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Dekalog / Zehn Gebote (NT)

Andere Schreibweise: Decalogue; Ten Commandments (engl.)

(erstellt: April 2020)

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1. Einleitung

Als → Dekalog („Zehn Worte“) wird eine Reihe von Verboten und Geboten bezeichnet, die sowohl in Ex 20 als auch in Dtn 5 überliefert ist. Nicht nur unterscheiden sich die Varianten in Ex 20 und Dtn 5 im hebräischen Text in einigen Details voneinander, auch die → Septuaginta bietet eigene Varianten. Im Neuen Testament wird der Dekalog niemals vollständig zitiert, sondern immer nur auszugsweise. Wo nicht nur ein Einzelgebot zitiert wird, sondern eine Gebotereihe, kann die Reihenfolge der Gebote entweder am hebräischen Text orientiert sein oder an der Septuaginta oder von beiden abweichen. Ebenso kann der Wortlaut von der Septuaginta abweichen, ein Gebot kann in einer anderen Übersetzung bzw. in gekürzter Weise wiedergegeben werden. Dies hat mit der katechetisch ausgerichteten „Sozialen Reihe“ zu tun (siehe Kapitel 2.2.2. „Die ‚Soziale Reihe‘“). Insofern ist strittig, ob es sich überhaupt um „Zitate“ aus dem Dekalog handelt. Im Folgenden wird von einem „Zitat“ aus dem Dekalog gesprochen, wenn eine Textstelle als Übersetzung einer der hebräischen Dekalogfassungen erklärt werden kann. Keine Dekalogzitate finden sich in folgenden Teilen des Neuen Testaments: Apostelgeschichte, Tritopaulinen (1Tim; 2Tim; Tit), Hebräerbrief, johanneische Literatur (Joh; 1Joh; 2Joh; 3Joh; Apk) und den der Logienquelle zugerechneten Abschnitten des Matthäus- bzw. Lukasevangeliums.

Die Dekalogzitate im Neuen Testament müssen im Kontext jüdischer und frühchristlicher Gebotereihen für die Katechese gesehen werden, welche vor allem soziale Gebote umfassten. Ob im Neuen Testament Dekaloggebote direkt aus dem Alten Testament zitiert werden oder aus solchen sozialen Gebotereihen katechetischer Sammlungen, lässt sich nicht feststellen. Einige Gebote des Dekalogs sind Teil eines breiteren Traditionsstromes, der sich schon im Alten Testament in → Lasterkatalogen niederschlägt, welche in keiner literarischen Abhängigkeit zum Dekalog stehen (Hos 4,2; Jer 7,9; Weish 14; vgl. Sir 3,8). Auch wenn im Dekalog angesprochene Themen und Problemstellungen häufig im Alten Testament auftauchen, wird der Dekalog doch innerhalb des Alten Testaments nirgends zitiert (es sei denn, der Dekalog in Dtn 5 wird in narratologischer Perspektive als Zitat aus Ex 20 gewertet). Zu einigen Geboten finden sich an anderen Stellen des → Pentateuchs ähnlich lautende Formulierungen (z.B. Ex 23,1-8), außerhalb des Pentateuchs sind Anklänge selten (z.B. Ps 81,10). Allerdings finden sich in den Weisheitsbüchern der Septuaginta stärker als im hebräischen Text Anspielungen auf Dekaloggebote; man spricht von der „Nomisierung der Weisheit“. Dieser Prozess der Nomisierung könnte für die Dekalogrezeption im Neuen Testament von Bedeutung gewesen sein (vgl. Schwienhorst-Schönberger, 353-357). Bei → Philo von Alexandrien, → Josephus Flavius und im → Liber Antiquitatum wird der Dekalog als Gebotereihe behandelt, wobei den sozialen Geboten und der mit ihnen verbundenen Philosophie besonderes Interesse geschenkt wird.

2. Dekaloggebotereihen

2.1. Überblick

Auf den Dekalog im Allgemeinen als abgeschlossene Reihe von (zehn) Geboten wird im Neuen Testament an keiner Stelle ausdrücklich Bezug genommen. Die „Worte des Lebens“, welche in Apg 7,38 genannt werden, könnten sich auf die „zwei Tafeln“ beziehen (Ex 31,18) – im Anschluss wird jeweils das Goldene Kalb erwähnt (Ex 32; Apg 7,39-41) –, aber ebenso gut können sich die „Worte des Lebens“ auch auf die Sinaioffenbarung oder die → Tora als Ganze beziehen (vgl. Pesch, 1986, 254-258). In der Erzählung vom reichen Mann (Mk 10,19) werden sechs Gebote aufgezählt (Tötungsverbot, Ehebruchverbot, Diebstahlverbot, Falschzeugnisverbot, Verbot des Raubens, Elternehrungsgebot). Auffällig ist das „Verbot des Raubens“, welches hier die Begehrensverbote ersetzt und sich nicht im Dekalog findet und auch nicht in den Parallelstellen der Perikope (Mt 19,18-19; Lk 18,20), dafür aber in Sir 4,1. Das → Elternehrungsgebot steht an letzter Stelle. Die Reihenfolge der ersten vier genannten Gebote variiert dabei in den → Bibelhandschriften und folgt teils dem hebräischen Text (Tötungsverbot, Ehebruchverbot, Diebstahlverbot, Falschzeugnisverbot), teils der Septuaginta (Ehebruchverbot, Tötungsverbot, Diebstahlverbot, Falschzeugnisverbot). Die Formulierung der Verbote in Mk 10,19 mit μη () + Konjunktiv Aorist (statt οὐ [ou] + Indikativ Futur) ist ungewöhnlich und findet sich weder in der Septuaginta noch in Mt; Röm oder bei Philo, sondern nur in der Parallelstelle Lk 18,20 (vgl. auch Jak 2,11). Die Form des Elternehrungsgebotes entspricht Ex 20,12 LXX. Die ganze Reihe wird als „die Gebote“ bezeichnet.

In der Parallelstelle Mt 19,17-19 umfasst die Reihe nur fünf Dekaloggebote in der Reihenfolge des hebräischen Textes, jedoch mit dem Elternehrungsgebot wiederum an letzter Stelle, wobei sich die sprachliche Formulierung der Gebote abweichend von Mk 10,19 an der Septuaginta orientiert (Tötungsverbot, Ehebruchverbot, Diebstahlverbot, Falschzeugnisverbot, Elternehrungsgebot). Die Reihe wird noch um das Gebot der Nächstenliebe ergänzt (Lev 19,18). Auch hier findet sich die Bezeichnung „die Gebote“. Der Reihe vorangestellt ist der Artikel τό (to), sodass der Eindruck entsteht, hier werde ein katechetisches Lehrstück wiedergegeben. Die Hinzufügung des Gebotes der Nächstenliebe soll dieses wohl nicht in die Reihe der Gebote einordnen, sondern es als deren Summe darstellen.

In der Parallelstelle Lk 18,20 werden als „die Gebote“ fünf Dekaloggebote aufgezählt, in der Reihenfolge der → Septuaginta, aber wieder mit dem Elternehrungsgebot an letzter Stelle (Ehebruchverbot, Tötungsverbot, Diebstahlverbot, Falschzeugnisverbot, Elternehrungsgebot). Wie in Mk 10,19 erfolgt auch hier die Formulierung der Verbote mit μη () + Konjunktiv Aorist und wie in Mk 10,19 entspricht auch hier die Form des Elternehrungsgebotes Ex 20,12 LXX.

Eine weitere Reihe von Dekaloggeboten findet sich in Röm 13,9. Die Reihenfolge entspricht der Septuaginta, jedoch wird das Falschzeugnisverbot ausgelassen und die Begehrensverbote werden verkürzt und zusammengefasst (Ehebruchverbot, Tötungsverbot, Diebstahlverbot, Begehrensverbot). Die Reihe wird als „die Gebote“ bezeichnet, im Anschluss wird aber noch auf „andere Gebote“ verwiesen und das Gebot der Nächstenliebe als Zusammenfassung aller Gebote präsentiert.

2.2. Die Gebotereihe in der Perikope vom reichen Mann

2.2.1. Im Markusevangelium (Mk 10,19)

Dass den in Mk 10,19 genannten sozialen Geboten große Bedeutung beigemessen wird, ergibt sich schon allein daraus, dass Jesus sie als Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben aufzählt – wenngleich das Einhalten dieser Gebote noch nicht zum Gewinn des ewigen Lebens ausreicht, wie der weitere Verlauf der Erzählung zeigt. Ein Blick auf den Beginn der Perikope hilft, die Bedeutung der Gebotereihe zu verstehen. Ein Mann fragt Jesus: „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Jesus beantwortet jedoch zunächst die Frage nicht, sondern weist die Anrede mit „gut“ zurück: „Niemand ist gut außer der eine Gott“. Jesus lehnt es (zunächst) ab, einen besseren Weg zum ewigen Leben weisen zu können, als es der gute Gott schon durch seine Gebote getan hat. Die Verbindung der Eigenschaften „gut“ und „einziger“ mit Gott findet sich mehrfach bei Philo (Mut Nom 7; Som I 149; Decal 176). In der Stelle Decal 176 geht es explizit um die Dekaloggebote. Antike Vorstellungen von der Nachahmung Gottes wurden in das hellenistische Judentum integriert, indem dieses Nachahmen Gottes als Erfüllen der Gebote gedeutet wurde. Es darf daher angenommen werden, dass die gedankliche Verbindung der göttlichen Eigenschaften „gut“ und „einziger“ mit den Dekaloggeboten in Mk 10,17-31 auf einen jüdisch-hellenistischen Einfluss hinweist. „Gott, der allein Gute, hat so durch die Gebote den Weg angegeben, daß man gut werde wie er“ (Berger, 400). Um nicht als zweiter Gebote-Geber neben Gott zu erscheinen, lehnt Jesus die Titulierung als „gut“ in diesem Kontext ab. Im weiteren Fortgang der Perikope zeigt sich allerdings, dass die Einhaltung der Gebote allein nicht ausreicht, um das ewige Leben zu gewinnen.

2.2.2. Die „Soziale Reihe“

In der Gebotereihe Mk 10,19 verbindet sich jüdisch-hellenistische Dekalogrezeption, wie sie sich bei Philo, Josephus und im Liber Antiquitatum findet, mit der Gattung der „sozialen Reihe“. Die soziale Reihe stammt aus der prophetischen und apokalyptischen Literatur. Sie stellt eine Summe des geforderten Sozialverhaltens dar (→ Sozialkritik), insbesondere in Bezug auf hilfsbedürftige Personengruppen wie Arme, Elende, Witwen und Waisen, weiters Fremde und Tagelöhner und schließlich den Nächsten allgemein, insofern er der Hilfe bedarf. Ein neutestamentliches Beispiel für eine soziale Reihe findet sich in Mt 25,35-45. Im hellenistischen Judentum, das katechismusartige Gesetzeszusammenfassungen liebte, gewann die soziale Reihe eine dem Dekalog vergleichbare Funktion als Inbegriff des Gesetzes. Solche sozialen Reihen waren es, in denen sich das selbständige Delikt „Berauben“ herausgebildet hat, das sich zunächst auf einen Tagelöhner bezog, der um seinen Lohn betrogen wurde, später aber als allgemeines Eigentumsdelikt verstanden wurde. Auch das Elternehrungsgebot wurde, im sozialen Sinn als Unterstützen der Eltern gedeutet, in soziale Reihen aufgenommen. Dies alles spricht dafür, dass in Mk 10,19 eine soziale Reihe vorliegt, die jedoch aus Dekaloggeboten gebildet wurde, und zwar unter Hinzufügung des aus sozialen Reihen bekannten, hier aber im Stil eines Dekaloggebotes formulierten Verbotes zu rauben. Mit der Annahme einer sozialen Reihe, welche mit Hilfe von Dekaloggeboten ausformuliert wird, kann auch überzeugend erklärt werden, warum nicht der ganze Dekalog zitiert wird, sondern nur eine Auswahl.

2.2.3. Im Matthäusevangelium (Mt 19,18-19)

In Mt 19,16-17 lautet die Frage des Mannes an Jesus anders als im Markus- und im Lukasevangelium. Sie beginnt mit: „Meister, was muss ich Gutes tun …“. Jesus muss sich dementsprechend nicht von der Eigenschaft „gut“ distanzieren. Auch hier werden aber in der Antwort Jesu „gut“ und „einer“ in Beziehung gesetzt, wobei Gott nicht ausdrücklich genannt, aber impliziert wird, und Jesus verweist als (erste) Antwort auf „die Gebote“. Die Formulierung der Gebote ist an die Septuaginta angepasst (οὐ [ou] + Indikativ Futur), das Verbot des Raubens wird weggelassen. Mt versteht die Aufzählung als soziale Reihe, welche in der Nächstenliebe gipfelt, wie der Abschluss mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 LXX) deutlich zeigt. Im weiteren Verlauf der Perikope wird nicht bestritten, dass das Halten der Gebote ausreicht, um das ewige Leben zu gewinnen. Die Forderungen nach Aufgabe des Besitzes und nach Nachfolge bilden die Antwort auf eine weitere Frage, in der es um das Vollkommensein geht. Anders als bei Mk, wo die Sozialgebote der Nachfolge vor- und untergeordnet werden, behalten sie bei Mt eigenes Gewicht. Die Verbindung zwischen der sozialen Reihe, dem → Liebesgebot und der Aufgabe des Besitzes ist möglicherweise im – hier nicht explizit erwähnten – Almosengeben zu sehen, welches eine Erfüllung der sozialen Gebote und des Liebesgebotes ist, gleichzeitig aber auch einen, wenigstens partiellen, Verzicht auf eigenen Besitz darstellt.

2.2.4. Im Lukasevangelium (Lk 18,20)

Wie in Mt 19,16-17 wird Jesus in Lk 18,18-19 mit „Guter Meister“ angeredet. Die Antwort Jesu entspricht Mk 10,19, wobei die ersten beiden Gebote vertauscht sind und das Verbot des Raubens ausgelassen wird. In Lk 18,18 wird die Aussage der Perikope insofern verschärft, als es „einer von den führenden Männern“ ist, der Jesus fragt, womit Lk einen Repräsentanten des jüdischen Volkes meint. Dass ein solcher zwar die Gebote hält, aber zum völligen Verzicht auf Besitz und zur Nachfolge nicht bereit ist, bedeutet eine Kritik an der Führungsschicht des jüdischen Volkes. Anders als in den anderen beiden synoptischen Evangelien, wo die Frage nach dem ewigen Leben nur in dieser Perikope vorkommt, findet sie sich im Lukasevangelium auch noch am Beginn des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, welches damit eingeleitet wird, dass ein Gesetzeslehrer Jesus fragt: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ (Lk 10,25). Die Antworten, die Jesus gibt, zielen inhaltlich jeweils auf die Nächstenliebe (vgl. Rusam, 120-121).

2.3. Die Gebotereihe im Römerbrief (Röm 13,9)

In Röm 13,9 findet sich eine Gebotereihe, welche das Ehebruchverbot, das Tötungsverbot, das Diebstahlverbot und das Begehrensverbot umfasst. In manchen Bibelhandschriften ist auch noch das Falschzeugnisverbot enthalten. Der Römerbrief fährt dann fort mit der Feststellung, dass diese und alle anderen Gebote zusammengefasst sind in dem Satz: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die sprachliche Form der Gebote folgt der Septuaginta, die Reihenfolge entspricht Dtn 5. Das eigentliche Thema der Perikope ist die Nächstenliebe, wobei der Römerbrief in Bezug auf das „Liebesgebot“ den Ausdruck „Gebot“ vermeidet und vom „Wort“ (Einheitsübersetzung: „Satz“) spricht. „Das Liebeswort schließt die sozialen Gebote also ein. […] Derjenige, der dem Prinzip der Liebe folgt, hat auch alle sozialen Einzelgebote erfüllt, weil ihr Prinzip die Liebe zum Nächsten ist“ (Vos, 225). Im Hintergrund steht der „Kanon der zwei Tugenden“ (Wolter, 2019, 334-335) von Glaube und Liebe. Da es dem Römerbrief an dieser Stelle nicht um den Glauben geht, sondern um die Liebe zum Nächsten, werden auch nur soziale Gebote aufgezählt, als deren Zusammenfassung dann das Liebesgebot genannt wird. Eine interessante Parallele dazu gibt es bei Philo, Spec Leg II 63, wo dieser die Lehre vertritt, dass es für die Tora zwei höchste Zusammenfassungen gibt: in Bezug auf Gott „Frömmigkeit und Gottesfurcht“, in Bezug auf die Menschen „Menschenliebe und Gerechtigkeit“. In Heres 168.172 ordnet Philo den Dekalog gemäß diesem Schema.

Der Römerbrief verfolgt mit der Zusammenfassung einzelner sozialer Dekaloggebote im Liebesgebot ein zweifaches Ziel: Zum einen soll deutlich gemacht werden, dass das Liebesgebot kein Gebot neben anderen ist und somit seine Erfüllung auch nicht durch andere Gebote begrenzt werden kann. Zum anderen geht es um die Aufhebung des Unterschieds zwischen Juden und Heiden: Wenn die Gebote im Liebesgebot zusammengefasst sind, erfüllt alle Gebote, wer das Liebesgebot erfüllt.

3. Einzelgebote außerhalb von Reihen

3.1. Überblick

Einige der Zehn Gebote werden im Neuen Testament überhaupt nicht explizit erwähnt. Dazu gehören die Selbstvorstellungsformel, das Fremdgötterverbot, das Bilderverbot, das Namensmissbrauchverbot und das Sabbatgebot. Neutestamentliche Bezugnahmen auf die von diesen Geboten behandelten Themen lassen sich nicht eindeutig mit dem Dekalog in Verbindung bringen (vgl. z.B. Vos, 431: Fremdgötterverbot und Joh 9). Selbst bei einer Stelle wie Lk 13,14 („sechs Tage sind zum Arbeiten da“) herrscht in der Forschungsliteratur keine Einhelligkeit, ob eine Paraphrase des entsprechenden Dekaloggebotes vorliegt oder nicht (vgl. auch Röm 2,21-22; Eph 4,28).

Unstrittig ist, dass das Elternehrungsgebot im Zusammenhang mit dem Korban-Sagen (Mk 7,10; Mt 15,4) angesprochen wird und dass es in der Haustafel des Epheserbriefs (Eph 6,2) genannt wird. Tötungsverbot und Ehebruchverbot finden sich in den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21.27) und im Jakobusbrief (Jak 2,11). Ein allgemein formuliertes Begehrensverbot wird im Römerbrief genannt (Röm 7,7). Ob auch in Röm 2,21-22 eine Anspielung auf den Dekalog vorliegt, wird dagegen kontrovers diskutiert.

3.2. Synoptische Evangelien

3.2.1. Tötungsverbot und Ehebruchverbot in den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21.27)

Die Reihenfolge Tötungsverbot und Ehebruchverbot in den Antithesen der → Bergpredigt entspricht der Reihenfolge dieser beiden Gebote in den Dekalogfassungen der hebräischen Bibel. Die ältere Vermutung, dass hinter den Antithesen der Bergpredigt eine dekalogische Jüngerbelehrung durch Jesus steht, die vom Evangelisten aus jüdisch-polemischen Zwecken gesäubert wurde, hat sich als zu spekulativ erwiesen (vgl. Vos, 215).

In Mt 5,21 wird das Tötungsverbot zitiert (Ex 20,15 LXX; Dtn 5,17 LXX). Allerdings wird es um einen Rechtssatz erweitert, bei dem es sich inhaltlich um eine Gerichtsandrohung handelt: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein.“ Ein Vergleich mit der → Mischna legt nahe, dass die passive Formulierung „es ist gesagt worden“ den Gottesnamen umschreibt; folglich ist bei den „Alten“ an die Exodusgeneration zu denken. In der darauffolgenden Antithese wird das Tötungsverbot radikalisiert und auch auf Vergehen bezogen, welche zum Totschlag führen könnten. Ob mit dem „Gericht“ ein menschliches oder ein endzeitliches Gericht gemeint ist, wird nicht deutlich. Im größeren Zusammenhang des Matthäusevangeliums (vgl. Mt 23-25) ist die Stelle auf das endzeitliche Gericht zu beziehen.

In Mt 5,27 wird das Ehebruchverbot zitiert (Ex 20,13 LXX; Dtn 5,17 LXX). Der ausdrückliche Bezug auf „die Alten“ fehlt zwar, es darf aber angenommen werden, dass wiederum sie gemeint sind: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen.“ Es folgt kein Rechtssatz (wie Mt 5,21), sondern sofort die Antithese, welche auf die dem Ehebruch zugrundeliegende Gesinnung abhebt und dabei auf das Begehrensverbot anspielt (Ex 20,17 LXX). Die Antithese muss in einem frühjüdischen Kontext verortet werden, in welchem „mit den Augen huren“ eine Redewendung gewesen zu sein scheint (vgl. TestIss 7,2; Jub 20,4).

3.2.2. „Korban-Sagen“ und Elternehrungsgebot (Mk 7,10; Mt 15,4)

Das Elternehrungsgebot findet sich neben der Reihe Mk 10,19 parr. auch noch in Mk 7,10 und der Parallelstelle Mt 15,4. Die Formulierung in Mk 7,10 entspricht Dtn 5,16 LXX, während Mt 15,4 kürzt. Durch die Einleitung: „Denn Mose hat gesagt“ (Mk 7,10) bzw.: „Gott hat doch gesagt“ (Mt 15,4) wird klar gemacht, dass das Folgende als Dekalogzitat zu verstehen ist. Der Kontext ist die Streitfrage nach der Aufhebung der Gebote Gottes um der Überlieferung willen, die Jesus konkret am → Korban-Sagen festmacht. Gerahmt wird der Abschnitt allerdings von Texten, in denen es um Reinheit geht. Warum in diesem Kontext gerade das Elternehrungsgebot und das Korban-Sagen als Beispiele herangezogen werden, konnte bis jetzt nicht abschließend geklärt werden. Zu beachten ist jedenfalls, dass der markinische Jesus Unreinheit als Unreinheit im Herzen versteht (vgl. Mk 7,21). In Mt 15,4 ist das Dekalogzitat etwas anders kontextualisiert, da die Perikope im Vergleich zu Mk stark umgearbeitet worden ist. Der Begriff „Korban“ kommt nicht vor und das Elternehrungsgebot wird dem Opferdienst im Allgemeinen gegenübergestellt.

3.3. Paulinische Literatur

3.3.1. Diebstahlverbot, Ehebruchverbot und Bilderverbot im Römerbrief? (Röm 2,21-22)

Der Römerbrief formuliert in Röm 2,21-22: „Der du nun einen anderen lehrst, du lehrst dich selbst nicht? Der du predigst, man solle nicht stehlen, du stiehlst? Der du sagst, man solle nicht ehebrechen, du begehst Ehebruch? Der du die Götzenbilder für Gräuel hältst, du begehst Tempelraub?“ Häufig werden hier drei Dekaloggebote gesehen (Diebstahlverbot; Ehebruchverbot; Bilderverbot), auch wenn der Römerbrief an dieser Stelle (im Unterschied zu Röm 7,7; Röm 13,9) die Septuaginta bestenfalls paraphrasiert. Gegen eine Anspielung auf den Dekalog spricht, dass sich die Dreiergruppe Diebstahl, Ehebruch und Tempelraub auch bei hellenistischen Autoren findet, so schon bei Aristoteles, Rhetorica 1374a2-4. Die Verse 21-22 sind Teil eines Abschnitts, in dem es um die gleiche Gewichtung jüdischer und heidnischer Sünden geht, weil Gott nach Werken richtet. Die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk bringt in diesem Sinn keinen Vorteil mit sich.

3.3.2. Begehrensverbot im Römerbrief (Röm 7,7)

Der Römerbrief zitiert in Röm 7,7: „Du sollst nicht begehren“ (Ex 20,17 LXX; Dtn 5,21 LXX). Drei Gründe sprechen dafür, dass es sich trotz der Kürze eindeutig um ein Zitat aus dem Dekalog handelt: Es wird auch in Röm 13,9, dort zusammen mit anderen Dekaloggeboten zitiert; auch Philo, Spec Leg IV 78 zitiert in dieser verkürzten Form aus dem Dekalog; 4Makk 2,6 sieht die ganze Tora im Begehrensverbot zusammengefasst.

Im Hintergrund von Röm 7,7 steht nach einer wichtigen Interpretationsrichtung (vgl. Vos, 216-222; Wilckens, 1978, 72-83) die Paradieserzählung: Paulus deutet das Gebot, nicht vom Baum zu essen, als Gebot, nicht zu begehren. Durch dieses erste von Gott gesetzte Gebot kam das Gesetz in die Welt. Paulus zitiert das Begehrensverbot in verkürzter Form ohne Objekt, weil es ihm um die Begierde an sich geht. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, die sich gegenseitig nicht ausschließen: Die Begierde ist die Quelle allen Übels; die Begierde kann sich auf alles richten; die Begierde steht exemplarisch für die Sünde, und das Begehrensverbot steht exemplarisch für das Gesetz; das Gebot „Du sollst nicht begehren“ passt am besten zur Aussageabsicht von Röm 7, denn durch das Gebot „Du sollst nicht begehren“ wird die Begierde erst als Sünde erkannt und der Mensch lernt somit durch das Gesetz die Sünde kennen. Nach einer anderen Interpretation (vgl. Wolter, 2014, 423-440) steht im Hintergrund nicht die Paradieserzählung, sondern die allgemeinmenschliche Erfahrung, dass ein Mensch, wenn er das Gebot „Du sollst nicht begehren“ empfängt, dadurch die schon vorhandene Begierde in sich entdeckt.

3.3.3. Elternehrungsgebot in der Haustafel des Epheserbriefs (Eph 6,2)

In Eph 6,2 wird das Elternehrungsgebot nach Ex 20,12 LXX zitiert, wobei nur der erste Teil: „Ehre deinen Vater und die Mutter“ wörtlich wiedergegeben wird, während die Formulierung der Verheißung: „damit es dir wohl ergehe und du lange lebst auf der Erde“ von Ex 20,12 LXX etwas abweicht und gekürzt wurde. Eingeschoben zwischen Gebot und Verheißung hat der Epheserbrief den Hinweis: „Das ist das erste Gebot mit Verheißung“. Nach Philo (Spec Leg II 261) ist das Elternehrungsgebot das erste und wichtigste derjenigen Dekaloggebote, welche das Verhältnis der Menschen untereinander regeln. Den Kontext des Zitats bildet die → Haustafel Eph 5,22-6,9. Diese Haustafel stellt eine Erweiterung und Überarbeitung der Haustafel Kol 3,18-4,1 dar, welche das Elternehrungsgebot nicht wörtlich enthält. Im Epheserbrief verstärkt und begründet das Elternehrungsgebot die Aufforderung an die Kinder: „Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern im Herrn, denn das ist recht!“ (Eph 6,1; vgl. Kol 3,20). Ähnlich wie bei der „Sozialen Reihe“ wird hier in der Haustafel ein Dekaloggebot herangezogen, um eine soziale Verpflichtung zu formulieren. Die damit verbundene Verheißung wird mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht spirituell verstanden, sondern im Sinne des → Tun-Ergehen-Zusammenhangs.

3.4. Jakobusbrief: Tötungsverbot und Ehebruchverbot (Jak 2,11)

Der Jakobusbrief bringt das Tötungsverbot und das Ehebruchverbot im Rahmen eines Beispiels für den Satz: „Denn wer das ganze Gesetz hält, aber gegen ein einziges Gebot verstößt, der hat sich gegen alle verfehlt“ (Jak 2,10). Das Beispiel lautet nun: „Denn der gesagt hat: Du sollst nicht die Ehe brechen!, hat auch gesagt: Du sollst nicht töten! Wenn du nun nicht die Ehe brichst, aber tötest, bist du ein Übertreter des Gesetzes geworden“ (Jak 2,11). Die Formulierung der Verbote erfolgt mit μη () + Konjunktiv Aorist (vgl. Mk 10,19; Lk 18,20) Die Auswahl dieser beiden Gebote als Beispiele ist vor dem Hintergrund von Jak 1,12-15 zu verstehen, wo Begierde und Tod thematisiert werden. Dass gerade Dekaloggebote als Beispiele herangezogen werden, zeigt, wie sehr der Dekalog zum kulturellen Gedächtnis sowohl des Verfassers als auch der Adressaten gehörte und für das Gesetz schlechthin stand. Im näheren Kontext findet sich auch das Gebot der Nächstenliebe (Jak 2,8).

Literaturverzeichnis

1. Kommentare

  • Bovon, F., Das Evangelium nach Lukas. 3. Teilband: Lk 15,1-19,27 (EKK 3/3), Zürich / Neukirchen-Vluyn 2001
  • Gnilka, J., Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: Mk 8,27-16,20 (EKK 2/2), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1979
  • Gnilka, J., Das Matthäusevangelium. I. Teil: Kommentar zu Kap. 1,1-13,58 (HThKNT 1/1), Freiburg i. Br. 1986
  • Gnilka, J., Das Matthäusevangelium. II.Teil: Kommentar zu Kap. 14,1-28,20 und Einleitungsfragen (HThKNT 1/2), Freiburg i. Br. 1988
  • Gnilka, J., Der Epheserbrief (HThKNT 10/2), Freiburg i. Br. 41990
  • Luz, U., Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband: Mt 18-25 (EKK 1/3), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1997
  • Mußner, F., Der Jakobusbrief (HThKNT 13/1), Freiburg i. Br. 1975
  • Pesch, R., Das Markusevangelium. I. Teil: Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1-8,26 (HThKNT 2/1), Freiburg i. Br. 31980
  • Pesch, R., Das Markusevangelium II. Teil: Kommentar zu Kap. 8,27-16,20 (HThKNT 2/2), Freiburg i. Br. 41991
  • Pesch, R., Die Apostelgeschichte. 1. Teilband: Apg 1-12 (EKK 5/1), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1986
  • Schlier, H., Der Römerbrief (HThKNT 6), Freiburg i. Br. 1977
  • Schnackenburg, R., Der Brief an die Epheser (EKK 10), Zürich / Neukirchen-Vluyn 22003
  • Wilckens, U., Der Brief an die Römer. 1. Teilband: Röm 1-5 (EKK 6/1), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1978
  • Wilckens, U., Der Brief an die Römer. 3. Teilband: Röm 12-16 (EKK 6/3), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1989
  • Wolter, M., Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8 (EKK 6/1), Neukirchen-Vluyn / Ostfildern 2014
  • Wolter, M., Der Brief an die Römer. Teilband 2: Röm 9-16 (EKK 6/2), Ostfildern / Göttingen 2019

2. Weitere Literatur

  • Berger, K., Die Gesetzesaulegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament. Teil I: Markus und Parallelen (WMANT 40), Neukirchen-Vluyn 1972
  • Fredriksen, P., Paul’s Letter to the Romans, the Ten Commandments, and Pagan „Justification by Faith“, in: JBL 133 (2014) 801-808.
  • Hoffman, Y. / Reventow, H. (Hg.), The Decalogue in Jewish and Christian Tradition (LHB 509), New York 2011
  • Konradt, M., Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium, in: Senior, D. (Hg.), The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity (BETL 243), Leuven 2011, 131-158
  • Markl, D. (Hg.), The Decalogue and its Cultural Influence (HBM 58), Sheffield 2013
  • Rusam, D., Das Alte Testament bei Lukas (BZNW 112), Berlin 2003
  • Schnackenburg, R., Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments. Band I: Von Jesus zur Urkirche (HThKNT.S 2/1), Freiburg i. Br. 1986
  • Schnackenburg, R., Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments. Band II: Die urchristlichen Verkündiger (HThKNT.S 2/2), Freiburg i. Br. 1988
  • Schwienhorst-Schönberger, L., Weisheit und das Leben vor Gott, in: Ausloos, H. / Lemmelijn, B. (Hg.), Die Theologie der Septuaginta / Theology of the Septuagint (Handbuch zur Septuaginta / Handbook of the Septuagint 5), Gütersloh 2020, 337-398
  • Vos, J. C. d., Rezeption und Wirkung des Dekalogs in jüdischen und christlichen Schriften bis 200 n. Chr. (AGJU 95), Leiden 2016

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