der ganzen Kirche Gottes die Erfüllung und Enträtselung des jesajanischen Weissagungswortes“ zu sehen (die letzten Zitate in: Weissagungen, 98-100).

Die Überzeugung, dass die Fülle der Heilserkenntnis im Alten Testament noch nicht erreicht ist, ist auch für die Psalmenexegese grundlegend. Die meisten Psalmen sind keine prophetischen Texte, die göttliche Offenbarungen enthalten, sondern Ausdruck des Glaubens ihrer Dichter. Da der Glaube aber seinen Ursprung in Gott hat, dokumentiert der Psalter die Heilserkenntnis seiner Dichter. Delitzsch nennt ihn „das wichtigste Denkmal der fortschreitenden Heilserkenntnis, indem er zeigt, wie zwischen dem sinaitischen Gesetz und dem sionitischen Evangelium das schließliche wesentliche Heil sich im Bewußtsein und Geistesleben der Gemeinde anbahnte“ (Psalmen, 53).

Auf Grund der offenbarungsgeschichtlichen Differenz zwischen dem aus der Fülle der Heilserkenntnis schöpfenden christlichen Glauben und den Psalmen, die noch auf dem Weg zu dieser Fülle sind, kann sich der Psalmenausleger „entweder auf den Standpunkt des Dichters oder auf den Standpunkt der alttest. Gemeinde oder auf den Standpunkt der Kirche stellen“ (Psalmen, 52). Wenn er eine entschieden christliche Rezeption wählt, kann er vom offenbarungsgeschichtlich fortgeschrittenen „Standpunkt der Kirche“ über den eigentlichen Wortsinn der Psalmen hinausgehen. So betont Delitzsch, dass die Psalmen die allgemeine Hoffnung auf Auferstehung und Gericht nach dem Tod noch nicht kennen. Dennoch sei es aus neutestamentlich bestimmter Perspektive legitim, etwa den Verweis auf das Ende der Gottesbeziehung im Totenreich in Ps 6,6, wo der Psalmist „den Hades (…) als Reich des Zorns oder der Abgeschiedenheit von Gottes Liebe, welche das wahre Leben der Menschen ist“, fürchtet, auf das eschatologische Gericht (nach Delitzsch: nicht „Hades“, sondern „Gehenna“) zu beziehen, in dem sich nach christlichem Verständnis für die Gerichteten der Zorn Gottes und der Ausschluss von seiner Liebe endgültig realisiert. Umgekehrt sind Aussagen wie Ps 17,15 auf das „jenseitige Schauen des Antlitzes Gottes in seiner Herrlichkeit“ bzw. Ps 49,15 auf den „Auferstehungsmorgen“ zu beziehen, da die dort ausgesprochenen Hoffnungen „ihrer wahrhaft befriedigenden Erfüllung nach wirklich jenseitige“ sind (Psalmen, 61). Die existentielle Bedeutung entsprechender Psalmenaussagen, die in ihrem ursprünglichen religionsgeschichtlichen Kontext noch nicht von der Überzeugung eines allgemeinen eschatologischen Gerichts ausgehen, können also im Licht des christlichen Glaubens in dieser Hinsicht zugespitzt werden, weil sie aus christlich-theologischer Sicht nicht nur einer religionsgeschichtlichen, sondern einer heilsoffenbarungsgeschichtlichen Vorstufe der christlichen Glaubenserkenntnis zuzuordnen sind.

3. Zur Frage der Aktualität von Delitzschs Exegese

Dass Delitzschs Kommentare in der alttestamentlichen Forschung noch Beachtung finden, ergibt sich vor allem aus seiner hohen hebraistischen Kompetenz. Sein exegetischer Ansatz, der das Schriftprinzip der Reformation mit der historischen Kritik einschließlich Erkenntnissen religionsgeschichtlicher und landeskundlicher Forschung zu verbinden sucht, findet dagegen außerhalb sehr konservativ-theologischer und evangelikaler Kreise nur wenig Beachtung.

Delitzsch selbst sah seinen Lebensabend von einer „Krisis auf biblischem und insbesondere alttestamentlichem Gebiet“ geprägt, deren „Stimmführer“ sich durch „Freude am Umsturz“, „maßloses Verneinen“ und „ungeistliche Profanität“ auszeichneten (Weissagungen, 4). Dabei hat er eine Bibelwissenschaft im Blick, die sich von kirchlichen Bekenntnissen und Belangen gelöst im Wesentlichen als historische Forschung verstand. Zu den Wortführern dieser Forschung gehörte in Delitzschs späten Jahren → Wellhausen, der in seinen „Prolegomena“ das biblische Bild der Geschichte Israels demontiert und ein z.T. sehr negatives Bild der lebensfremden, verkrusteten Religiosität der Priesterschrift und anderer später Texte des Alten Testaments gezeichnet hatte. Zwar erkannte Delitzsch die von Wellhausen durchgesetzte Spätdatierung der Priesterschrift und anderer Gesetze an; weil er aber an altem mosaischem Gut innerhalb des Pentateuchs festhielt, hielt er die biblische Darstellung der Geschichte Israels nach wie vor im Kern für historisch zuverlässig. Außerdem bestritt er die Charakterisierung der nachexilischen Religiosität als lebensferne, freudlose Kultfrömmigkeit, indem er auf Festbräuche in den von Wellhausen kaum berücksichtigten rabbinischen Quellen hinwies. Dass er dies in dem allgemeinverständlichen Vortrag „Tanz und Pentateuchkritik in Wechselbeziehung“ tat, zeigt, wie diese Fragen die damalige Öffentlichkeit bewegten. Wellhausens Umgang mit den biblischen Texten empfand Delitzsch als respektlos: Die „Prolegomena“ strotzten „voll cynische [sic!] Frechheit“ (Briefwechsel, 440; 18.02.1879). (Zur Auseinandersetzung Delitzschs mit Wellhausen auch Corzine, 295-307).

Die Zukunft der alttestamentlichen Wissenschaft war aber von der historischen Kritik im Wellhausen’schen Sinn bestimmt, die v.a. von Forschern betrieben wurde, die anders als Wellhausen selbst in der theologischen Fakultät geblieben waren. Vor diesem Hintergrund kann Delitzsch als Gescheiterter gelten, wofür auch auf seine letzte briefliche Äußerung („die moderne Theologie und die Negation des Wunders sind solidarisch […]. Ich habe meine Zeit gehabt aber sie ist vorüber“; Briefwechsel, 534; 24.02.1890) als eine Art Vermächtnis („letzte Worte“) hingewiesen wird (so Smend 2013, 520; 2017, 299). Dieses Urteil orientiert sich aber allein am Fortschritt der historisch-kritischen Bibelwissenschaft. Wo dagegen anerkannt wird, dass sich zwar Delitzschs historischer Konservatismus so nicht halten ließ, dass aber auch die historisch-kritische Bibelwissenschaft blinde Flecken hat, was Fragen der theologischen und kirchlichen Bedeutung des Alten Testaments angeht, da wird man das Urteil nicht vorschnell nachsprechen (vgl. auch Corzine, 22.85-88, ebenfalls kritisch gegen Smend).

Zur Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft gehört auch, dass mit dem theologischen Umbruch der 1920er Jahre („Wort-Gottes-Theologie“) die Frage der theologischen Bedeutung des Alten Testaments wieder gestellt wurde, nicht zuletzt innerhalb der Bekennenden Kirche. Ein Ergebnis dieser Entwicklung war die Gründung des „Biblischen Kommentars zum Alten Testament“ durch führende Alttestamentler der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (u.a. H.-J. Kraus, M. Noth, G. v. Rad, H.-W. Wolff, W. Zimmerli). Die Gründer des Kommentarwerks gingen davon aus, „daß in der christlichen Kirche das Alte Testament nur gelesen werden kann als ein Buch, das die Kirche aus der Hand Jesu Christi empfangen hat, daß darum die Auslegung nicht in einer unverbindlichen religionsgeschichtlichen Erklärung steckenbleiben darf“ (Nachwort zu EvTh 12). Es sollte bei der Kommentierung darum gehen, historische Kritik und gesamtbiblische, kirchlich orientierte Theologie miteinander zu verbinden, womit Delitzschs Grundanliegen aufgenommen wurde. Die Bezeichnung „Biblischer Kommentar“ lehnte sich bewusst an die Bezeichnung des „Biblischen Commentars“ von Keil und Delitzsch an (so Kraus 1964, 22). Zwar wurde dieser Ansatz in der Erarbeitung des neuen Kommentarwerks allenfalls rudimentär umgesetzt (vgl. Rendtorff, 9f.) und letztlich wohl aufgegeben; dennoch zeigen neuere Diskussionen, dass das Problem, die Notwendigkeit des Alten Testaments als Teil des kirchlichen Kanons und eine christliche sowie christologische Hermeneutik des Alten Testaments zu begründen, nach wie vor virulent ist.

In welche Schwierigkeiten eine Exegese gerät, die sich ohne die Unterstellung eines offenbarungsgeschichtlichen Fortschritts vom Alten zum Neuen Testament vor allem am historischen Sinn alttestamentlicher Texte orientiert, zeigt sich, wenn es im Vorwort zur revidierten Luther-Bibel 2017 heißt: „Im Alten Testament steht die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel im Mittelpunkt. (…) Im zweiten Hauptteil, dem Neuen Testament, geht es um Jesus Christus“. N. Slenczka sieht in diesen Sätzen nicht zu Unrecht eine Bestätigung seiner These, „dass das AT in der Tat, wie Harnack vorgeschlagen hat, eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte“ (Slenczka 2018, 49), denn die beiden Sätze sagen ja: „Das Alte und das Neue Testament haben (…) jeweils unterschiedliche Gegenstände, und die Botschaft von Jesus Christus ist Gegenstand des Neuen, offenbar aber nicht des Alten Testaments“ (Slenczka 2017, 147). Dann aber kann die Frage nicht ausbleiben, warum das Alte Testament in der Kirche kanonische Geltung haben sollte.

Eine Theologie, die sich den Lehrgrundlagen verpflichtet sieht, auf die sich evangelische Landeskirchen noch immer berufen (altkirchliche Bekenntnisse, Reformation, Barmen), kann die Frage nicht aufgeben, wie das Alte Testament in Anerkennung seiner geschichtlichen Prägung nicht nur als religionsgeschichtliche Voraussetzung des Neuen Testaments, sondern auch als eine Jesus Christus vorhergehende und auf ihn zielende Offenbarung verstanden werden kann. Damit können weder Delitzschs Bekenntnis zu den „zwei Weltordnungen“ noch seine gesamtbiblisch-hermeneutischen Überlegungen pauschal als überholt gelten. Delitzschs Anliegen, zu zeigen, wie „Prophetie und apostolisches Wort sich gegenseitig decken und fordern“ (Weissagungen, 6), bleibt im Kern aktuell.

Eine Berufung auf Delitzsch könnte heute allerdings auf Grund seines hohen Engagements für die Judenmission verdächtig erscheinen. Demgegenüber ist aber unbedingt festzuhalten, dass Delitzschs alttestamentliche Hermeneutik auf einem rezeptionshermeneutischen Ansatz beruht, der als solcher auch einen christlich-jüdischen Dialog nicht kategorisch ausschließt.

Die Judenmission wird in weiten Teilen evangelischer Theologie und Kirche mittlerweile z.T. heftig abgelehnt. Auch das Institutum Judaicum Delitzschianum, nach dem Zweiten Weltkrieg von K.H. Rengstorf als Universitätsinstitut in Münster neugegründet, hat sich mittlerweile vom Ziel der Judenmission klar losgesagt (Siegert). Die Ablehnung der Judenmission zugunsten des christlich-jüdischen Dialogs schließt üblicherweise die Ablehnung des überkommenen christlichen Verständnisses des Alten Testaments als einer auf Jesus Christus vorausdeutenden, im Neuen Testament erfüllten Offenbarung ein (vgl. dazu Slenczka 2018, 311). Gegen das heilsgeschichtliche Konzept, das Delitzschs Verständnis des Alten Testaments zu Grunde liegt, wird konkret die Kritik erhoben, von theologischen Voraussetzungen des 19. Jh.s abhängig zu sein, durch die neutestamentliche Aussagen, insbesondere Röm 9-11, verfremdet werden (vgl. Siegert, 293-299).

Ohne die Berechtigung dieser Kritik diskutieren zu können, ist immerhin festzuhalten, dass Delitzsch nicht behauptet, dass das christliche oder christologische Verständnis der einzige, objektive Sinn alttestamentlicher Texte sei. Wenn er etwa darauf verweist, dass die Psalmenauslegung den Standpunkt des Dichters, den der „alttestamentlichen Gemeinde“ oder den der Kirche einnehmen kann (Psalmen, 52), setzt er ausdrücklich voraus, dass alttestamentliche Texte zunächst aus ihrem historischen Zusammenhang heraus zu verstehen sind, und dass sich der Sinn, den sie innerhalb des Alten Testaments („Standpunkt der alttestamentlichen Gemeinde“) haben, nicht mit dem decken muss, der sich im gesamtbiblischen Kontext („Standpunkt der Kirche“) erschließt. Danach müssen sich christliche und jüdische Lesarten bis zu einem gewissen Punkt nicht unterscheiden.

Dennoch betont Delitzsch zugleich, dass „Christentum“ dem Wortsinn nach „Messiasreligion“ und damit im ursprünglichen Sinn des Wortes die Religion ist, die sich ihrem Selbstverständnis nach „in Geschichte und Wort und Schrift des A.T. (…) vorbereitet“ (Weissagungen, 1). Eine christliche Rezeption, die von diesem ursprünglichen Verständnis ausgeht, kann aber den Glauben nicht ausblenden, dass alttestamentliche Aussagen in Jesus Christus zur Erfüllung kommen und dass sich umgekehrt im Licht des Glaubens an Jesus Christus ein vertieftes Verständnis alttestamentlicher Aussagen ergibt, etwa die „Enträtselung des jesajanischen Weissagungswortes“ von Jes 7,14 durch die Botschaft von der Jungfrauengeburt Jesu (Weissagungen, 100). Delitzsch tritt mit alledem „nicht für eine voraussetzungslose Bibelauslegung“ ein (Wagner, 321), sondern erklärt den christlichen Glauben zur Vorbedingung eines sachgemäßen Verständnisses des Alten Testaments. Die Feststellung, dass für Delitzsch „subjektive Voraussetzungen“ zum „sachgemäßen Bibelverständnis“ unerlässlich sind (so Wagner, 320), ist nicht falsch, es bleibt aber zu beachten, dass die für ihn entscheidende Voraussetzung der Glaube der Kirche ist, also eine überindividuelle, dem Einzelnen vorgegebene Überzeugung, deren Wahrheit sich aber in individueller Erfahrung erschließen muss.

Wer Delitzsch darin folgt, dass das sachgemäße Verständnis des Alten Testaments nicht objektiv zu erheben, sondern erst im Glauben zu gewinnen ist, der wird das jüdische Verständnis aus hermeneutischer Sicht nicht für illegitim halten (so auch Corzine, 347f.); zugleich aber ist es legitim, wenn ein christlicher Exeget wie Delitzsch hofft, dass sich „Wahrheit Suchende jüdischer Confession“ (Weissagungen, 2) von dem Verständnis des Alten Testaments ansprechen lassen, das sich dem Christen als vertiefte Einsicht in die Texte erschließt.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Leipzig 1896-1908.
  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965.
  • Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Hamm 1975ff (im Internet).
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004.
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. u.a. 1993-2001.
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007.

2. Quellen

2.1. Kirchen- und wissenschaftsgeschichtliche Quellen

  • Bekenntnisschriften: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014.
  • Nachwort zu EvTh 12 (1952 / 53): Vorstellung des Projekts des Biblischen Kommentars durch die Gründergeneration der Herausgeber (hinterer Einbanddeckel des Einzelheftes).

2.2. Quellen zu Leben und Werk von F. Delitzsch

  • Briefwechsel: O. Eißfeldt / K.H. Rengstorf (Hgg.), Briefwechsel zwischen Franz Delitzsch und Wolf Wilhelm Graf Baudissin (Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 43), Opladen 1973.
  • Selbstbiographie: Franz Delitzsch über sich selbst 1883 (Selbstbiographie, geschrieben für norwegische Freunde), in: M. Wittenberg, Franz Delitzsch (1813-1890), Handreichung des Evangeliumsdienstes unter Israel durch die evangelisch-lutherische Kirche. Folge 7, [kein Ort] 1963 [deutscher Text ursprünglich in: SaH 27 (1890), 147-151].

2.3. Zitierte Werke von F. Delitzsch

  • Hiob: Biblischer Commentar über die poetischen Bücher des Alten Testaments. Zweiter Band: Das Buch Iob, Leipzig 2. Aufl. 1876.
  • Hoheslied / Kohelet: Biblischer Commentar über die poetischen Bücher des Alten Testaments. Vierter Band: Hoheslied und Kohelet, Leipzig 1875.
  • Genesis 1852: Die Genesis ausgelegt von Franz Delitzsch, Leipzig 1852
  • Genesis 1887: Neuer Commentar über die Genesis, Leipzig 1887.
  • Jesaja 1879: Biblischer Commentar über den Propheten Jesaia, Leipzig 3. Aufl. 1879.
  • Jesaja 1889: Commentar über das Buch Jesaia, Leipzig 4. Aufl. 1889.
  • Psalmen: Biblischer Commentar über die Psalmen. 5. überarbeitete Auflage. Nach des Verfassers hinterlassenem Druckmanuskript hg. v. Friedrich Delitzsch, Leipzig 1894.
  • Tanz und Pentateuchkritik in Wechselbeziehung, in: Iris. Farbenstudien und Blumenstücke, Leipzig 1888, 143-156.
  • Weissagungen: Messianische Weissagungen in geschichtlicher Folge, Leipzig 1890.

3. Weitere Literatur

  • Corzine, J., 2018, Erfahrung im Alten Testament. Untersuchung zur Exegese des Alten Testaments bei Franz Delitzsch (ASyTh 13), Leipzig.
  • Keil, C.F., 3. Aufl. 1878, Biblischer Commentar über die Bücher Mose’s. Erster Band: Genesis und Exodus, Leipzig.
  • Kraus, H.-J., 1964, Wie entstand der Biblische Kommentar?, in: 75 Jahre Arbeit für Theologie und Gemeinde. Ein Almanach, dargeboten vom Kalenderverlag und Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins, Neukirchen-Vluyn, 22-27.
  • Kraus, H.-J., 3. Aufl. 1982, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn.
  • Rendtorff, R., 2002, Zu den Anfängen des Biblischen Kommentars. Kritische Erinnerungen, EvTh 62, 5-10.
  • Siegert, F., 2012, Abschied von der Judenmission. Das Institutum Judaicum Delitzschianum heute, in: M. Witte / T. Pilger (Hgg.), Mazel tov. Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Christentum und Judentum. Festschrift anlässlich des 50. Geburtstages des Instituts Kirche und Judentum, SKI.NF 1, Leipzig, 291-302.
  • Siemens, P., 1994, Carl Friedrich Keil (1807-1888). Leben und Werk, Gießen.
  • Slenczka, N., 2017, Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip. Bemerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis, in: M. Witte / J.C. Gertz (Hgg.), Hermeneutik des Alten Testaments (VWGTh 47), Leipzig 2017, 144-165.
  • Slenczka, N., 2018, Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig.
  • Smend, R., 2013, Delitzsch, in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Bd. III / 1, Göttingen, 509-520.
  • Smend, R., 2017, Franz Delitzsch (1813-1890), in: R. Smend, Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, 278-299.
  • Wagner, S., 2. Aufl. 1991, Franz Delitzsch. Leben und Werk, Gießen.

Abbildungsverzeichnis

  • Franz Delitzsch.

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